Theater - Tanz
Foto: Just Loomis

Eine derartige Abrechnung mit Europa, seinen politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Errungenschaften, hat das Theater noch nicht erlebt: Frank Castorfs gut sechs Stunden langer „Hamlet“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg lässt keinen Zweifel daran, dass die Erste Welt am Ende ist.  

 

Dieser „Hamlet“ ist eine Zumutung, keine Frage. Für Zuschauer wie für die fantastischen Schauspieler, die hier an ihre physischen und psychischen Grenzen gehen.

 

Elend lang ist dieser Abend, voller Brüche und Sprünge, voller Textzitate aus Literatur, Philosophie und Politik. Hamlet, der zweifelnde, verzweifelte Dänenprinz, ist nur die Folie für Frank Castorfs monströsen Rundumschlag „Einmal alles!“ Folie für einen hoch ambitionierten, collagenhaft zusammengesetzten Trumm aus Text, (Video-)Bild und Musik quer durch die Geschichte des Abendlandes, bis hin zu einer Abrechnung mit dem Theater selbst. Schwerpunkt über lange Strecken hinweg sind die großen politischen Krisen des 20. Jahrhunderts, Totalitarismus, Imperialismus, Sozialismus, die Heiner Müller schon in seiner „Hamletmaschine“ verhandelt hat und mit der Castorf seinen ebenso pessimistischen wie zynischen Blick auf Europa verwebt: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Künste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen Europas“.

 

Das Ergebnis der allgegenwärtigen Krise, der Katastrophe, der wir entgegenschlittern, nimmt das postapokalyptische, grauschwarze Trümmerfeld vorweg, das die Bühne beherrscht. Aleksandar Denić hat eine symboltriefende Szenerie entworfen, einen dräuenden Wolken-Prospekt, vor dem sich in Nebelschwaden gehüllte Kohle- oder Granitbrocken um einen halbrunden Atombunker aufbauen. Daneben ein verrostetes Europe TM-Schild, das verloren an einem Eisengerüst hängt.  Allein das Coca-Cola-Emblem als Verweis auf den nicht totzukriegenden Kapitalismus bringt einen Farbtupfer in dieses trostlose Schwarzweiß-Ambiente. Europa als abgewirtschaftete, amerikanisierte Trade Mark – das ist mal ein Statement! Der Bunker, auf der Unterbühne erbaut, wird im Laufe des Abends immer mehr zum zentralen Schauplatz. Ein Ort, der intimes Kammerspiel in Nahaufnahme ermöglicht. Wunderbar intensiv die Szene, in der der rasende Hamlet die Schubladen des offensichtlichen Stasi-Archivs herausreißt, während Ophelia ihn gierig umschlingt. „Sein oder nicht sein...“.

 

Diese Sequenzen werden, wie so viele Momente dieses überlangen Abends, mit Videokamera live übertragen (Videodesign Andreas Deinert). Castorf scheint mittlerweile mehr auf Film als auf Theater zu vertrauen. Über lange Strecken hinweg beherrscht eine hoch- und runtergefahrene Leinwand mit Close-Up-Einstellungen die Bühne. Nur so lassen sich drastische Bilder wie das Blut im Kühlschrank effektmaximiert in Szene setzen.

 

Hamlet 1 F Just Loomis

Foto: Just Loomis

 

Heiner Müllers „Hamletmaschine“ verblasst dabei zusehends, denn während sich Müller in seinem 1977 erschienenen Stück mit sozialistischem Ideal und der traurigen Wahrheit des totalitären Realsozialismus auseinandersetzt, zieht der Regie-Altmeister Castorf den Fokus maximal auf, er will hier nichts weniger als das gesamte Erbe humanistischer Zivilisation erfassen, angefangen bei der griechischen Mythologie. Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte, Hekuba, Trojas tragische Königin, Dantes „Göttliche Komödie“, Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ - Zitate über Zitate, Anspielung über Anspielung - das Stück gleicht einer Schnitzeljagd durch den Kanon bildungsbürgerlichen Wissens. Dabei reizt der Regisseur die gesamte Klaviatur stilistischer Theatermittel aus. Am liebsten spielt er mit dem Brechtschen V-Effekt, den Verfremdungseffekt des epischen Theaters, indem die Schauspieler aus ihrer Rolle fallen, sich mit ihren realen Vornamen ansprechen, das Stück kommentieren. Immer wieder auch musikalische Einlagen, teils überraschend komisch, (was auch unbedingt nötig ist, um das Publikum bei Stange zu halten), beispielsweise, wenn Hamlet (Paul Behren erscheint im Reigen des Shakespeare’schen Figurenrepertoires als einziger wahrhafter Mensch, sehr präsent und wohltuend ruhig und klar) dem verhassten Onkel und Bruder-Mörder Claudius (Josef Ostendorf) unvermittelt Marius Müller-Westernhagens „Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin“ ins Gesicht singt (politisch überhaupt nicht mehr korrekt, versteht sich!).

