Christoph Marthaler hat einen Abend mit frühen Texten von Elfriede Jelinek im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses gestaltet und damit seine Trilogie über zurückgezogene Künstlergenies vollendet.
Star des Abends ist eine angerostete Wäscheschleuder der Firma Zanker, Boomern wahrscheinlich wohlvertraut aus der elterlichen Waschküche und heute als gute deutsche Wertarbeit immer noch im Ebay-Angebot.
Christoph Marthaler hat sie auf die Bühne geholt, vermutlich als Verweis auf die Entstehungszeit der wenig bekannten frühen Texte von Elfriede Jelinek, die sie nach ihrem Zusammenbruch im Jahr 1964, da war sie 18, und dem anschließenden Rückzug in die Isolation verfasste und die ihre Freiheit im Schreiben, im radikalen Spielen mit Sprache, begründeten. Es sind Gedichte, Auszüge aus Hörspielen, literarische Schnipsel, die im Kern schon alles enthalten, was sie zu einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen unserer Zeit machte: das Durchleuchten von Assoziationsräumen, Pop-Klischees, von obszöner Gewalt, Sexismus, Missbrauch, Terror und Faschismus. Ja, sie sei blasphemisch, das gehöre ja zur Aufklärung dazu, und sie entweiht, wie Marthalers Weggefährtin und Dramaturgin Stefanie Carp feststellt, „im Laufe ihres Schreibens alle heiligen Zonen des jeweils heiligen Diskurses“. Immer wieder.
Und so schließen sich an diesem Abend mehrere Kreise. Der Schweizer Marthaler, Jahrgang 1951, wie die Österreicherin Jelinek ein Kind der Berge, das Musik studierte, und wie sie ein Romantiker mit einem großen Herzen für kauzige Genies wie Schubert, Hölderlin und Robert Walser, hat 2002 zum ersten Mal mit einem Jelinek-Text gearbeitet, in dem Stück „In den Alpen“ über das Seilbahn-Unglück in Kaprun. Beide kultivieren die Ironie, das Innehalten, Ellipsen, die Langsamkeit, Stille, das laute Rasen, sowie das Umschwenken auf scheinbar weit Entferntes, eine grundsätzliche Offenheit.
„Mein Schwanensee“ ist nun der Abschluss einer Trilogie, in der er sich mit Dichtern und Dichterinnen beschäftigt, die ihr Leben in selbstgewählter Isoliertheit, doch keineswegs in Weltferne verbrachten. Angeregt von dem inzwischen verstorbenen Dramaturgen Carl Hegemann hat Marthaler 2021, wohl kaum zufällig in Zeiten des Corona-Kontaktverbots, mit Hölderlin angefangen, der im 18. Jahrhundert für 30 Jahre seines Lebens in einen Turm zog. Den zweiten Teil widmete er 2023 der posthum bekannt gewordenen amerikanischen Dichterin Emily Dickinson aus dem 19. Jahrhundert, die mit 30 Jahren beschloss, ihr Haus nie mehr zu verlassen. Mit Jelinek, die seit Jahren ebenso zurückgezogen in ihrer Wiener Wohnung lebt und von dort, inzwischen unauffällig wie viele im Homeoffice, mit der ganzen Welt kommuniziert, ist er nun im 20. Jahrhundert angekommen.
Und hier wird jetzt, mit der sanft dröhnenden Unwucht, die dabei erstmal entsteht, ein Stück Unterwäsche nach dem anderen geschleudert. Sasha Rau, Samuel Weiss, Bendix Dethleffsen, Josefine Israel, Fee Aviv Dubois und Magne Havard Brekke, die größtenteils auch in den beiden anderen Trilogie-Teilen auftreten, tragen ihre Unterhosen wie Schätze auf die Bühne, warten höflich, bis die Schleuder frei ist. Und schon bei diesem Bild entsteht etwas, das Marthaler sowie Jelinek perfekt beherrschen. Ein Lächeln, ein Sich-selbst-ertappen beim Abrufen von Bedeutungen, eine Zumutung des Zeitverstreichens. Ein Bild unseres Denkens, das ein anderes Bild überlagert und maskiert. Auf der Bühne von Duri Bischoff, der ähnlich wie Marthalers langjährige Bühnenbildnerin Anna Viebrock in sich geschlossene jedoch nicht ganz so hermetische Räume erschafft, finden sich verstreut herumliegende, altertümliche Fitnessgeräte, Gewichte, Klettergerüste sowie eine Streckbank, aufgehängt wie ein Kreuz an der Betonwand des Malersaals, davor eine Kanzel. Folterwerkzeug, Verbrechen der Kirche, Anspielung auf Jelineks „Sportstück“, Sport als Religion? Fragen mit vielerlei Beziehungen zu ihrem Werk werden hier aufgeworfen, die von den schlechtsitzenden, etwas angestaubt wirkenden Kostümen von Sara Kittelmann zurückgeworfen werden. Und schon haut Marthalers Musiker Bendix Dethleffsen, der gerade seine Frackschöße an einem der beiden an den Wänden aufgestellten Klaviere sortiert hat, ein paar Takte von Beethovens Neunter dazwischen. Gleich wird er mit der Liedbegleitung zu Schuberts „Ständchen“ fortfahren, aber keiner singt. Marthaler eben.

