Theater - Tanz
Böhm. Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin. Foto: Thomas Aurin

Die schreibende Zunft tut gut daran, mit Superlativen sparsam umzugehen, wenn sie jedoch ein Theaterabend verdient hat, dann dieser: „Böhm“, Gastspiel beim diesjährigen Hamburger Theaterfestival, inszeniert und auf die Bühne des St. Pauli Theaters gebracht von dem genialen österreichischen Multitalent Nikolaus Habjan und seinen elf ausdrucksstarken, selbstgebauten Puppen

 

Ja, genau, „Böhm“ ist Puppentheater. Aber eines, für das man eine neue Begrifflichkeit finden müsste. Standing Ovation, Gejohle und minutenlanger Stakkato-Beifall für eine überwältigende, absolut hinreißende, ebenso tiefgründige wie urkomische, atemberaubend intensive Geschichtsstunde in Sachen „Musik und Macht“.

 

Ein Arbeitszimmer voller Uhren, ansonsten steril und still. Ein alter Mann, offenbar eingenickt, sitzt mit dem Rücken zum Publikum im Rollstuhl. Dann betritt ein junger Mann (Nikolaus Habjan) die Bühne, schiebt den Rollstuhl zum Plattenspieler, berührt den Alten sanft – und dieser erwacht mit einem markerschütternden Schrei und herrschsüchtigem Gegrantel im besten Grazer Singsang zum Leben: „Sagen Sie den Leuten, sie sollen weggehen! Ich bin es nicht. Ich bin es nicht!“

 

Man weiß tatsächlich bis zum Schluss nicht, ob dieser scharfzüngige Grantler mit seinem kreideweißen, tiefzerfurchten Gesicht nun ein namenloser (Ex-)Schulwart ist, der sich in der Biografie des verehrten Jahrhundert-Dirigenten Karl Böhm (1894–1981) verliert – oder ob es sich bei dem Alten um den persönlichkeitsgestörten Maestro selbst handelt. Aber mit dieser Unklarheit hat sich der Autor des Stücks, der österreichische Psychiater Paulus Hochgatterer, nur eine Kapriole am Rande erlaubt. Vielleicht wollte Böhm (die lebensechte Puppe), Böhm, der im Laufe des Abends ausgerechnet Laufschuhe geschenkt bekommt, einfach nicht mehr Böhm sein. Karl Böhm, der Mitläufer des Naziregimes. Für die moralische Frage, wie man zu diesem Dirigenten-Gott heute steht, ob er wegen der Kariere, die er unter Hitler machte, zu ächten sei, spielt das keine Rolle.

 

Böhm war kein Nazi, aber er war zweifellos Nutznießer des Regimes. Übernahm 1934 die Dresdner Semperoper, nachdem sich sein Vorgänger Fritz Busch (weder Jude noch Kommunist) eindeutig gegen Hitler positioniert hatte und über Nacht sein Amt verlor. Böhm lebte in Wien höchst komfortabel in einer „arisierten“ Villa, machte andererseits aber keine Kompromisse, wenn es um die Musik ging. Mozart etwas „stärker, deutscher“ zu interpretieren soll ihm der Geiger Wolfgang Schneiderhan im Wiener Konzerthaus vor dem „ersten Festkonzert im Deutschen Reich“ 1938 angedient haben. Mit Böhm nicht zu machen! „In den Noten steht ein Piano, ich diktiere ein Piano und Sie spielen ein Piano, verstanden?“ Aufschlussreich auch sein Ausspruch „Wenn das Politische auf Sie zukommt, schauen Sie auf die Noten“.

 

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Böhm. Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin. Foto: Thomas Aurin

 

Die ambivalente Persönlichkeit des „Gottbegnadeten“ (es gab im Zweiten Weltkrieg eine Liste „gottbegnadeter Künstler“, die nicht an die Front mussten) erfasst der sehr genau recherchierte, dichte und einfühlsame Text Paulus Hochgatterers derart emotional und feinsinnig, dass man als Zuschauer die komplexe Persönlichkeit Böhms zu verstehen beginnt. Diesem Mann ist es immer nur und ausschließlich um die Musik gegangen. Um am Dirigentenpult zu stehen, hätte er wohl mit dem Teufel selbst paktiert. Vor der Welt außerhalb der Musik verschloss er die Augen. Verwerflich? Sicher. Aber man kann ihn nach diesem Abend nicht mehr verdammen.

 

In Rückblicken, mit Filmeinspielungen und unterschiedlich gealterten Böhm-Puppen an der Seite lässt Nikolaus Habjan die Welt der 1930er und 1950er Jahre vor unseren Augen aufleben – und mit ihr die Illusion, diesen Perfektionisten und Despoten am Taktstock höchstpersönlich bei einer Probe zu erleben. Mit einem Mal ist das Parkett des St. Pauli Theaters ein Orchestergraben und die Zuschauer ein großes Orchester, das vom giftsprühenden Maestro fortwährend beschimpft wird: „Da steht schon wieder Crescendo, und was tun Sie nicht? Sie crescendieren nicht! Oboe Eins? Oboe Eins, woher kommen Sie?“ Böhm fixiert das Publikum durch die riesige Brille (sein Spieler Habjan ist vergessen) und wiederholt die Frage penetrant drei bis vier Mal – bis tatsächlich eine Antwort kommt: „Aus Kaiserslautern“.  – „Oh, Gott, dann wundert mich gar nichts mehr“.

 

Diese Interaktion mit dem Publikum (man könnte auch sagen: Publikumsbeschimpfung) ist grandios! So, wie jeder Moment an diesem Abend grandios komisch, tragisch, faszinierend ist. Die Inszenierung, die Dramaturgie, die verblüffend witzigen Dialoge zwischen dem Alten und seiner jungen (Gesellschafterin – natürlich auch eine Puppe). Habjan ist immer zu sehen, spielt selbst permanent mit – als Pfleger, Schneiderhan oder NSDAP-Gaukunstwart. Und er schafft es tatsächlich, dass die Zuschauer da oben, auf der Bühne, nicht nur eine Soloshow mit Puppen sehen, sondern zwei oder drei Menschen im Gespräch. Ja, er schafft es selbst, die kleinen Stabpuppen als eigenständig lebende, atmende, denkende Wesen erscheinen zu lassen.  

 

„Nikolaus Habjan ist dabei, ein Weltstar zu werden“, kündigte das Programmheft an. Wohl wahr! „Böhm“ war ein Geschenk für Hamburg.


Paulus Hochgatterer: Böhm

Ein Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin

Im St. Pauli Theater, Spielbudenplatz 29-30, 20359 Hamburg

Mit: Nikolaus Habjan 

Regie: Nikolaus Habjan, Regiemitarbeit: Martina Gredler, Bühne: Julius Theodor Semmelmann, Kostüme: Cedric Mpaka, Licht: Robert Grauel, Puppenbau: Nikolaus Habjan, Marianne Mei

Weitere Informationen (Hamburger Theaterfestival)

 

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