Kultur, Geschichte & Management

Unser Bewegungsablauf beim Gehen besteht in einem steten Wechsel zwischen Stand- und Spielbein – wer diesen Wechsel nicht beherrscht, wer nicht abwechselnd mal das eine, mal das andere Bein belastet, der kann auch nicht gehen.

Weil es kein Tier gibt, das in dieser Weise geht, wird seit langem der aufrechte Gang als eines der Alleinstellungsmerkmale des Menschen genommen.

 

Es ist also etwas zu kurz gegriffen, wenn man allein den aufrechten Stand und die damit verbundene Übersicht über das Gelände als das Wesentliche des Menschen ansieht. Auch Bären können aufrecht stehen, Affen oder Vögel. Aber der Mensch stellt sich anders hin, schon, weil er sich anders bewegt. Nicht erst die Habachtstellung, die sich der Unteroffizier wünscht, muss mühsam erlernt werden, sondern bereits das einfache Stehen des kleinen Kindes ist keine ganz einfache Sache.

 

In „Homo ridens“, seinem Opus Magnum über das Lachen, zeigt Lenz Prütting die Bedeutung, die dem Erlernen der aufrechten Haltung bei der seelischen Entwicklung des Kleinkindes hin zu einer Person zukommt. In dem Augenblick, in dem es sich hinstellt, nimmt das Kind eine andere Haltung zu seiner Umgebung und zu sich selbst ein. Denn die aufrechte Haltung ist „die elementarste Form von Selbstbehauptung“, weil sie fortwährend verteidigt (Prütting schreibt – „behauptet“) werden muss. Denn wie wir alle wissen, steht der Mensch nicht von allein, sondern es bedarf dazu der Anspannung der Muskulatur. Man muss stehen wollen.

 

Für Prüttings Überlegungen ist es wesentlich, dass die Entwicklung des aufrechten Standes mit der Fremdelphase einhergeht. In dieser Phase lernen Säuglinge erstmals zwischen bekannten und unbekannten Menschen und deren Gesichtern zu unterscheiden. Sie reagieren auf Fremde und nehmen gelegentlich sogar eine Abwehrhaltung ein, wie Prütting an einem Foto demonstriert.

 

Kürzlich meinte ein Fernsehjournalist in einer Diskussionsrunde, dank moderner Messmethoden sei der Zusammenhang zwischen Leib und Seele endgültig bewiesen. Nun, ich glaube nicht, dass man hierfür auf irgendwelche Messungen wie Hirnscans und dergleichen zurückgreifen muss, sondern die Relation ist seit langem von den größten Denkern der Philosophiegeschichte bedacht und auch weitestgehend geklärt worden. Hier soll nur auf einen Aspekt dieser Relation eingegangen werden, auf die Art, in der unser seelischer Zustand sich in einer besonderen Art des Stehens spiegelt. In einem zweiten Artikel möchte ich gern die Bedeutung des Gehens aufzeigen.

 

Es gibt sehr unterschiedliche Arten des Stehens. Das Stehen, in dem das den Menschen auszeichnende Gegen- und Widerspiel von zwei Bewegungsrichtungen zum Tragen kommt, ist der „Kontrapost“. Das dynamische Gegenspiel von Stand- und Spielbein, das unser Gehen so einzigartig macht, muss für das Stehen erst einmal erlernt werden, ähnlich wie das Gehen selbst, auch wenn das bequeme Stehen, kann der kleine Mensch erst einmal gehen, viel einfacher scheint. Und wie Kinder sich das Wechselspiel von Anspannung (Standbein) und Entspannung (Spielbein) erst erarbeiten müssen, so brauchten auch die großen Bildhauer eine Weile, bis sie dieses Zusammenspiel darstellen konnten. Seit dessen Entdeckung bestimmt es den Kontrapost, also einer der wichtigsten Haltungen bei Plastiken, die einen Menschen abbilden. Beim Kontrapost steht man gehend – nur ein Wesen, das gehen kann, kann sich in dieser Weise hinstellen. In der Antike war es Polyklet (der „Vielgerühmte“, geboren um 480 v.u.Z.), der mit dem „Doryphoros“, dem „Speerträger“, eine vorbildliche Plastik schuf, die noch heute dank einiger Kopien bekannt ist.

