Film

Pieter-Rim de Kroon gehört in Deutschland nicht zu den bekanntesten Regisseuren aus den Niederlanden, obwohl der nunmehr 66-Jährige auf viele Jahrzehnte Filmschaffen zurückgreifen kann, auf zig Dokumentationen, die ihn einmal um den Globus führten.

Seine Filmsprache ist bedeutsam und in einem ganz besonderen Punkt vergleichbar mit einem anderen großen Niederländer, der die Kamera meisterlich führte: Gerard Vandenberg (1932-1999). Das, was sie vereint ist, wie sie mit Licht und Abwesenheit von Licht umgehen.

 

Die neueste Dokumentation de Kroons „Der Atem des Meeres“ („Silence of the Tides“, 2020) zeigt in äußerst lyrischer Art und Weise was Licht – neben vielen anderen atmosphärischen Wirkfeldern – ausmacht und wie es das Medium Film definiert. Hier schaffen Stimmungen die Bilder und nicht umgekehrt.

 

Das Licht im Film ist wie die Farbe in der Malerei. Jeder Moment und jeder Ort haben ihr ganz eigenes Licht, das es zu nutzen gilt, sagte Vandenberg sinngemäß in einem Interview im Jahr 1994[1]. Das kann man trotz des einen oder anderen Filters vor dem Kameraobjektiv auch für Pieter-Rim de Kroon uneingeschränkt übernehmen. Es gelingt ihm und seinem Team eine Faszination in uns hervorzurufen, die stark vom Licht geprägt ist.

 

Der Kinodokumentarfilm „Der Atem des Meeres“ über das „beeindruckende Universum des größten Marschlandes der Welt: das Wattenmeer“[2], das sich von Den Helder in den Niederlanden, über die deutsche Nordseeküste bis zur dänischen Halbinsel von Skallingen in Jütland zieht, ist eine liebevolle, ausführliche und Aspekt-volle Hommage an diese einzigartige Landschaft. Zwar liegt im deutschen Filmtitel die Betonung auf einem atmenden System, im englischen Originaltitel auf der Ruhe der Gezeiten, man hätte aber auch einen Titel, der das Licht in den Vordergrund stellt, auswählen können. Die Vielseitigkeit des Films kennt viele Blick- oder Denkwinkel. Titel verraten eben nur einen Bruchteil eines Ganzen.

 

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Ständig ändert sich das Licht, die Tagesrhythmen und Zyklen der Jahreszeiten, mal sind die Bilder blau-kalt, mal hell-silbrig, mal dunstig-trübe, wenn Nebel aufzieht, mal kristallklar zwischen den glänzenden Elementes des Nachthimmels und den funkelnden Lichtern an Land, die sich auf der dünnen Wasseroberfläche des Ebbe-Watts spiegeln. Bewegung ist nur von den Flugkörpern, Satelliten und Sternschnuppen inszeniert. Blitze zucken aufs Meer hinab, zeichnen ihren eigenen Wolkenhimmel und wir vergessen die Zeit.

Über all den Szenerien liegt Ruhe, selbst wenn ein eisiger Wind zu hören ist, wenn das Geschnatter der Vögel ans Ohr getragen wird oder Menschengruppen das Watt erobern. Der Film kommt ohne Text, ohne viele Worte aus, gerade einmal an fünf bis sechs Stellen ist der menschliche O-Ton zu verstehen.

 

Ansonsten bestimmen Rhythmen die 102 Minuten andauernde Dokumentation, die wie eine große (Lebens-)Reise aufgebaut ist: Ebbe und Flut, Tages- und Jahreszeiten, Leben und Tod, Wetter und Klima, Nässe und Trockenheit, Wind und Wellen, Stille und Sturm. Und all die daran angepassten Verhaltensformen von Menschen, Pflanzen und Tieren. Die Kamera beobachtet Lebensräume, wir werden zu Augen- und Erlebniszeugen, tauchen regelrecht und mehrsinnig ein in die Erzählungen, ob existenziell oder beiläufig, ob über oder unter Wasser, ob groß oder klein. Wir sehen riesige Containerschiffe, riesige Vogelschwärme, riesige Wasserflächen, große Ansammlungen von Quallen und Muscheln, nehmen aber auch das Verschwinden von Lebensräumen wahr, Regulierung, Küstenschutz und von Feuchtgebieten. Vielleicht heißt irgendwann das kleine Transportboot nur noch „Robbe“, während die Tierart längst am Rande seiner Existenz steht. In diesen beobachtenden Momenten und starken Kontrastprogrammen fangen wir an zu denken, erleben wahrhaftig und lassen uns auf das Storytelling ein, hören unseren eigenen Atem – auch den des freien Geistes. Das Beziehungsgeflecht ist äußerst komplex, wir nehmen es dort im Film wahr, aber auch in uns, in unseren einzelnen Reaktionen darauf.

