Fotografie

Andrea Gnam beginnt ihr neues Buch sehr persönlich: in der Einleitung betrachtet sie ihr Familienfotoalbum und beschreibt, wie ihr subjektives Bildgedächtnis funktioniert.

 

In Abgrenzung zum Film bzw. Autorenkino und dem willkürlichen Gebrauch von Fotos zur Illustrierung von Texten steuert sie dann auf ihren eigentlichen Gegenstand zu: auf das Medium Fotobuch, in dem ein Fotograf bewusst eine begrenzte Auswahl von Bildern zusammenstellt. „Schaffen seine Bilder ein ästhetisch stringentes Modell, das ein Stück Welt erschließt?“, fragt die Autorin und startet im Folgenden unter diesem Blickwinkel einen Rundgang durch die jüngere Fotogeschichte.

 

Schon der fast intime, subjektive Anfang des Buches bestimmt Stil und Ton dieses letztlich sehr theoretischen Textes. Gnam vermittelt der Leserin das Gefühl, neben ihr auf dem Sofa zu sitzen, gemeinsam in der Fotogeschichte zu blättern und ihr (gerne!) zuzuhören, wie sie ihre Gedanken und Empfindungen beschreibt, andere Texte und Autoren zitiert und so mit sanfter Überzeugungskraft ihre Thesen verwebt. Dabei geht sie schrittweise, systematisch und chronologisch vor.

 

Gnam Der Reiz der Peripherie COVERJedes der zehn Kapitel eröffnet die promovierte Literatur- und Kunstwissenschaftlerin mit einem Foto und einer Überschrift. Grob gesagt, geht es in den ersten fünf darum, was Fotos über Gebäude, Städte, Landschaften vermitteln oder besser: wie verschiedene Fotografen oder Künstlergruppen sie definieren, interpretieren, kommentieren und wie sie sichtbar machen, was man unter den Begriff der Peripherie fassen kann. Fotografinnen wie Hilla Becher, Sybille Bergemann, Barbara Klemm, Herlinde Koelbl, u.a. dokumentieren deutsche Nachkriegsgeschichte, verweisen mit ihren Bildern von alltäglichen Dingen, Szenen und Gesten auf das große Ganze. Die Hinterlassenschaften und Zerstörungen des Industriezeitalters manifestieren sich in Fabrikruinen, Schutthalden, entvölkerten, verwüsteten Landschaften mit giftig schillernden Gewässern. Die Trinkhallen, Kioske und Wohnzimmereinrichtungen der damaligen Industriearbeiterschaft sind heute vergessen, existieren nur noch im Bild.

 

Achtlose, funktionale Stadt- und Verkehrsplanung erzeugt anonyme, periphere Orte: den Typus der austauschbaren Zwischen-Stadt – weder Stadt noch Land – und Transiträume, die von Auto- und Eisenbahnen zerschnitten sind. Auch an oder in diesen übrig gelassenen Rändern leben Menschen, richten sich ein in dieser Ödnis von Garageneinfahrten, Strommasten, Verkehrsinseln, Fabrikschloten u.ä., schaffen sich ein Zuhause. Gnam veranschaulicht das eingehend an ausgewählten Arbeiten von Fotografen, die sich auf vielfältigste Weise dieser Sujets angenommen haben, darunter z.B. Daniel Müller Jansen, Jean Claude Mouton, Joachim Schumacher, Andreas Weinand. Als „vertrautes Niemandsland“ tituliert die Autorin diesen Bilderkosmos.

 

Gnam 01 JCMouton 09 12 2010

Jean Claude Mouton: Nanterre, 2011

 

Gnam erzählt von unserer Umgebung und Lebenswelt, und wie die Bilder davon unser Bewusstsein formen. Oder vielleicht ist es auch umgekehrt: in den Kapiteln vier und fünf widmet sich die Autorin der Ostmoderne und wie Fotografen den Blick auf die Architekturen richten, die verschwinden und vergessen werden sollen, weil sie an eine unliebsame Herrschafts- und Lebensform erinnern. Doch für manche Fotografen sind sie die Orte der Kindheit. Der Plattenbau im Ostblock war Heimstätte von Millionen Menschen und kann einen Platz auf der UNESCO-Welterbeliste beanspruchen. Roman Bezjacs, Katharina Roters, Susanne Hopf, Natalja Meier zeigen auf ihren Fotos, wie Architekten und Bewohner darin die geringsten Freiräume ausgenutzt haben, um Individualität herzustellen.

