Theater - Tanz
 john neumeier ballett hamburg

Fünfzig Jahre hat Ballettintendant John Neumeier gewartet, bis er seine Tanzfassung zu Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ für das Hamburg Ballett schuf. Es ist ein großartiger, ein anrührender Abend über Gedanken beim Herannahen des Abschieds vom Leben geworden.

Einhelliger, anhaltender Applaus, gewürzt mit vielen Bravo-Rufen – Hamburgs Ballettintendant John Neumeier muss sich schon bei der Premiere in der Hamburgischen Staatsoper um begeisterte Zustimmung zu seiner neuen choreographischen Kreation keine Sorgen machen. „Das Lied von der Erde“ zur Musik von Gustav Mahler in der Hamburger Fassung – eine erste ging in Paris schon im Frühjahr 2015 über die Bühne – dürfte schnell zu den Klassikern im großen Repertoire des Hamburg Balletts werden.

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Es sind reduktiv verrätselte Texte, die Mahler 1907 komponierte und zu einem Gebinde symphonischer Lieder zusammenstellte. Alte chinesische Gedichte aus dem 8. Jahrhundert, später aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. Ihr Grundthema: eine immer präsente, selbst die froheren Momente verschattende Melancholie, eine chinesische Variation des schmerzlichsten Menschheitsthemas, das etwa zur selben Zeit von Mönchen in Europas Klöstern so intoniert wurde: „media vita in morte sumus“ – „mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“.

1907 war kein gutes Jahr für Mahler: Noch keine 50 Jahr alt erlitt er einen mehrfachen Einbruch von Lebenskrisen: Seine Tochter Maria Anna starb, keine fünf Jahre alt, im Sommer. Bei ihm wurde die Herzkrankheit diagnostiziert, die vier Jahre später zu seinem Tod führen sollte, und an der Wiener Hofoper war sein Abschied unter massiven Anfeindungen nach zehn Jahren als Direktor absehbar – er erfolgte kurz vor Ende dieses unseligen Jahres. Für den empfindsamen Künstler existenzielle Erfahrungen, die ihm eine Ahnung vom Tod gaben, der im vollen Leben immer für weit entfernt gehalten wird. Der Text bringt das sehr früh brutal auf den Punkt: „Das Firmament blaut ewig und die Erde / wird lange fest steh'n und aufblüh'n im Lenz. / Du aber, Mensch, wie lang lebst denn du? / nicht hundert Jahre darfst du dich ergötzen / an all dem morschen Tande dieser Erde!“

Das ist die Grundstimmung, aus der heraus Mahler „Das Lied von der Erde“ komponiert – von der Form her sechs symphonische Lieder mit großem Orchester, beginnend mit dem „Trinklied vom Jammer der Erde“, weiter über „Der Einsame im Herbst“, hellere Erinnerungen in „Von der Jugend“ und „Von der Schönheit“ zu „Der Trunkene im Herbst“ und zum halbstündigen Finale „Der Abschied“. Zusammen ergeben sie eine Neunte Symphonie mit zwei Singstimmen (Tenor und Bariton), die Mahler jedoch nicht in den Kreis seines symphonischen Schaffens aufgenommen hat.

Das Gelebte zieht an der Seele des Sterbenden vorüber
Musik aus der Tiefe der Seele. „Ich glaube, daß es wohl das Persönlichste ist, was ich bis jetzt gemacht habe“, ließ Mahler Bruno Walter wissen. Die chinesische Abkunft der Texte lässt ihn mit pentatonischen Motiven arbeiten, er lotet die schmerzliche Chromatik weiter aus, die eines seiner Markenzeichen ist, und experimentiert mit Klangfarben in vielen Nuancen. Alban Berg hört im „Lied von der Erde“ mit seinem schmerzhaften Abschied von der Welt, wie das Gelebte an der Seele eines Sterbenden vorbeizieht.

John Neumeiers Choreographie beginnt aus der Stille, dann klingt das Klavier – erste Skizzen Mahler zum sechsten Lied, wie eine ferne Ahnung dessen, was sich noch außerhalb des Blickfelds nähert, noch bevor die Fragen nach dem Sinn von Leben, Liebe und Tod mit dem Beginn des Orchesterparts auf die Bühne gebracht werden. Lange, sagt Neumeier, habe er sich dieses Stück verwehrt, nachdem er 1965 noch in Stuttgart die tänzerische Umsetzung von Kenneth MacMillan erlebt hatte. Es wurden fünfzig Jahre Warten und Reifen, bis Neumeier fand, die Zeit sei da und es als vorläufigen Schlusspunkt seiner 15-fachen choreographischen Auseinandersetzung mit Mahlers Musik auf seinen Arbeitsplan setzte – und gleich für alles verantwortlich zeichnet: den Tanz, das Bühnenbild, das Licht und die Kostüme. Auf der Bühne gibt es nur eine leicht schräg gestellte rechtwinklige Rasenfläche, ein grüner Fleck Natur, der mal hier-, mal dahin gefahren werden kann, Widerpol und Sehnsuchtsfläche zur tiefgrauen, melancholischen Gedankenumgebung. An der Rückseite der Bühne eine Mondscheibe, die mit den Stimmungen der Bilder ihre Farbe wechselt. Die Kostüme sind luftig und schlicht gehalten, sie reflektieren wie manche Gesten minimalistisch dezent die chinesische Abstammung der Texte.

