Theater - Tanz
Foto: Katrin Ribbe

Hannah Arendt (1906–1975) hat sich selbst nie als Philosophin verstanden. Gleichwohl war sie die bedeutendste politische Theoretikerin des 20. Jahrhundert.

 

Im Hamburger Thalia Theater lässt Rhea Lemans Stück „Arendt – Denken in finsteren Zeiten“[1] mit Corinna Harfouch in der Titelrolle das Leben dieser so klarsichtigen, furcht- und kompromisslosen deutsch-amerikanischen Jüdin Revue passieren. Und dieses Wort „Revue“ ist wörtlich zu nehmen.

 

Kritiker müssen sich entscheiden, Daumen hoch oder Daumen runter, so lautet eine journalistische Regel. Lieber ein saftiger Verriss als ein abwägendes „Sowohl-als-auch“. Aber so einfach ist das nicht bei diesem Stück, das Regisseur Tom Kühnel im Thalia Theater auf die Bühne bringt. Das Kammerspiel hat unerhört intensive, packende Momente, verliert sich aber auch in Albernheiten und überflüssiger Effekthascherei.

 

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Der Plot ist schnell erzählt: Hannah Arendt (Corinna Harfouch) sitzt 1975, nur sechs Monate vor ihrem Tod, der sich am 4. Dezember 2025 zum 50. Mal jährt, auf der Kante eines Kopenhagener Hotelzimmer-Betts über ihrer Dankesrede. In ein paar Stunden wird sie den dänischen Sonnig-Preis für ihre Verdienste um die europäische Kultur erhalten. Doch diesmal fällt ihr das Schreiben schwer. Sie schweift ab, verliert sich in Erinnerungen, hält lebhaft Zwiegespräche mit ihrem verstorbenen Mann, dem Philosophen Heinrich Blücher (André Szymanski), der sich als schicker Dandy im weißen Dreireiher leibhaftig neben ihr auf dem Doppelbett lümmelt. Sie ist entsetzt, als sich Adolf Eichmann (Oliver Mallison) in ihre Gedanken drängt, ausgerechnet aus dem Hotel-Klo heraus, wo er sich mit den Seiten ihres berühmten Buches „Eichmann in Jerusalem“ (erschienen 1963) den Hintern abwischt. Immer wieder kommt ihr dieser Widerling in die Quere, legt sich zu ihr ins Bett, bedrängt sie, kokettiert damit, dass er eigentlich Tantiemen für das Buch verlangen müsste. Blücher und Eichmann, das Gute und das Böse, sind allgegenwärtig, lenken sie immer wieder vom Schreiben ab, rufen Erinnerungen hervor, ihre Lebensstationen, die teils in surrealen Bildern ablaufen. Erinnerungen an die Mutter, die ihr sagte: „Wenn Du als Jude angegriffen wirst, wehr Dich als Jude“. Die mächtige Mutter, der sie auch das erste Trauma verdankt, indem sie so tat, als ob sie die kleine Hannah nicht als ihr Kind erkennen würde: „Wer bist Du denn?“ „Aber ich bin doch Deine Tochter Hannah!“ Das ist einer der gelungenen Momente dieser Inszenierung. Ein Moment, in dem man eine andere Hannah Arendt kennenlernt. Nicht die brillante, streitbare Intellektuelle und vielfach geehrte Universitäts-Professorin, sondern eine verletzliche Frau, die das makabre Spiel der Mutter zeitlebens schmerzt.

 

Dann die kurze Gestapo-Haft und die Flucht 1933, zu Fuß durch den Wald nach Tschechien, verfolgt von einem unheimlichen Holzfäller namens Martin, der sicher nicht zufällig den gleichen Vornamen wie Martin Heidegger trägt. (Mit Heidegger, ihrem Professor, hatte sie als blutjunge Studentin eine Liebesbeziehung, die durch seine nationalsozialistische Gesinnung zu Bruch ging). Die Flucht durch den Wald wird als bildgewaltiges Video eingespielt, in Großaufnahme das entsetzte Gesicht von Harfouch, wie sie durch das Gestrüpp hastet, verfolgt von dem Holzfäller mit hocherhobener Axt.

 

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Foto: Katrin Ribbe

 

So geht es weiter, eine Lebensstation nach der anderen wird auf abschüssiger Rampe angerissen, eine „Nummer“ nach der anderen abgespult: die Arbeit für eine zionistische Organisation, die Kindern die Ausreise nach Palästina ermöglichte. Erste Begegnung mit Heinrich Blücher im Pariser Exil; die Flucht 1941 in die USA, Staatenlosigkeit und Ehe mit Blücher, (die erste Ehe mit Günther Stern wird unterschlagen), der immer wieder betont, dass er sich ein Leben mit einer Frau, die klüger sei als er, nicht vorstellen könne. Privates Geplänkel auf dem eingeblendeten Schachbrett, zwischendurch noch ein paar deutsche und englische Songs, die ebenso deplatziert wie hilflos wirken.