 

Nach der Pause ein bislang wohl beispielloser Akt der Eitelkeit: Der Regisseur macht sich selbst zum Gegenstand des Stücks, lässt Matti Krause (Horatio, Prometheus) über Castorf lästern: „Nie wieder sei der ja so gut gewesen wie in seiner Anfangszeit“, ein „Wirtschaftsflüchtling“ sei der Mann im Grunde und habe „fünf Kinder von sechs Frauen“.  Am schönsten: „Dem fällt nach fünf Stunden Schuld ein, dass noch 400 Seiten Sühne kommen.

 

Hamlet 2 F Just Loomis

Foto: Just Loomis

 

Zustimmendes Gelächter. Das Publikum war wieder wach, keine Frage, doch alles in allem erscheint nicht nur diese Passage außerordentlich selbstverliebt und testosterongeschwängert. Die Frauenfiguren in diesem „Hamlet“ sind grotesk als Revue-Girls und Sex-Objekte überzeichnet (Kostüme Adriana Braga Peretzki). Lilith Stangenbergs Ophelia steckt (u.a.) in hautengen, gelbem Lackleder-Pants und Pailletten-Bustier, Angelika Richters Gertrud gleicht mit ihrer großen Federhaube (insbesondere am Anfang) einem aufgescheuchten Huhn, das über und durch das aufgeschüttete Trümmerfeld hüpft. Kein Schutt aus Stahl und Stein, wie sich zeigt, sondern ein schwarzgraues Schaumstoff-Bällebad, das die Schauspieler*innen nach Lust und Laune durchpflügen. Die lächerliche Aufmachung der Frauen tritt aber rasch in den Hintergrund, denn beide Darstellerinnen beeindrucken mit enormer Bühnenpräsenz. Angelika Richters Gertrud ist vielmehr als Hamlets Mutter, Witwe und Ehefrau des neuen Königs. Sie steht symbolisch für alle Frauen, die sich mit den Machtverhältnissen arrangieren und nicht gegen Willkür, Krieg und Grausamkeiten die Stimme erheben.  Und Lilith Stangenbergs Ophelia verkörpert eine Frau auf Augenhöhe mit der Männerwelt – gefährlich stark, leidenschaftlich und intensiv. 

   

Es gibt viel Frontaltheater an diesem Abend. Es wird deklamiert und geschrien bis zur totalen Erschöpfung diesseits und jenseits der Bühnenrampe. Es gibt auch eine Verfolgungsjagd quer durch das Parkett. Und ganz zum Schluss weist ein chinesisch sprechender Fortinbras darauf hin, wer die Macht in Europa übernehmen wird.

„Es ist was faul im Staate…“ Wir wissen es! Die Sorge vor dem Dritten Weltkrieg steigt. Dachau und die Stasi sind immer noch allgegenwärtig, Hitler und Stalin scheinen in Ost und West wieder en vogue zu werden. Und man kann zu all den Grausamkeiten, allen Katastrophen, die täglich auf uns einstürmen, noch viel mehr sagen als in den sechs Stunden. Sicher, die Leistung des Ensembles ist grandios! Frank Castorfs „Hamlet“ ist ein Ereignis. Aber müssen wir uns diesen Abend antun? Nein, eher nicht.

Hamlet


Hamlet

Zu sehen im Deutschen Schauspielhaus, Kirchenallee 33, in 20099 Hamburg.

Mit: Paul Behren, Daniel Hoevels, Jonathan Kempf, Matti Krause, Josef Ostendorf, Alberta von Poelnitz, Olaf Rausch, Linn Reusse, Angelika Richter, Lilith Stangenberg
Regie: Frank Castorf | Bühne: Aleksandar Denić | Kostüme: Adriana Braga Peretzki | Licht: Lothar Baumgarte | Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink | Sounddesign: William Minke | Videodesign: Andreas Deinert | Live-Kamera: Andreas Deinert, Severin Renke | Live-Schnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer | Live-Cueing: Rebecca Dantas | Live-Tonangler: Michael Gentner, Jochen Laube | Dramaturgie: Ralf Fiedler

Die nächsten Termine: Sa. 25.10.2025 / 18.00 Uhr | So. 02.11.2025 / 16.00 Uhr | Mi. 19.11.2025 / 18.00 Uhr | Do. 30.04.2026 / 18.00 Uhr

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