„Die Chaconne ist mir eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke. Auf ein System für ein kleines Instrument schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und gewaltigsten Empfindungen. Hätte ich das Stück machen, empfangen können, ich weiß sicher, die übergroße Aufregung und Erschütterung hätten mich verrückt gemacht.“ (Johannes Brahms)
Mit diesem Solostück für die Violine, der Chaconne aus der Partita d-Moll, BWV 1004, hat Johann Sebastian Bach das Disparateste in eine Einheit seligen Selbstvergessens überführt.
Johannes Brahms sprach von Erschütterung, übergroßer Aufregung. Ja. Dieses gut vierzehnminütige Stück Musik ist in seiner überwältigenden Intensität von einer das Herz zerreißenden Trauer erfüllt. Und diese tönende Trauer versetzt das Gemüt in einen Zustand des Nicht-mehr-bei-sich-Aushalten-Könnens. Oder gibt dem alles übertönenden, verzweiflungsvollen Wunsch Ausdruck, das Ende möge sich endlich über einen senken. Dieses in Töne gesetzte herbeigesehnte Ende beschließt aber nicht nur die vierzehnminütige Tiefsterschütterung in sich, sondern ist die sozusagen musikalische Gestalt gewordene absolute, in sich selbst versenkte Ruhe, in der aller Schmerz und Aufruhr zu existieren aufgehört hat.
Wie soll das gehen? Tiefsterschütterung und Todesruhe in einem Stück der Tonkunst vereint. Vielleicht liegt die Erklärung in dem formalen Aufbau der Chaconne, die Bach – ein Requiem – kurz nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1720 komponiert hat.
Diese Chaconne, die aus freien Variationen über einem Thema in der Bassstimme besteht, bezieht ihre ungeheure Eindringlichkeit daraus, dass dieses Thema unaufhörlich wiederholt wird. Das Wunder besteht darin, dass diese Monotonie des Immergleichen keinen Stillstand evoziert, sondern das genaue Gegenteil: eine Form der Unruhe, die etwas Manisches hat. Dieser unentwegt um sich selbst kreisende musikalische Grundgedanke ist per se, gerade auf Grund seiner Eintönigkeit, von einer tief erschütternden Eindringlichkeit. Und dieses Gebannt-Sein von, und Nicht-Aushalten-Können bei dieser musikalischen ‚fixen Idee‘ wird noch dadurch auf ein endgültig nicht mehr auszuhaltendes Niveau inneren Aufruhrs gehoben, dass dieser kreisende Stillstand, der es in seiner (Un-)Ruhe nicht bei sich aushält, 32-mal von einer immer wieder auch exzessiven Ruhelosigkeit in eine sich in sich selbst zurückziehende Ruhe hinüberwechselt, die gleichfalls lange nicht bei sich auszuhalten vermag und dennoch in einem mit sich selbst verständigten Einverständnis in eine nichts desto trotz fragile Erlösung tastend verklingt.
Und diese das Herz zerreißende Coincidentia oppositorum wird von der damals 22jährigen japanischen Violinistin Sayaka Shoji in dieser Einspielung – die nächste Überhöhung – in eine musikalische Ruhe überführt, in der Raum und Zeit zu existieren aufgehört haben. In ihrem Spiel, das etwas Somnambules, Weltentrücktes hat – denn auch sie ist in dieser Viertelstunde der Welt, sich selbst und überhaupt allem abhandengekommen, wie man abhandengekommen ist, wenn die in Ruhelosigkeit eingebettete Ruhe des Nicht-mehr finalen Charakters ist –, hat sie die in sich zerrissene Ruhe der aus der Einheit von Gegensätzen bestehenden Komposition über die Jahrhunderte hinweg zu einem Erklingen gebracht, die den Rezipienten verstehen und nachempfinden lässt, was es mit einem Zustand auf sich hat, der in und trotz seines Aufgehörtseins – das Ruhe und nichts sonst bedeutet – der auf eine existenzielle Art alles überwältigende aufgeregteste ist, und dennoch und gerade deswegen in die wie auch immer fragwürdige Harmonie einer sich in Stille bescheidenden Einkehr zu sich selbst zurückgefunden hat.
Das musikalische Wunder jedenfalls ist vollbracht: Die stehende Ruhelosigkeit des Immergleichen, also des Endes, ist in und vermittelst der unentwegten, bewegenden Variationen des Immergleichen zu einer inhaltlich vollen, quasi mit Substanz aufgefüllten geworden, so dass diese sich in unablässigem Vollzug realisierende Ruhe in eine überführt worden ist und wird, in der sich das besessen-unruhige Manische des Immergleichen seines in Unruhe vergehenden Zwangscharakters entledigt hat und also zu einer friedvollen Ruhe findet, die es in und mit sich auszuhalten vermag, weil sie eine gehaltvoll gesättigte ist.
Diese ein wenig verzwickte tönende Konstellation hat Sayaka Shoji in ihrem überirdisch schönen, die Realität transzendierenden Spiel zum Erklingen gebracht.
„Als der innre Kampf sich nun geschlichtet, Blickt‘ ich Schmerz und Lust im Lied verdichtet.“ (Aus: Dichtung von Karl Marx)
Postskriptum: Ich bin mir dessen bewusst, dass meine Ausführungen in der Tendenz etwas Verworrenes, Unausgegorenes haben. Aber wie soll man das im Innersten nicht in Worte zu Fassende anders als fassungslos um Worte ringend dann aber doch einkreisend zu umschreiben versuchen?!
Johann Sebastian Bach: Chaconne aus der Partita d-Moll, BWV 1004
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Sayaka Shoji plays Bach : Chaconne from Violin Partita No.2 in D minor, BWV 1004 (14:20 Min.)
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