Theater - Tanz
"Oh Europa". Foto: Juha Hansen

Das neue Mixed-Media-Projekt „Oh Europa! Dangerous Games“ des Südtiroler Künstlerpärchens TÒ SU zeigt, wie politisch und berührend Theater sein kann.

 

Sie alle haben, jede und jeder für sich, eine Odyssee erlebt. Die 19jährige Abiturientin Yona, geboren in Palästina und aufgewachsen in Syrien, der 33jährige Frisörmeister Masoud, der als Afghane in Teheran nicht mehr sicher war, die 53jährige Irakerin Kafiya, die als 12jährige verheiratet wurde und einem Frauen und Menschen verachtenden System entfloh, der 15jährige, in Damaskus geborene und mittlerweile fünfsprachige Karim, der mit seiner Mutter zehn Jahre durch die Türkei irrte, und die 27jährige Mohadeseh aus Teheran, die mit ihrem Exfreund an der Grenze zu Griechenland selbst nach zehn brutalen Pushbacks nicht den Mut verlor.

Sie alle schafften es nach Hamburg und stehen Anfang Mai 2025 auf der Kampnagel-Bühne, um ihre haarsträubenden Geschichten zu erzählen, von denen jede einzelne schon abendfüllend sein könnte.

 

Wo bist du?

Zusammengebracht wurden die fünf, deren gemeinsame Sprache Deutsch ist, von Martina Mahlknecht und Martin Prinoth. Die beiden sind auch im Leben ein Paar und haben Kinder, die sich manchmal beschweren, dass zuhause immer nur über die gemeinsame Arbeit geredet wird, verrät Prinoth. Beide stammen aus dem zweisprachigen Südtirol. Martin Prinoth, der aus dem Südtiroler Grödnertal kommt, spricht eine dritte Muttersprache, Rätoromanisch oder Ladinisch. „Nicht zu verwechseln mit dem Schweizer Rätoromanisch“, sagt Prinoth. Und es ist sicherlich diesem Umstand zu verdanken, dass die beiden offene Ohren und Augen für kulturelle Besonderheiten haben und ihren künstlerischen Auftrag darin sehen sich zu Botschaftern der Vielfalt und des Verschmelzens verschiedener Kunstformen und Ausdrucksmöglichkeiten zu machen. „Das ladinische ‚TÒ SU‘ bedeutet so viel wie zusammenziehen, einbeziehen, aufnehmen“, erklärt Martina Mahlknecht, die vom Bühnenbild her kommt und denkt, während Martin Prinoth als Filmemacher und Videokünstler Input liefert. Mit ihrer immersiven VR-Version „Below Deck“ (aus dem Untergrund eines Kreuzfahrtschiffes) schafften sie es 2024 schon zur 81. Biennale nach Venedig.

 

Auf der Bühnenrückwand sehen wir das Video einer europäischen Landkarte, in dem ein übergroßer Edding die verschlungenen Fluchtwege der fünf Protagonisten nachzeichnet. „Wenn du einmal auf der Flucht bist, gibt es kein Zurück mehr“, kommentiert Yona, die bis zum neunten Lebensjahr mit ihrer Familie ständig aus zerschossenen Häusern in Syrien umziehen musste, bis sie mit einer Tante den Weg nach Europa antrat. Die Flucht hat die junge Frau, die ihre Box-Künste als kleine Choreografie zeigt, stark gemacht: „Wenn ich das schaffe, dann schaffe ich alles weitere“.

 

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Europa, das gelobte Land, das ist hier auf der Kampnagel-Bühne, fast ironisch, symbolisiert durch einen fünfzackigen gelben Tisch und fünf blaue Rollhocker, die immer wieder mit den Geflüchteten darauf andocken möchten an den europäischen Stern. Mahlknecht und Prinoth haben ihrem Abend den Text der Genfer Flüchtlingskommission von 1951 vorangestellt, verlesen von Yona. Er entstand unter anderem auch als Antwort auf die Tragödie der 937 Juden, die 1939 mit dem Hapag-Dampfer St. Louis aus Hamburg vor den Nazis flohen. Weder in Havanna noch in den USA noch in Kanada wurden sie an Land gelassen und mussten zurück nach Europa fahren, was trotz des umsichtigen Kapitäns für mehr als 300 von ihnen den Tod bedeutete. Vorgetragen wird sie von muslimischen Geflüchteten. „Zu unserem Erstaunen hatte keiner ein Problem damit“, sagt Prinoth, der nach dem 7. Oktober 2024 wohl etwas anderes erwartet hatte.

 

Warum auch? Das Schicksal von Flüchtenden, die bodenlose Verzweiflung, die tödliche Bedrohung und den Strohhalm Hoffnung, das kennen sie alle.

 

Was ist das Wichtigste, das man mitnehmen muss? Statt einer Regenjacke lieber einen Müllsack, der sich als Schlafmatte, Regenschutz und Rucksack eignet, ein Handy mit Ladekabel und vor allem Geld, das man am besten in Folie gewickelt in die Kleidung einnäht, belehren sie das Publikum.

