Film
„Die Rote Traumfabrik“ - Die Retrospektive der 62. Berlinale

Die Retrospektive der 62. Berlinale widmet sich einer in Vergessenheit geratenen Periode der Filmgeschichte. Mit dem Titel „Die Rote Traumfabrik“, zeigt sie eine Auswahl der Filme des deutsch-russischen Filmstudios „Meschrabpom“.
In den Jahren 1924 bis 1936, wurde hier wie in Russland wegebereitendes Kino produziert.
Der Meschrabpom-Fachmann Günter Agde ist neben Alexander Schwarz und dem Leiter, Rainer Rother, einer der Kuratoren der Berlinale-Retrospektive. Er gibt Kultur-Port.De einen filmhistorischen Ausblick auf die diesjährigen Vorführungen.

Die Geschichte begann 1922 mit ersten Gesprächen und der Kooperation des russischen Filmexperten Moisej Alejnikov und dem deutschen Medienunternehmer und Leiter der Internationalen Arbeiter Hilfe (IAH), Willi Münzenberg. Hieraus entstand die deutsch-russische Aktiengesellschaft Meschrabpom mit einer Zentrale in Berlin und dem Moskauer Studio Meschrabpom-Rus (später Meschrabpom-Film). Sie produzierten Dokumentationen, Spielfilme und Animationsfilme von denen eine Auswahl bei der diesjährigen Berlinale zu sehen ist. Eines der ersten Projekte war Jakow Protasanows Science-Fiction-Streifen „Aelita“. Kurioserweise handelt der Film von einer sozialistischen Gesellschaft auf dem Mars. Werke wie „Aelita“ sind von den Visionen linker Künstler und einer avantgardistischen Formensprache geprägt.


Ausschnitte des Interviews mit Günter Agde
(Filmhistoriker und einer der drei Kuratoren der Retrospektive)

Günter Agde erklärt: „Eine große Anzahl der Mitwirkenden der vielen Filme, darunter auch namenhafte Regisseure wie Sergej Eisenstein und Erwin Piscator sowie der Komponist Hans Eisler, hatten eine musische Bildung genossen. Ihre Vorerfahrungen als Architekten, Theaterregisseure und Komponisten gab den Filmen eine besondere Ästhetik und Qualität. Auch die Experimentierfreudigkeit und Jugendlichkeit der Filmemacher beflügelte ihre Werke. Sie waren zudem beeinflusst von der kommunistischen Ideologie und den politischen Umstürzen jener Zeit.“

In den Studios wurden drei Kategorien abgedeckt: der Revolutionsfilm, der politische Agitationsfilm und der ästhetisch-künstlerische Unterhaltungsfilm.
Sergej Eisensteins Revolutionsfilm „Bronenosez Potjomkin“ (Panzerkreuzer Potemkin) war eine Auftragsarbeit der noch jungen sowjetischen Regierung. Eisensteins Filmtheorie, „Die Montage der Attraktionen“, zielte auf das bewusste Einwirken der Montage auf die Emotionen des Zuschauers ab. Der Film wurde im Jahr 1926 wegen Agitation gegen staatliche Instanzen von der Berliner Filmprüfstelle zunächst in der deutschen Hauptstadt verboten und dann mit Auflagen wieder freigegeben.
Politische Konzepte waren für viele Filmemacher jedoch zweitrangig. Ihr Bestreben war es, publikumswirksame Werke zu schaffen so Fjodor Ozeps Film „Miss Mend“. Das sei ein reiner Gangsterfilm, so Agde. Meschrabpom galt als partei- und sowjetunionnah. Das Unternehmen blieb dennoch lange politisch relativ unabhängig und sehr erfolgreich. Diese Unabhängigkeit und zuweilen kritische Haltung demonstrieren Filme wie „Dom na Trubnoi“ (Das Haus in der Trubnaja-Straße). Trotz des zunehmenden Stalinismus verweist dieser auf die Begrenzungen der sowjetischen Realität und Beschränkungen im täglichen Leben.
Auf gestalterischer Ebene spielten einige Filmemacher mit den Grenzen von Genres und setzten Licht, Ton und Einstellungen als eigenständige Stilmittel ein. Zu den Techniken gehörten auch Doppelbelichtungen, Zeitraffer, Rücklauf-Aufnahmen, optischen Verkürzungen, harter Schnitt und später auch die bewegte Kamera. Den aufkommenden Ton vergleicht Günter Agde mit einer „elektrischen Eisenbahn unter dem Weihnachtsbaum“. Nie zuvor vermochten Filmemacher es, Explosionen derart lebensecht zu inszenieren. Der erste sowjetische Tonfilm, „Putjowka w schisn“ (Weg ins Leben) von Nikolai Ekk, demonstriert die damalige Hingabe für die neue Technik auf der Berlinale.