 

Seit langem hat man dieses Kunstwerk als eine Lobpreisung des rechten Maßes angesehen, weil der Künstler in allen Aspekten das Mittlere gewählt zu haben scheint. Für uns aber ist der Zusammenhang mit der Bewegung wichtiger. Der Speerträger des Polyklet und auch der vielleicht noch berühmtere Diskuswerfer („Diskobolos“) des fast gleichzeitig tätigen Myron (ca. 500 – 440 v.u.Z.) stellen den Moment unmittelbar vor einer Bewegung dar. Sie sind dieser Bewegung so nahe, dass man diese, die sich doch erst im nächsten Augenblick vollziehen wird, bereits sehen kann. Eben deshalb – weil wir die Bewegung in der Ruhe sehen – sind diese Plastiken so unerhört ausdrucksvoll.

 

Die archaischen Plastiken – als Mann „Kouros“, als weibliche Gestalt „Kore“ – sprechen uns auf eine ganz andere Weise an. Eine symmetrische Figur, die einfach nur auf ihren gleichmäßig belasteten Beinen steht oder einen kleinen Schritt zu machen scheint, mag Kraft, Solidität oder in ihrem fast absoluten Gleichmaß Schönheit darstellen, sie deutet aber noch keine Bewegung oder die Bereitschaft zu ihr an. Und damit fehlen ihr auch Emotion und Ausdruck. In vielen Fällen ist man eher von dem Gefühl überwältigt, einem noch ganz fremden und entsprechend stummen Menschentum gegenüberzustehen. Auch die Gesichter dieser Menschen mit ihrem archaischen Lächeln sind uns ganz fremd.

 

Also: Vor Polyklet (wir sprechen von der frühesten griechischen Kunst) standen die Statuen sehr kraftvoll – fast wie in die Erde gerammt –, wogegen Plastiken mit dem Kontrapost eine Bewegung andeuten oder deren ersten Moment zur Darstellung bringen. Ein Schema, das den Kontrapost gut darstellt, ist das X; wenn der Mensch fest auf dem rechten Bein steht, dann ist sein linkes Bein etwas abgestellt; und umgekehrt verhält es sich mit den Armen – auf der Seite des Standbeins hängt der Arm herunter, wogegen der linke erhoben ist. So hat es Michelangelo bei seinem „David“ gehalten (circa 1501 / 1504). Ihm vorausgegangen war im Ausgang des Mittelalters der Florentiner Donatello (1386-1466), der wohl als erster Künstler der Neuzeit den Kontrapost wieder aufnahm.

 

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Ohne Aristoteles offen anzusprechen, orientieren sich die Deutungen des antiken Kontraposts – besonders die des „Doryphoros“ – an dem aristotelischen Begriff der „Mesotes“ (der Mitte). Dieser Begriff wird von den meisten Philosophiehistorikern (sogar von Hegel in Paragraph 150 seiner „Grundlinien einer Philosophie des Rechts“) als einfaches Mittleres verstanden, „als die Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig“, also im Grunde als schlichte Vermeidung gewisser extremer Haltungen seelischer wie körperlicher Art. Aber tatsächlich zielt der Begriff, wie Nicolai Hartmann in seiner „Ethik“ gezeigt hat, auf ein dynamisches Gleichgewicht, auf das Gegen- und Miteinander zweier entgegengesetzter Bewegungen, die zusammen (und nur zusammen!) ein harmonisches Gleichgewicht erzeugen. Man darf also den Kontrapost wirklich als Illustration der Mesotes verstehen – nur handelt es sich keinesfalls einfach nur um das Mittlere zwischen zwei Extremen.