 

Die Form des dokumentierenden Theaters mit Akteuren, die ihre Perspektiven auf Realität darstellen, das gibt das Regieteam gerne zu, orientiert sich am großen Vorbild der Gruppe Rimini Protokoll, die einst mit sogenannten Experten des Alltags deutsche Bühnen eroberten. TÒ SU konfrontiert seine ExpertInnen mit eigenen Ideen. Zum Beispiel mit einer neuen, anderen Lesart des antiken Mythos vom Raub der Königstochter Europa durch den als Stier auftretenden Zeus.

 

Prinot und Mahlknecht fragen nach den fünf königlichen Brüdern der Europa, die von den Eltern ausgesandt werden, um sie zu suchen und heimzubringen, aber niemals zurückkehren. Und entdecken darin ein Gleichnis der Flüchtlingsbiografien: Wer heute Europa sucht, spielt mit seinem Leben und sieht seine Familie vielleicht nie wieder. In dieser Geschichte spiegelt sich zum Beispiel auch Kafiya. „Ganz ähnlich habe ich mich mit meinen Kindern und Enkeln auf den Weg gemacht“, erzählt die geschiedene und sehr resolute 53jährige, die mit 19 schon drei Kinder hatte. Als sie durchs Wasser mussten, wäre die Nichtschwimmerin beinahe ertrunken, doch sie trug ihr Enkelkind. „Ich hatte nur einen Gedanken: das Baby über Wasser zu halten“.

 

ToSu Oh Europa 01 F Juha Hansen

Foto: Juha Hansen

 

Der Videokünstler Prinoth hat eine überraschende Methode eingesetzt, um die hochdramatischen Erzählungen der fünf Geflüchteten in eine zugleich KI-kritische, artifizielle und sehr nachvollziehbare Form zu bannen. Jede und jeder berichtet einem anderen aus der Gruppe, der eine VR-Brille trägt, in seiner (für den bebrillten Zuhörenden unverständlichen und für das Publikum eingeblendeten Übersetzung der) Muttersprache von den Stationen der Flucht. Die VR-Brille wird mit dazu passenden ikonographischen Bildern gespeist, die wie in einem Videogame auf der Bühne auftauchen, Stacheldraht, ein Maisfeld, die Küstenwache aus großer Höhe beobachtet, ein weißes Boot, ein Container-Gefängnis, kleine Alupackungen mit Reis auf dem Tisch.

 

Wir, die Zuschauenden, befinden uns in einer symbolischen Landschaft, durch die sich der Zuhörende mit der VR-Brille bewegen kann. In diesen Games ist der Einsatz das eigene Leben. Keine Erzählung, so wird schnell klar, ist der erlebten Wirklichkeit gewachsen oder kann sie geschweige denn abbilden. Und gleichzeitig wird der Prozess des Verstehens, der immer auch eine Übersetzung in eigene Bilder ist, durch diese Methode abgebildet und transzendiert. Vielleicht sogar erträglich gemacht.

 

Prinoth und Mahlknecht erweitern die Realität der Geflüchteten auch mit einer KI-geführten Grenzkontrolle, einem als Beamten visualisierten Lügendetektor, dessen freundliche und bürokratische Algorithmen immer wieder das Erfassen der Situation verfehlen. Eine Spielerei für die Künstler, bittere Wahrheit womöglich bald an unseren Landesgrenzen.

 

Die Suche nach einem Europa, das sich an die Genfer Flüchtlingskommission hält, das den globalen Süden nicht weiter bestraft für die eigene Ignoranz der markt- und umweltpolitischen Verantwortung, lässt Menschen weiterhin ihr Leben riskieren. „Wo bist du?“, rufen die fünf, die es geschafft haben, ins Publikum. Europa bleibt eine Fata Morgana, soviel ist nach diesem Abend sicher. Oder, um es in den Wünschen der Geflüchteten an Europa auszudrücken: „Wir wollen einfach behandelt werden wie jeder andere, egal woher man kommt“.


TÒ SU / Mahlknecht & Prinoth: Oh Europa! Dangerous Games

Kampnagel Internationale Kulturfabrik GmbH Kampnagel K2, Jarrestraße 20, 22303 Hamburg, (7. bis 10. Mai 2025)

Performance / Digital / Film, 80 Minuten

Mitwirkende: Kafiya Al-Qeddahi, Karim Mohsen, Masoud Jahangity, Mohadeseh Salehinasab, Yona Sabbah

Konzept, Regie, Text: TÒ SU Martina Mahlknecht (Bühne) und TÒ SU Martin Prinoth (Video) | New Media Artist: Tom Lane | Musik, Sounddesign: Pose Dia | Choreographie: Carolin Jüngst.

Sprachen: Deutsch, Englisch, Arabisch, Farsi mit Untertiteln.

Barrierefreiheit: rollstuhlgerecht, Relaxed Performance, mit Über-/Untertiteln

Weitere Informationen (TÒ SU) 

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