Die sichtbaren ästhetischen und politischen Freiheiten der Meschrabpom-Leute verlangten auch Opfer. Besonders avantgardistische Ambitionen waren für die breite Zuschauermasse schwer empfänglich. Die Agitationsfilme waren wiederholt der politischen Zensur ausgesetzt. Der Film „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“, von Slatan Dudow, mit Hertha Thiele und Ernst Busch, veranschaulicht die Probleme der Deutschen nach der Weltwirtschaftskrise. Auch er wird von der deutschen Prüfstelle verboten.

Die Nationalsozialisten verboten nach der Machtergreifung Meschrabpom in Deutschland schließlich ganz. 1933 konfiszierten sie in der Berliner Zentrale alle vorhandenen Filmkopien. Der deutsche Teil der Firma und die vermögende IAH werden enteignet. Die Filme sind bis heute unauffindbar und vermutlich zerstört.

Dies war sowohl kulturell als auch finanziell ein eklatanter Verlust. Der hohe Kostenaufwand für das Erhalten, Kopieren und Importieren des alten Filmmaterials, welches seitdem nur noch in Russland vorhanden war, ist bis heute enorm. Die ehemalige DDR und auch Westdeutschland entdeckten und importierten schließlich einige, sehr bekannte Filme. Die meisten der rund sechshundert Stumm- und Tonfilme dieser Zeit blieben jedoch in den Archiven.

Im Rahmen der Berlinale gelang es den Kuratoren auch unbekannte Kopien von Russland nach Berlin zu holen. Neben Wsewolod Pudowkins berühmtem Meisterwerk, „Potomok Tschingis-chana“ (Sturm über Asien), wird auch eine deutsche Erstaufführung, der Dokumentarfilm „Solotoje osero“ (Kampf um Gold), des Expeditionsregisseurs Wladimir Schnejderow gezeigt. Einer der vermutlich ersten Roboterfilme der Geschichte überhaupt ist „Gibel sensazii“ (Der Untergang der Sensation) von Aleksandr Andrijewskis und wird nun in Berlin gezeigt. Darüber hinaus seien „Slutschajnaja wstretscha“ (Zufällige Begegnung) von Sawtschenko oder die stumme Fassung von Erwin Piscators „Wosstanije rybakow“ (Aufstand der Fischer) aufgrund ihrer Bildqualität wahre Entdeckungen, so der Leiter der Retrospektive in einem Berlinale-Interview.

1933 wurde Moskau zu einem sicher geglaubten Zufluchtsort für viele deutsche Künstler. Es sollte ein deutschsprachiges Exiltheater in Russland aufgebaut werden. Erwin Piscator und auch die sowjetische Regierung träumten von einer Filmstadt, einem Gegengewicht zu den USA, einem roten Hollywood. Die Finanzierung eines solch großen Vorhabens kam niemals zu Stande. Viele der Exilanten, unter ihnen viele KPD-Anhänger, waren der russischen Sprache nicht mächtig. Sie hatten zudem Schwierigkeiten, sich an die damaligen Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu gewöhnen. Aus diesem Grund wurde Meschrabpom-Film in Russland ein wichtiger Arbeitgeber und oft die einzige Einnahmequelle für Deutsche im Exil.