Hélène Bouchet tanzt in unendlich vollendeter reifer Eleganz
Neumeiers Choreographie erzählt keine Geschichte und entwickelt keine eindeutigen Figuren, sie präsentiert Momentaufnahmen, Bilder, Erlebnisse, Gedanken, Gefühle, die aus den Texten aufsteigen. In ihrem Zentrum steht ein Mensch (Alexandr Trusch), der in all das geworfen ist. Ein Mensch, der sucht, zaudert, Sehnsüchte und Ängste spürt, Möglichkeiten verpasst und sein vorbeiziehendes Leben von außen betrachtet. Ihm zur Seite steht ein Alter ego, eine Projektion seiner Lebensziele, kraftvoll, zupackend, erfolgreich, geliebt (Karen Azatyan).
Und eine Frauengestalt, in der sich viele Frauen-Facetten vereinigen: solche der Tochter Mahlers, aber auch der Mutter Neumeiers, wohl auch von Mahlers Ehefrau Alma (die sie in „Purgatorio“ tanzte), dazu eine Symbolfigur der Liebe und schließlich auch die Künderin des nahen Todes – getanzt in unendlich vollendeter, reifer Eleganz von Hélène Bouchet. Und im Loblied der Liebe („Von der Schönheit“) ist Xue Lin eine Aprikosenblüte von bestechend präziser Anmut. Neumeier malt mit den Körpern seiner Compagnie Bewegungsabläufe und Emotionen, die er selbst in den lebhafteren Passagen zur absoluten Ruhe und Klarheit destilliert und zu einem Meisterwerk aus einem Guss geformt hat.

Seine Choreographie verweigert das Eindeutige, das Festlegbare – genau wie Mahlers Musik und die chinesischen Gedichtzeilen. Sie fordern den Zuschauer zur Auseinandersetzung auf, jeder kann und muss hier seinen ganz eigenen Zugang finden, seine ganz persönlichen Anknüpfungspunkte in der Reise seines Lebens.
„Haben Sie eine Ahnung, wie man das dirigieren soll? Ich nicht!“, fragte Mahler Bruno Walter angesichts der Komplexität seiner Musik. Simon Hewett weiß es. Unter seiner Leitung spielen die Philharmoniker, an deren Pult vor mehr als 100 Jahren auch Mahler gestanden hat, ganz vorzüglich. Sie malen mit Klangfarben, im Orchester hört man aufeinander, von winzigen Intonationsausrutschern mal abgesehen, verschmelzen die einzelnen Instrumente zu den schmerzlichen, fordernden, quälenden, strahlenden, kämpferischen und ersterbenden Klängen aus Mahlers Partitur.

Tenorglanz vom linken Bühnenrand mit Klaus Florian Vogt
Und dann sind da noch die Sänger. Links der Bühne der ex-philharmonische Hornist und heutige Star-Tenor Klaus Florian Vogt, der mit dem „Trinklied vom Jammer der Erde“ den düsteren Grundton des Abends intoniert – „dunkel ist das Leben, ist der Tod“. Vogt überglänzt mit seiner hell polierten Stimme das volle Orchester mühelos. Er kann hier alles ausspielen, das er drauf hat: die Bayreuth-gestählten Helden-Töne genau wie liedfeinste Nuancierungen. Im Lied von der Jugend beobachtet er das muntere Treiben rund um einen wunderhübschen chinesischen Teich mit Porzellan-Pavillon und gibt schließlich auch dem Trunkenen stimmlich Charakter, der angesichts des Aufbruchs der Natur weltschmerzy fragt: „Was geht mich denn der Frühling an!? Lasst mich trunken sein!“
Michael Kupfer-Radecky fallen auf der anderen Seite der Bühne neben dem Lob der Schönheit die eher düsteren, verhaltenen, schmerzlichen Stücke zu, die er mit seinem Bariton zum Klingen bringt. Er lotet mit hohem Risiko die untere Grenze der Lautstärke aus, bis fast die Stimme fast wegbricht. Malt in neblig-fahlen Farben den Einsamen im Herbst und kostet den Abschied von der Welt aus: „Die müden Menschen geh’n heimwärts / um im Schlaf vergess’nes Glück / und Jugend neu zu lernen.“ Bis am Ende doch ein zarter neuer Hoffnungschimmer aufscheint: „Die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz und grünt / aufs neu! Allüberall und ewig blauen licht die Fernen / Ewig ... ewig“

Ein großartiger Abend, bei dem sich Tanz und Musik perfekt auf derselben Augenhöhe begegnen. Ein viel zu kurzer Abend, der trotz des eingefügten Prologs nach knapp 90 Minuten leider schon vorüber ist. Und ein berührender Abend für alle, die offen sind, sich davon berühren zu lassen.

„Das Lied von der Erde“
John Neumeier Ballett
Musik: Gustav Mahler
1 Std. 30 Min. (kleine Pause)
Unterstützt durch Elsa Schnabel und die Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper
Weitere Vorstellungen: 6., 9., 13., 15., 17. Dezember 2016, jeweils 19:30 Uhr und 15. Juli 2017 um 20:00 Uhr.
Karten im Internet unter www.staatsoper-hamburg.de und unter (040) 3568 68.
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Header und Galerie: Das Lied von der Erde Fotos: © Kiran West

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