 

Mit dem Begriff des Mittleren lassen sich ganz elementare Zustände des Menschen überhaupt nicht erfassen, wohl aber mit dem Widerspiel. Zeigen kann man das am Gegen- und Miteinander von Angst und Sehnsucht. Das sind zwei polar aufeinander bezogene Affekte, die sich an- und gegeneinander gewaltig steigern können und unser Lebensgefühl in einer Weise zu erheben vermögen, die ohne dieses Widerspiel ganz undenkbar wäre. Eine solche Steigerung beschreibt Leo Tolstoi in „Anna Karenina“. Als Anna den Grafen Wronskij nach einer ersten Begegnung unvermutet wiedersieht, ist sie von einem „seltsamen Gefühl der Befriedigung“ berührt, „gemischt mit einer unbestimmten Angst.“ Das Wesentliche an dieser Angst ist ihre Unbestimmtheit, ihre scheinbare Grundlosigkeit; und das, was diese Begegnung für sie so aufregend macht, ist das Widerspiel zweier Emotionen, der befriedigten Eitelkeit und der aufsteigenden Angst. Und auch für Wronskij ist es „zugleich quälend und schön.“ Wenige Seiten später schildert Tolstoi, wie Annas Rivalin Kitty Anna und Wronskij tanzen sieht. Das Mädchen findet in Wronskijs Blick „ein seltsames Widerspiel von Ergebenheit und angstvoller Betroffenheit.“ Also auch hier zwei Emotionen…

 

Die meisten kennen ein derartiges Widerspiel von dem Antreten einer längeren Reise, die mehr ist als ein bloßer Ausflug, vielleicht sogar ein richtiges Abenteuer, „das wirkliche, das große Abenteuer“, wie es in der Erzählung „Das letzte Abenteuer“ Heimito von Doderers heißt, auf die wir im nächsten Artikel noch zu sprechen kommen werden. Vor einer richtigen Reise – einer Fahrt ins Unbekannte, deren Bedeutung für unser Leben wir bestenfalls ahnen – steigern sich Angst und Sehnsucht aneinander und erheben die menschliche Seele für eine kurze Zeit zu einer Höhe, die ihr sonst fremd ist. Die Sehnsucht weitet uns – die Haut wird besser durchblutet, der Thorax hebt sich, weil wir tiefer einatmen, und die Muskulatur ist angespannt; dagegen wird die Haut welk, weil sich das Blut in der Angst zurückzieht, der Mensch sackt in sich zusammen, wenn die Muskelanspannung nachlässt, und er ist zusammengepresst (depressiv). Umgekehrt ist es so, dass sich die Stimmung eines Menschen (denn es ist ein dynamisches Widerspiel!) durch Bewegung leicht heben lässt, sich aber in erzwungener wie selbstgewählter Ruhe in Gedrücktheit und Niedergeschlagenheit verwandelt. Dieser Verhältnisse wegen sprechen Psychiater immer wieder von der Bedeutung, die der Mangel an Bewegung für das Entstehen von Depressionen besitzt; und umgekehrt muss Aktivität aller Art ein Mittel gegen diese tückische Krankheit sein.

 

Hier geht es noch um eine andere Darstellung des den Menschen bestimmenden Widerspiels. Warum spricht uns das Gemälde einer noch sehr jungen, sich vorwärts bewegenden, aber gleichzeitig rückwärts schauenden Frau so an? Ich glaube, dass es sich um einen ganz ähnlichen Fall handelt, wie beim Kontrapost, dass diese Haltung aber noch ausdrucksvoller ist, weil sie nicht allein die menschliche Art der Bewegung abbildet, sondern zugleich und in ihr unser Selbstverhältnis. Die Bewegung des Oberkörpers und die Blickrichtung haben die Rolle von Stand- und Spielbein übernommen. Ich spreche von einem der berühmtesten Gemälde Leonardo da Vincis, der „Dame mit dem Hermelin“.