 

Corinna Harfouch ist eine ausgezeichnete Schauspielerin, egal in welcher Rolle, egal ob im Film oder auf der Bühne. Dennoch schafft sie es nicht, Hannah Arendt mit Fleisch und Blut zu erfüllen. Es bleibt eine merkwürdige Distanz und Fremdheit zur Figur, die in den Augenblicken noch verstärkt wird, in denen Hannah Arendts rauchgeschwängerte, tiefe Stimme aus dem berühmten TV-Gespräch mit Günter Gaus („Zur Person“ 1964) eingespielt wird und Harfouch – wie beim Karaoke – die Lippen dazu bewegt.

 

Vor allem aber – und das wiegt ungleich schwerer – erfahren wir in Rhea Lemans[2] Stück kaum etwas über Hannah Arendts kluges und differenziertes Denken. Es dringt nicht ein in die Person, bleibt ein Biopic, aufbereitet mit ein paar Zitaten für eine Generation, die offenbar nur noch Instagram- und TikTok-Reels verträgt. Über weite Strecken Schülertheater, so scheint es, die Stationen werden holzhammergleich mit lautem Signal angekündigt, Infos ergänzen aus dem Off. (Fehlt nur noch der Hinweis: „Achtung, jetzt müsst Ihr aufpassen!“)

 

Allerdings, auch das zählt zu den gelungenen Aspekten des Abends, hat Jo Schramm mit seinem futuristisch einstürzenden, alles auf den Kopf stellenden Hotelzimmer ein überraschendes und beeindruckendes Bühnenbild realisiert. 

 

Wirklich fesselnd jedoch ist nur die letzte, lange Szene „Eichmann in Jerusalem“. Hier sind endlich die Intensität und packende Beklemmung zu spüren, die bislang mit zu vielen Effekten verspielt wurden. Auf offener Bühne bekommt Harfouch eine Perücke aufgesetzt, Hannah Arendts markante dunkle Lockenpracht, um dann endlich mit dieser Figur zu verschmelzen. Sie will, sie muss zu dem Eichmann-Prozess nach Israel, „um zu verstehen“, wie sie sagt. Und nun steht sie da im April 1961, im Saal des Jerusalemer Bezirksgerichts, das als Bild unter die Szene gelegt ist, ernst und schwarzgekleidet, zart und standhaft. zwischen dem Angeklagten Adolf Eichmann und dem Chefankläger Gideon Hausner (wiederum André Szymanski).

 

Aber nicht die Anklage gegen den SS-Obersturmbannführer und NS-Verbrecher Eichmann, den Mann, der vom Schreibtisch aus, die Ermordung von rund sechs Millionen Menschen organisierte, steht im Zentrum – nein, es geht um sie, die furchtlose, brillante Denkerin und Überlebende des Holocaust, die diesen Eichmann einfach nicht als Bestie dämonisieren will, die es wagt, von der „Banalität des Bösen“ zu sprechen. Die es wagt zu fragen, warum Eichmann hier in Israel vor Gericht steht und nicht vor einem internationalen Gerichtshof. Die auch nicht verschweigen will, dass es im „Dritten Reich“ etliche Judenräte gab, die mit den Nazis kooperierten und somit dazu beitrugen, ihre verbrecherische Vernichtungsmaschinerie so reibungslos am Laufen zu halten. Das Aussprechen und Publizieren dieser Tatsachen hat Hannah Arendt nicht nur in Israel viele Feindschaften eingebracht. Doch sie blieb standhaft und auch hier auf der Bühne, auf die scharfe Frage von Chefankläger Hausner hin, ob die Juden ihrer Meinung nach vielleicht selbst an ihrem Schicksal schuld sein sollen, liest sie mit stockender Stimme ihre Ausführungen vor. Atemberaubend eindringlich, unglaublich gut. Allein diese Szene lohnt den Abend.

 

„Denken ist gefährlich“, hat Hannah Arendt einmal gesagt. Die Bezüge zur heutigen Zeit sind offensichtlich. Von ihrem Denken jedoch hätte man sich mehr gewünscht.      


Arendt. Denken in finsteren Zeiten

Originaltitel: Arendt – to see in darkness, 2023 uraufgeführt am Theater von Odense (Dänemark)

von Rhea Leman

zu sehen im Thalia Theater, Alstertor, in 20095 Hamburg

Regie: Tom Kühnel

Besetzung: Hannah Arendt (Corinna Harfouch) | Adolf Eichmann (Oliver Mallison) | Heinrich Blücher (André Szymanski)

Bühne: Jo Schramm | Kostüme: Ulrike Gutbrod | Musik: Hannes Gwisdek | Video: Jo Schramm | Dramaturgie: Saskia Jabłońska

1 Std. 30 Min., keine Pause

Weitere Informationen und Termine (Thalia Theater)

 

Fußnoten:

[1] Das Originalstück heißt in seiner wichtigen Differenzierung: „ARENDT – to see in darkness“. Anm. d. Red.)

[2] Die ameriaknische Autorin lebt und arbeitet in Dänemark.

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