Ein bis heute bedeutsames Werk entstand 1934: „Wosstanije rybakow“ (Aufstand der Fischer), des in Ulm geborenen Theaterintendanten und Regisseurs Erwin Piscator thematisiert eine Auseinandersetzung zwischen Fischern und ihren Arbeitgebern. Die „holzschnittartig-graphischen“ Bildkompositionen und „expressiven dialogischen Komponenten“ wurden bei Meschrabpom als richtungsweisend definiert, schreibt Agde in einem Aufsatz. Doch die Formensprache der in den Filmstudios entstandenen Streifen wiedersprachen – wie in vielen anderen Kulturbereichen auch – dem zur Richtlinie erhobenen Sozialistischen Realismus und so wurde „Aufstand der Fischer“ von Sowjets und Regierung abgeurteilt.

Während der letzten Drehtage zu Gustav von Wangenheims „Kämpfer“, wird Meschrabpom zum Auftakt des stalinistischen „Großen Terrors“ schließlich liquidiert. Günter Agde erzählt, „Wangenheims Assistent ist ohne Erklärungen vom Drehort abgeführt worden. Dem Hauptdarsteller Bruno Schmidtsdorf wird vorgehalten, eine Gruppe der Hitlerjugend in Moskau gründen zu wollen und der Komponist, Hans Hauska, wird erst verhaftet und später der Gestapo ausgeliefert“. Viele Filmschaffende kamen in den Gulag, wieder Andere wurden erschossen. Willi Münzenberg und seine Organisationen, die IAH und Meschrabpom-Film wurden in der ehemaligen DDR bis in die 1980er-Jahre kaum thematisiert.

„Viele Meschrabpom-Mitarbeiter erlebten den „Großen Terror“, den Krieg und die Nachkriegszeit mit“, sagt Agde, „jedoch Ihre Berufung, die Filmarbeit, mussten fast alle ablegen“.
Politisch kämpfte ein Großteil der Filmer während des Krieges weiterhin aktiv gegen den Faschismus und auch nach ihrer Rückkehr aus dem Exil, hielten viele weiter an ihrer politischen Überzeugung fest. „Es war, bezüglich der psychologischen Seite, natürlich die härteste Schule, die man sich überhaupt denken kann“, so Agde zum Abschluss. „In Anbetracht der bei Meschrabpom entstandenen Werke, war es unweigerlich eine der interessantesten und bedeutendsten Perioden der Filmgeschichte.“


Die Berlinale schreibt dazu: "Die Retrospektive 2012 umfasst rund 30 Programme mit über 40 Stumm- und Tonfilmen. Alle Stummfilme des Programms werden mit Live-Musik durch international renommierte Künstler begleitet. Zum Auftakt wird Segej Eisensteins Klassiker Oktjabr (Oktober, 1928) am 10. Februar 2012 im Friedrichstadt-Palast gezeigt. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wird die Aufführung mit der originalen, rekonstruierten Filmmusik von Komponist Edmund Meisel begleiten. Das Filmprogramm wird ergänzt durch Veranstaltungen in der Deutschen Kinemathek. Zur Retrospektive erscheint eine Publikation im Berliner Verlag Bertz + Fischer. Deutsche und russische Autoren beleuchten die Entwicklung des Studios und die Ästhetik der hier produzierten Filme. Darüber Hinaus wird das Museum of Modern Art im April 2012 große Teile der diesjährigen Retrospektive unter dem Titel The Red Dream Factory in New York zeigen."

Foto Copyright: Aelita | Aelita - Der Flug zum Mars, UdSSR 1924, REGIE: Jakow Protasanow, Juri Sawadski, Konstantin Eggert, Quelle: Gosfilmofond of Russia

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