 

Noch in sehr jungen Jahren machte der Schöpfer dieses Werkes eine Entdeckung, die wesentlich für mehrere seiner Bildnisse werden sollte, insofern sie den Ausdruck der dargestellten Personen intensivierte und vertiefte. Auf dem Bild „Die Taufe Christi“ Andrea del Verrochios (1470/72), auf dessen linken Seite sein junger Mitarbeiter Leonardo zwei Nebenfiguren malen durfte, findet sich ein – in den Worten des Leonardo-Forschers Frank Zöllner – „typisch leonardeskes Bewegungsmotiv: Die Drehung des Oberkörpers kontrastiert mit der Wendung des Kopfes“. Ganz prominent sollte dieses Motiv aber erst in der Darstellung der „Dame mit dem Hermelin“ werden, auch wenn Leonardo es noch häufiger verwendete, zum Beispiel auf „Anna Selbdritt“ oder auf „Leda mit dem Schwan“, dessen Konzeption uns leider allein aus einer Kopie bekannt ist.

 

Es scheint, dass Leonardos Bild der „Dame mit dem Hermelin“ von 1489/90 (Krakau, Czartoryski Museum) vollkommen voraussetzungslos ist, weil sich der Künstler bei der Konzeption des Bildes auf keinen Vorgänger stützen konnte. Der Oberkörper der Cecilia Gallerani deutet Bewegung an, nicht aber ihr unbewegtes, konzentriertes und kontrolliertes Gesicht. Es ist noch zusätzlich dieser Gegensatz, der den Betrachter gefangen nimmt. Zuvor und zuerst ist es aber ihre angedeutete Bewegung. In diesem Gemälde befolgt Leonardo eine Anweisung, die sich in seinen hinterlassenen Schriften findet und die uns ganz unmittelbar an die Haltung des Kontraposts erinnert:

 

„… Lasse niemals zu, daß der Kopf auf dieselbe Seite gedreht ist wie die Brust, und den Arm wende nie in dieselbe Richtung wie das Bein; und wenn der Kopf zur rechten Schulter gewendet ist, laß ihn auf der linken Seite tiefer stehen als auf der rechten; und wenn du die Brust nach vorne gewölbt machst, dann lasse, wenn der Kopf nach links gewendet ist, die Körperteile auf der rechten Seite höher liegen als die auf der linken.“

 

Leonardo hatte offenbar verstanden, dass der menschliche Ausdruck gegenläufig sein kann, oder genauer: dass Gegenläufigkeit das spezifisch Humane des Ausdrucks ist. Deshalb gewinnt menschlicher Ausdruck immer dann eine besondere Intensität, wenn er aus zwei einander entgegengesetzten Bewegungen besteht. Wenn die Dame einfach auf ein Ziel losliefe, dann würde sich ihr Verhalten nicht von dem eines Tieres oder eines kleinen Kindes unterscheiden. Aber so ist es eben nicht – sie selbst ist es, die sich noch einmal zurückwendet.

 

Das Erstaunliche dieses Bildes liegt deshalb nicht in seiner ausgeklügelten Symbolik, sondern in der Bewegung, die von Cecilia angedeutet wird; über ihre linke Schulter schaut sie zu etwas oder zu jemanden, das oder den wir nicht sehen. Ihr Oberkörper befindet sich in angespannter Erwartung, und bereits deshalb – weil der Blick wie die Wendung der Schultern eine Bewegung andeuten, die vielleicht gleich erfolgen wird – bereits deshalb ist das Bild so unerhört ausdrucksvoll. Dasselbe können wir bei der Hand beobachten, deren für eine junge adlige Frau ganz unpassende Größe den Betrachter irritiert und das Bild dominiert, wenn man diese Größe erst einmal bemerkt hat. Die Hand spannt sich ähnlich wie der Oberkörper an, als wollte sie sogleich etwas tun, etwa das Tier liebkosen, das in dieselbe Richtung schaut. Oder vielleicht hält Cecilia in ihrer Bewegung inne, weil sie plötzlich etwas sieht, auf das sie sich ganz konzentriert?

 

Natürlich findet sich die Gegenläufigkeit einer Bewegung nicht allein auf Bildern, sondern immer wieder in unserem Leben. Die Stärke der beiden einander entgegengerichteten Bewegungen kann sich bis zum Äußersten steigern und wird oder muss in diesem Fall einen Menschen als Person zerreißen – er verliert dann buchstäblich seine Einheit, und dieser Vorgang wird sich notwendig auch in seinem Gesicht widerspiegeln.

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