Im Schaufenster eines Latino-Supermarktes in der kalifornischen Kleinstadt Santa Cruz hängt ein Aushang mit einer Reihe von Telefonnummern.
Sie können in verschiedenen Bezirken Kaliforniens angerufen werden, wenn man auf eine schnelle Antwort in dem Fall hofft, dass bei einem die Strafverfolgungsbehörden – Polizisten des berüchtigten „Immigration and Customs Enforcement“ (ICE) – mit Abschiebungsabsicht an die Tür klopfen.
Der Aushang schließt mit dem Satz: „Ningún ser Humano es ilegal“ (Dt.: „Kein Mensch ist illegal“). In den endlosen Erdbeer- und Artischockenfeldern weiter südlich, in der Nähe von Monterey, erscheinen viele Pflücker nicht zur Arbeit, ihre Kinder gehen nicht zur Schule, und niemand sucht ärztliche Hilfe auf. Alle haben Angst, gewaltsam über die südliche Grenze nach Mittel- und Südamerika abgeschoben zu werden.
Ernte auf kalifornischen Feldern. Foto: Tim Mossholder
Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Wie ein steter Schatten liegt eine Bedrohung über solchen „Abschiebereisen“, die Woody Guthries Lied „Deportee“ aus dem Jahr 1948 verdichtet, von dem mehrere Versionen im Netz kursieren. Ausgehend von diesem Lied ließe sich die Geschichte der Moderne neu schreiben.
Auch wenn die aktuelle Trump-Administration sowohl das brutale System der Ausbeutung – welches den Menschen als Abfallprodukt des Kapitals produziert – deutlich macht als auch die Kontrollen und Strafen drastisch verschärft hat, so sollte man nicht vergessen, dass es sich dabei um seit langem bestehende strukturelle Verfahren handelt. Allerdings wurde diese Strategie inzwischen auf sämtliche externe Einrichtungen ausgedehnt, die das ideologische Gefüge der restriktiven und kontrollierenden Politik des Westens stören. Außerdem wurde ein Netzwerk aufgebaut, das die Erfassung, Identifizierung und Bestrafung von illegalen Migranten, ausländischen Studierenden, die gegen die völkermörderische Politik der Regierung des Staates Israel protestieren, und von öffentlichen Einrichtungen, die eine Infragestellung der derzeitigen Machtstruktur in Bezug auf Geschlecht, Ethnie und Rechte zulassen, erlaubt. Vor fast einem halben Jahrhundert analysierte eine Gruppe britischer Wissenschaftler unter der Leitung des jamaikanischen Intellektuellen Stuart Hall jene Art von Strategien unter dem Titel „Policing the Crisis“ (Dt. etwa: „Krisenbekämpfung“ oder: „Polizeiarbeit in der Krise“), bei denen Polizeipraktiken über die öffentliche Sicherheit hinausgehen und zu einem integralen Bestandteil der kulturellen Verwaltung des Staates werden. Zu Halls Zeiten ging es um junge schwarze Männer, die wir heute als „zweite Generation“ bezeichnen würden und die damals als Sündenböcke für die Krise der britischen Gesellschaft herhalten mussten. Heute hat sich die Argumentation auf die allgemeine polizeiliche Überwachung und die Bestrafung einer jeglichen Form von Dissens ausgeweitet.
Als sich kürzlich eine Gruppe von sechs jungen Frauen in einem Quäkerversammlungshaus in London traf, um Tee zu trinken und über die Klimakrise sowie den Gazastreifen zu diskutieren, rückte sofort die Polizei an, um sie unter dem Vorwurf der Konspiration zu verhaften. Unter Anwendung der kürzlich im Vereinigten Königreich eingeführten engen Gesetze kann sogar ein Gedanke präventiv verurteilt werden, wenn er die „Freiheit“ nicht etwa der Bürger, sondern die der Regierungen, des Kapitals und der großen Privatunternehmen bedroht – derweil letztere ungestört weiterarbeiten. Schließlich haben sich diejenigen, die protestieren und die Perpetuierung des Status quo hinterfragen, selbst aus dem einzigartigen Narrativ der Nation ausgeschlossen und dürfen daher ohne Weiteres zu Verrätern, Extremisten, Antisemiten, Terroristen, Tieren und als Bedrohung der Zivilisation oder als allzu wenig menschlich abgestempelt werden...
