Meinung

Vorbemerkung: „Vergessen? Gelesen!“ ist eine neue Reihe bei KulturPort.De, die in unregelmäßigen Abständen von Dr. Frank-Peter Hansen, Philosoph aus Berlin geschrieben wird und vergessene Bücher vorstellt. Im ersten Teil führt uns der Weg nach Wien in die Welt der Sprachpsychologie von Friedrich Kainz (1897-1977).

 

Ein zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Buch ist die „Psychologie der Sprache“ des ehemaligen Wiener Universitätsprofessors Friedrich Kainz. Sein erster Band, der die Grundlagen der allgemeinen Sprachpsychologie beinhaltet, ist 1941 beim Ferdinand Enke Verlag in Stuttgart erschienen.
Auf diesen in doppelter Bedeutung grundlegenden Band, der aus Vorlesungen des Autors hervorgegangen ist, konzentriere ich mich im Folgenden.

 

Vorweg dies: Kainz ist ein Polyhistor, wie es nur wenige gibt. Sein Kenntnisreichtum lebender und toter Sprachen ist immens. Die einschlägige Forschungsliteratur ist ihm, über die Kontinente hinweg, geläufig. Und er versteht es, sie so in die systematische Argumentation einzubauen, dass der Leser nicht ermüdet, da er vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Mir fallen fürs 20. Jahrhundert lediglich zwei Autoren ein, die ähnlich souverän mit dem Material ihrer Erkenntnis umzugehen wissen: Ernst Cassirer und Nicolai Hartmann, wobei der Erstgenannte, auf Grund seiner Befangenheit in der Schultradition des Marburger Neukantianismus, in seinen Urteilen bei weitem nicht so vorurteilslos und sachbezogen ist wie der kritische Ontologe Hartmann. Dennoch gilt: Diese drei Autoren befinden sich auf dem jeweils aktuellen Forschungsstand und tragen Entscheidendes dazu bei, ihn mindestens ein Stück weit voranzutreiben. Man sollte von ihnen lernen und in ihren Spuren wandeln.


Psychologie der Sprache COVER1Wie geht Kainz vor? Im ersten Hauptstück äußert er sich über das Wesen, die Ziele und die Aufgaben der Sprachpsychologie, um sich anschließend, insgesamt kritisch, mit den erlebnis- und verhaltenspsychologischen Methoden der Forschung auseinanderzusetzen.

 

Im zweiten Hauptstück wendet er sich dem Wesen der Sprache zu, die er in ihrer Zeichennatur ausfindig macht. Sprachzeichen bedeuten etwas. Hinsichtlich des Problems des Aufbaus des sprachlichen Zeichensystems arbeitet er sich vom Abstrakten, dem Laut, Schritt für Schritt – über das Wort, Wortgruppen – zum vollständigen Satz vor. Darüber hinaus fragt er in diesem Passus nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Anschauung einerseits, Sprechen und Denken andererseits.

 

Im dritten Hauptstück konzentriert er sich auf die Leistungen der Sprache. Die primären Sprachfunktionen sind in dialogische und monologische untergliedert. Dialogische Funktionen sind die Kundgabe, der Appell, Berichte und Informationen. Unter die monologischen fallen der Ausdruck, das Fluchen, Interjektionen und der innere Appell. Primär heißen sie deswegen, weil hier die Worte als Zeichen dienen, als Träger und Vermittler von Bedeutungen, die im zwischenmenschlichen oder im einsamen Geistesleben zur Anwendung gelangen. Zeichen ohne Bedeutung jedenfalls sind, eine unausgesprochene Replik auf Wittgensteins gegenteilige Position, ein Ding der Unmöglichkeit.

 

Die sekundären Sprachfunktionen sind untergliedert in ästhetische und ethische Bereiche. Sekundär sind Sprachzeichen dann, wenn sie nicht nur Vermittler von Bedeutungen, sondern eigenwertige Wirkungsgegenstände sind. Hier geht es nicht um Zeichenfunktionen, denn hier vertreten die Worte nicht etwas, sondern wirken selbst. Im Ethischen werden u. a. der Euphemismus, die Höflichkeitssprache, Lügenerscheinungen, Sophismen, Vergleiche und Metaphern behandelt. Darüber hinaus ist ein Abschnitt über das magisch-mythische Verhältnis zur Sprache eingeschaltet. Kainz diskutiert Sprach-Tabus, Decknamen und gesellschaftliche Tabu-Erscheinungen. Vom systematischen Stellenwert derartiger Exkurse einmal abgesehen, sie machen, wie auch beispielsweise Stippvisiten bei der Sprachpathologie (Aphasie) – hier vor allem gibt es Berührungspunkte mit Cassirers Forschungsergebnissen aus der „Philosophie der symbolischen Formen“ – oder dem sprachfreien Denken dieses Buch zu einem ausgesprochenen, da jederzeit anregenden Lesevergnügen.

 

Das vierte Hauptstück, und damit der letzte Teil des ersten Bandes, befasst sich, vorsichtig abwägend, mit der Frage nach der Entstehung der Sprache. Kainz stellt überaus besonnen Überlegungen an, wie die menschlichen Urlautgebilde in ihrer phylogenetischen Variante ausgesehen haben könnten. Ontogenetische Querverweise werden behutsam eingeflochten. Außerdem: Er konsultiert andere Forschungszweige wie die Paläobiologie, die Paläopsychologie und die Sprach-ursprungslehre der Paläoanthropologie, um sich eine breitere Basis für vorbehaltliche Überlegungen zu verschaffen.