Wir erleben arbeitende Menschen am Meer, Leuchtturmwärter[3], Dräsinenfahrer, Muschelsammler, die sich tänzelnd durch den Schlick bewegen, Transportbootführer, Seenotretter und Havaristen, Landwirte, die eine Herde Kühe übers Watt treiben, Schafzüchter und Schafscherer. Auch Freizeitsportler, Yogagruppen und Küstentouristen.

 

Wir begleiten Ornithologen, die mit den Sendern, die sie den Vögeln angeheftet haben, virtuell bis nach Nord-Kanada folgen, Menschen rund um ein Osterfeuer oder beim Entzünden einen großen Weihnachtsbaum auf Pellworm.

Wir erleben die „Königlich Niederländische Marine“ beim Erstürmen eines Strandabschnitts und donnern mit einem Kampfjetpiloten übers Wattenmeer – sehen bei Schießübungen zu. Um das Land verteidigen zu können muss es erst selbst das eigene Gefechtsfeuer aushalten. Treffsicherheit übt dort auch die belgische, deutsche und dänische Luftwaffe.

 

Im nächsten Moment steigen wir erneut an einen kontemplativen Ort ab. Gelöste Ruhe kehrt zurück, die Schönheit der Landschaft ist so weit wie der Horizont, das Licht verwöhnt, während der Wind Spuren in den Sand formt. Der Kontrast, die Fragilität und die Möglichkeit des sich Veränderns sind jedoch permanent auf der Lauer und spürbar.

Wir kommen den Dingen und Lebewesen ganz nah. Die „Meere“ des Mondes sind deutlich erkennbar und als ob ein Vogelschwarm zu ihnen unterwegs wären, wird es augenblicklich ein wenig Mystisch. Der Mond macht die Gezeiten.

Wir versinken mal im Blau, mal im Orange, im Silber und Gold.

 

Die Zeit ist hier und da gerafft oder verlangsamt. Wir schauen einem Priel zu, dessen Wasser sich quirlig zur Ebbe zurückzieht, wie man in einen Kamin schauen würde, um das Züngeln des Feuers zu begleiten.

Begleitet werden wir außerdem ab und zu vom Spiel von Birgit Wildeman[4], die eine historische Orgel als ein ebenfalls atmendes Instrument nutzt und für uns Prinzipalregister zieht und damit Luft holt.

 

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Zurecht erhielt „Der Atem des Meeres“ auf der „Natourale 2020“ beim „Natur & Tourismus Film Festival“ in Wiesbaden die Auszeichnung „Nature Best Feature Film“.[5]

Er ist für die Großbildleinwand gemacht, die Kamerafahrten erleben die Kinobesucher im Großen in besonderer Weise, die Stimmungen nehmen sie in ihren Bann, die Erlebnisse scheinen sie zu berühren und das Atmen wird auf eine andere, neue Art erlernt.


Der Atem des Meeres

NL / D 2020

Regie: Pieter-Rim de Kroon

Buch: Pieter-Rim de Kroon und Michiel Beishuizen

Bildgestaltung: Dick Harrewijn

Tongestaltung: Victor Dekker

Montage: Erik Disselhoff NCE

Sounddesign: Lawrence Horne

Musik / Komponistin / Organistin: Birgit Wildeman

Produktion: Windmill Film / Bildersturm Filmproduktion / NDR

105 Min. 4K, Dolby Atmos, Cinemascope

Kinostart: 29. Juli 2021

 

Weitere Informationen (engl./ned.)

 

Es ist ein gleichnamiges Buch bei Terra (NL) erschienen.

Mit einer Einführung in englisch, niederländisch, deutsch und dänisch.
Hardback, 192 Seiten. Eine signierte Sonderedition ist erhältlich.

ISBN: 9789089898371

 

[1] Vgl.: „Interview mit Gerard Vandenberg“; in Film & TV Kameramann, München 1994, S. 38ff

[2] Vgl.: Zitat aus dem Presseheft zum Film

[3] Auf dem ältesten existierenden Leuchtturm der Niederlande, „Brandaris“ genannt in Terschelling.

[4] Die aus Münster stammende und auf der Insel Föhr lebende Konzertorganistin studierte am Sweelinck-Conservatorium in Amsterdam als Meisterschülerin von Ewald Kooiman.

[5] Weitere Informationen

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