Magne Håvard Brekke, Sasha Rau, im Hintergrund: Josefine Israel, Samuel Weiss. Foto: Matthias Horn
Später wird der Pianist den Text von Tarzan übernehmen, dem „athletisch gebauten Mann“, der seine Jane nicht befriedigen kann. Vielleicht hat die junge Jelinek dabei an den fünfmal verheirateten Tarzan-Star der Fünfziger, den Kriegsveteranen Lex Barker gedacht, den irgendwie auch albernen Traum-Mann, der damals in den Trümmern der Nachkriegszeit die Geschlechterverhältnisse wieder klarstellte. Natürlich eine Ikone seiner Zeit, eine leere Hülse, die Jelinek spielend entweiht. Sie lässt ihn lieber Bastelaufgaben verrichten, als auf die Frau an seiner Seite einzugehen, die Fee Aviv Dubois entrückt ins Leere sprechen lässt und dazu so schön und bedächtig wie nie Galas Neunziger-Hit „Freed from Desire“ singt. Marthaler ist ein Meister darin, auch Popsongs durchzuschleudern und ihre romantische Essenz herauszudestillieren. Ebenso wie Jelinek in ihren Texten unter die Oberfäche von Sprache dringt und deren darin kondensierte Bedeutungen zum Klingen bringt.
Und dann erleben wir noch zwei weitere Bühnenpaare Jelineks, die ihren Text in Marthaler-Manier einfach aufsagen, ohne in die Emotionalität der Rollen zu gehen und damit einen wundersamen Verfremdungseffekt erreichen, als Hinweis auf den Abstand zur historischen Figur einerseits, andererseits aber auch auf die Nicht-Identität der Sprache mit der inneren Wahrheit des Sprechenden, auf die vergeblichen Verschiebungen der Machtverhältnisse, auf das Verschleiernde der Rolle, das dem Ungesagten riesige Räume eröffnet.
Zum einen ist da Magne Havard Brekke im grauen Entertainerkostüm als Pionier Charles Lindbergh vor seinem ersten Atlantikflug, und Sasha Rau als seine Frau, die ihn wahlweise davon abzuhalten versucht oder ihn dazu überreden möchte. Aus den Lautsprechern an der Wand erklingt das Kinderstimmchen ihres Sohnes, der im Falle des Fluges seinen Vater ersetzen soll, mit den Worten „Ich bin jetzt ein Mann“. Wer da nicht an heute denkt – absurder Treppenwitz des Krieges.
Zum anderen ist da Samuel Weiss – an anderer Stelle als Countertenor in Schumanns „Dichterliebe“ großartig – als namenloser Dirigent, der das Ballett Schwanensee erfinden möchte. Josefine Israel als wenig selbstbewusste Ballett-Tänzerin, ob sie ihn nun anhimmelt oder verachtet, kann ihn kaum davon abbringen, sich selbst als einzigartigen Komponisten zu betrachten. Auch wenn es Schwanensee schon gibt. Und natürlich gibt es auch eine Slapsticknummer der Männer mit den offenbar sauschweren Gewichten, die von den Frauen irgendwann ungerührt weggeräumt werden.
Ausgiebig zitiert werden Jelineks damalige, an der Oberfläche surrealen doch in der Tiefe von Gewalt und tiefem Leid erzählenden Gedichte. Kostprobe? „heute nacht / häng ich deine lippen / als vogelfutter / vor meine haustür / und betrachte durch / das fenster ihren / endkampf mit der geierin“
Marthalers anspielungsreicher Umgang mit Musik spiegelt sich in der Jelinekschen Poesie, und umgekehrt. Durch Marthalers Subtext bekommt Jelineks frühe Lyrik einen Körper. Und umgekehrt. So ertönt Strawinskys Feuervogelsuite, von Dethleffsen als Endlosschleife intoniert, um dann von dem Zwanziger-Jahre-Schlager „Hallo du süße Klingelfee“ abgelöst zu werden, ein Flirtversuch mit einer Telefonistin. So schnell geht es vom Ballett in die Operettenschnulze, dass man kaum mitbekommt, wie die Verehrung von Frauen mit ihrer Erniedrigung einher geht. Bis Jelineks Text dann auch die Beine von Dolores ins Spiel bringt.
Wer mehr davon möchte, dem sei ergänzend das Konzert „Unterricht in der Kunst die Fröhlichkeit nicht einzubüßen“ empfohlen, in dem auch Christoph Marthaler mitwirkt.
Alle Teile der Trilogie sind im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses derzeit zu sehen.
Mein Schwanensee
Zu sehen am 25.10., 5., 17. und 27. 11. 2025 im Deutschen Schauspielhaus, MalerSaal, Kirchenallee 39, in 20099 Hamburg
Mit: Magne Håvard Brekke, Bendix Dethleffsen, Fee Aviv Dubois, Josefine Israel, Sasha Rau, Samuel Weiss
Regie: Christoph Marthaler | Bühne: Duri Bischoff | Kostüme: Sara Kittelmann
Licht: Björn Salzer | Dramaturgie: Malte Ubenauf, Judith Gerstenberg
Im Namen der Brise, 2.,7. und 16. 11. 2025
Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten, 29. 10., 9. und 15. 11. 2025
Unterricht in der Kunst die Fröhlichkeit nicht einzubüßen. Literarisches Konzert mit Texten von Robert Walser und Ruedi Häusermann, Malersaal 6.11.2025
Weitere Informationen (Deutsches Schauspielhaus)

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