Die europäische Aufrüstung, die westliche Verteidigung des israelischen Kolonialismus bis ins letzte Extrem, die Wahrnehmung von Migranten, Geschlechterfluidität und -freiheit sowie von nicht-westlichen Körpern und Kulturen als anhaltende Bedrohung – all das markiert die Implosion der so genannten multikulturellen Gesellschaft, auf die nun eine Rückkehr zu grundlegenden, fest in den Mythen nationaler und rassischer Identitäten verankerten Sicherheiten folgt. Es gibt keinen Raum mehr für Diskussionen, Kritik, Experimente oder die Möglichkeit, über andere Zukunftsformen nachzudenken. Die Klimakrise? – Gibt es nicht. Die Welt ist in Ordnung, so wie sie ist. Und natürlich ist das eine Sichtweise, die sich auf diejenigen beschränkt, die von einem solchen Ansatz profitieren.
Unter der Vormundschaft eines Regimes der Angst können nur die Verantwortlichen – ob Trump, Starmer, Macron, von der Leyen oder Meloni – aus oligarchischer Sicht ihren Anhängern bessere Zeiten in Aussicht stellen. In diesem Spektakel der Postdemokratie werden sogar die Institutionen, die zu einer nüchternen Haltung ermutigen sollten – wie Schulen, Universitäten, die Presse oder visuelle und digitale Medien – dazu gedrängt, sich einer „Ein-Weg“-Denkweise zu beugen. Fast alle haben sich an ihr mitschuldig gemacht, sei es durch Stillschweigen sei es mittels des Versuchs, ein „business as usual“-Verhalten fortzusetzen, das – sowohl physische als auch mentale – Grenzen schließt. Somit wird das Denken zur Ware, das Wissen auf reine Information reduziert. Der Krieg in der Ukraine, die Massaker im Gaza und die Migrationen aus nicht-westlichen Ländern (sofern diese geophilosophische Unterscheidung überhaupt noch Sinn macht) erklären sich nur durch Narrative, die dazu dienen, unsere Souveränität zu untermauern. Die kritische und innovative Kraft, die der Westen weltweit zu repräsentieren glaubte, zerschlägt sich in seiner eigenen kolonialistischen Selbstzufriedenheit.
Aber jenseits dieses zerbrochenen Spiegels ist die Welt groß. Hegemonien kommen und gehen. Und während in Europa Survival-Kits für den nächsten Krieg gepackt werden, stößt der Faschismus des Kapitals – zu dem es, wie Frau Thatcher zu sagen pflegte, keine Alternative gibt – an seine Grenzen. Er wird an den beschränkten Räumen und Ressourcen zerbrechen, die keine technologische Lösung zu überwinden vermag. Die Zerbrechlichkeit unserer planetarischen Heimat wird weit über die Grenzen ihrer einseitigen politischen Kontrolle hinaus eskalieren. In der Zwischenzeit kreisen die Kondore ungehindert warmen Luftströmen folgend über den steilen Hügeln des Big Sur, südlich von Monterey, wo die Grenze des Westens in den Pazifischen Ozean stürzt, und verhöhnen herausfordernd die menschliche Präsenz.
Iain Michael Chambers
(geb. 1949) ist Soziologe, Historiker und Kulturwissenschaftler. Er wurde in Großbritannien geboren und lebt seit 1976 in Neapel. Dort hat er einen kulturwissenschaftlichen und postkolonialen Ansatz zur Analyse der historischen und kulturellen Ausprägungen des modernen Mittelmeerraums entwickelt. Seine Arbeiten wurden ins Italienische, Spanische, Türkische und Deutsche übersetzt. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschriften „Cultural Studies, Media & Philosophy“ und „Postcolonial Studies“ und schreibt regelmäßig für die italienische Tageszeitung „il Manifesto“. Chambers ist Autor u.a. der Bücher: Culture after Humanism (2001), Mediterranean Crossings: The Politics of an Interrupted Modernity (2008), Postcolonial Interruptions, Unauthorised Modernities (2017) und Mediterraneo blues: musiche, malinconia postcoloniale, pensieri marittimi (2020).
Bücher in deutscher Sprache:
Iain Chambers: Migration, Kultur, Identität
Deutsche Übersetzung von Gudrun Schmidt und Jürgen Freudl
Mit einem Vorwort von Benjamin Marius
Stauffenburg Verlag, Tübingen 1996
Weitere Informationen (Verlag)
Weiterer Beitrag zu Iain Chambers:
Iain Chambers: Der postkoloniale Sound des Globalen Südens
Geschrieben von Dagmar Reichardt – Freitag, 19. Juni 2020
Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.
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