 

Liest sich das Buch bis hierhin noch wie eine parallele Fotografie- und Architektur(-oder „Orts“-)betrachtung, bildet das fünfte Kapitel den Übergang zum Schwerpunkt Medien und Bewusstsein. Gnam setzt sich u.a. mit dem Werkkomplex „Innenwelten“ von Beatrice Minda auseinander und der Bedeutung und Wirkung von Mustern und Ornamenten. Minda hat in den Wohnungen rumänischer Exilanten fotografiert: „Die Freude der Bewohner an klaren geometrischen oder auch floralen Mustern, an Teppichen und Vorhängen, schafft eine Art Gehäuse oder auch eine optische Insel inmitten der Zumutungen der Gegenwart.“ (S. 73)

 

Gnam 02 F Meuser Taschkent 2009

Philipp Meuser: Taschkent, 2009

 

Die Betrachtung von Mustern und das Sich-in-sie-versenken kann den Übergang in Sphären ermöglichen, die hinter dem Bewusstsein liegen, und damit letztlich auch hinter dem Bild: Poesie, Traum, Schmerz. Immer tiefer bewegt sich Gnam bei ihrer beschreibenden Analyse von Fotos in diese Bereiche, wenn sie exemplarisch Loreana Nemes zitiert, die ihre Fotos zusammen mit eigenen Texten publiziert: „Sie kehrt den Teppich. Sie kehrt für die Mutter. Sie kehrt die Sorgen fort und den Vater herbei und die Fransen gerade. Sie kehrt sie von rechts nach Westen und verbündet sich mit ihnen gegen die Großen, denn die treten die Fransen schief und viel zu fest und dann ist nichts mehr, wie es war.“ (S. 77)

 

Einer der Höhepunkte von Andrea Gnams Betrachtungen über das Sehen in Raum und Zeit ist die Analyse der Arbeiten von Hiroshi Sugimoto und Elger Esser in Kapitel acht. Sugimoto fotografiert in Wachsfigurenkabinetten Szenen, die dem Vorbild berühmter Gemälde von Jan Vermeer oder Leonardo da Vinci nachgestellt wurden. Bei Esser kommt das Medium Text bzw. Literatur dazu. Er fotografiert Orte an der normannischen Küste, die Guy de Maupassant im 19. Jahrhundert detailliert beschrieben hat, und die schon viele angesehene Maler gemalt haben. Andrea Gnam entfaltet ein komplexes Vexierspiel von Perspektiven unterschiedlicher Zeiten und Medien, um zu zentralen Aussagen über das Medium Fotografie vorzudringen: „Fotografie kann also eine gewaltige Transferleistung erbringen, die weit über das Verführen des Blickes, den ´Realitätseffekt` der Fotografie hinausreicht: Sie reflektiert Gesehenes, Geschriebenes und Erlebtes und stellt nach, um durch eine überraschende Aktualisierung die Vorstellungskraft zu erweitern: für das, was vor uns liegt. … Die Zeit arbeitet … für die Fotografie und mit ihr, nicht gegen sie.“ (S. 108)

 

Mit dem Finale, dem zehnten Kapitel „Postscriptum. Die Knochen sehen. Blinde in der Fotografie“ gelingt Gnam noch ein weiterer Schritt in Richtung eines transzendenten Begriffs von Sehen. Denn hier kommt der ganze Körper als Wahrnehmungsapparat ins Spiel. Blinde schärfen ihre haptischen und akustischen Sinne, ihr Gehirn nutzt für die Verarbeitung von Außenreizen auch die Areale, die normalerweise für die Wahrnehmung visueller Reize vorgesehen sind. Das gilt auch für Geburtsblinde. Die Wahrnehmung von Blinden kann dem Sehen gleichgestellt werden.

 

Gnam illustriert das an der Arbeitsweise von drei erblindeten Fotografen. Pete Eckert baut Lichtreliefs, indem er Figuren im Raum mehrfach belichtet und diese Aufnahmen übereinander blendet, sodass Bewegung im Raum sichtbar wird. Sonia Soberats setzt die Menschen während einer Langzeitbelichtung verschiedenen farbigen Lichtquellen aus. Die Porträtierten müssen in regungsloser Haltung verharren, um sie herum entsteht ein Wirbel oder Nebel aus Licht und Farbe. Bruce Hall nutzt die Lichtreflexionen von Wasser, wenn er seine Kamera auf Meerestiere oder seine tobenden Söhne beim Baden und Wasserspritzen richtet. Bei allen drei entstehen Bilder und Botschaften aus der Welt der Blinden.

 

Mit diesem Ende hat Andrea Gnam den Wahrnehmungsraum der Fotografie noch einmal erweitert, nachdem sie ihre vielfältigen Möglichkeiten schon in den vorherigen Kapiteln sprachlich elegant umkreist hat: ihr ist mit diesem Buch eine sehr dichte, feinsinnige und spannende Erzählung über Fotografie gelungen!


Andrea Gnam: Vom Reiz der Peripherie. Architektur und Fotografie

Wasmuth und Zohlen, 2022

134 Seiten mit 10 Fotografien, 16,5 × 22 cm. Klappenbroschur

ISBN: 978 3 8030 3420 5

Weitere Informationen (Wasmuth Verlag)

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