Um es noch einmal zu sagen: Kainz besticht durch genau diese Breite der Basis, die seinen Urteilen Gewicht, Solidität und Seriosität verschafft.


Anschließend ein paar der Kenntnisnahme werte Details, bei denen es sich ausnahmslos um grundlegende Einsichten von Kainz’ Forschungsarbeit handelt. Ich gehe dabei systematisch vor, indem ich mich an die Reihenfolge der vier Hauptstücke halte.

 

Aus dem ersten Hauptstück. Allgemein: Die Sprachpsychologie hat zu erfassen, „was an Akten und Prozessen im sprechenden und sprachverstehenden Individuum vorgeht“. (23) Es sind also „die Gesetzlichkeiten des menschlichen Bewußtseins und Seelenlebens, aus denen die Sprachpsychologie die Erscheinungen der Sprache erklärt“. (26) Kainz verwahrt sich im Besonderen gegen die Annahme einer sprachschaffenden Volksseele, die die Auffassung nahelegt, „die Sprache habe außer- und überhalb der konkreten Einzelpsychen einen gesonderten Existenz- und Wirkungsraum, innerhalb dessen sie sich nach eigenen immanenten Gesetzen zu entwickeln vermöge“. Diese Position wird als unrichtig verworfen, da die Sprache Wirklichkeit lediglich in den „Vollzugsakten der sprechenden und schreibenden Individuen“ habe. (13) Dieser Einsicht korrespondiert der Hinweis darauf, dass die Ursachen sprachlicher Veränderungen nicht in den Sprachen als solchen, sondern ausschließlich in den sprechenden Menschen liegen. Ansonsten müsste man ein „geheimnisvolles Eigenleben“ der Sprachen unterstellen, „das sie zu einer Art Naturorganismus“ machte. (15) Weil Kainz sich mit den an der Sprachbildung beteiligten Bewusstseinsvorgängen auseinandersetzt, übt er Kritik am Behaviorismus, der „jede deutende Beziehung auf ein bewußtes Ich auszuschalten“ sich anschickt. Das Be-nehmen der Lebewesen wird ausnahmslos von außen betrachtet und beschrieben, wofür im Übrigen die sprichwörtliche black box steht, „um dergestalt eine objektive Inventarisierung der typischen Verhaltensweisen und der repräsentativen Situationen zu erlangen“. (53) Das eigentliche geistige Wesen der Sprache ist von hier aus nicht zu erfassen.

 

Psychologie der Sprache COVER2Aus dem zweiten Hauptstück. Allgemein: „Das Wesen der Sprache besteht darin, daß sie ein Gefüge sinn- und bedeutungsvoller Zeichen ist, die nicht sich selbst meinen (was ja im Begriff des Zeichens liegt), sondern imstande sind, Dinge und Vorgänge der Außenwelt, bzw. deren Spiegelungen im Bewußtsein, ferner Zustände des Innenlebens, denen sie im Lauf der Entwicklung zugeordnet wurden, darzustellen, d.h. in symbolischer Stellvertretung einem auffassenden Bewußtsein zu vermitteln.“ (72) Und außerdem gilt, dass die Sprache „zufolge ihrer Allgemeinbegrifflichkeit abstrakt“ (129) ist, was übrigens auch für die so genannten Konkreta in ihr gilt. Bei der Sprache handelt es sich im Besonderen um das „vollkommenste und vielseitigste Zeichensystem, das zufolge seiner Struktur Leistungen vollbringt, wie sie keinem andern Zeichensystem“, auch nicht dem der Mathematik, „erreichbar sind“. (79) Denn die übrigen nichtsprachlichen Zeichensysteme, wie beispielsweise „Seezeichen, militärische Signale, Verkehrszeichen“, aber auch die an Eindeutigkeit nicht zu übertreffenden mathematisch-physikalischen Symbolsysteme, „sind starre, schematische und unproduktive Systeme. Ihre Zeichen sind nicht abwandlungsfähig und nicht kombinierbar; sie müssen als solche verwendet werden und dulden keine schöpferische Neuerung, um etwa einer Situation gerecht zu werden, die bei Vereinbarung des Signalschlüssels noch nicht vorauszusehen war“. (81) Im Bereich des Denkens und Erkennens entfaltet die Sprache eine Aktivität, die sich von dem gefügigen Sichbrauchenlassen eines instrumentalen Zeichensystems wesenhaft unterscheidet. „Entwicklungspsychologisch betrachtet eignet den Worten ein Bestreben, von Anschauungsträgern, die sie in phylo- und ontogenetischen Frühzeiten waren, zum unanschaulichen Begriffszeichen zu werden (progressive Verzeichlichung).“ (135) Die Sprache wie das Denken streben von der Anschauung los und zu begrifflichen, darstellenden Bedeutungen hin, die Wirklichkeitssachverhalte zu vertreten vermögen, „ohne das Gemeinte vor die innere Anschauung zu rufen. Eben darin aber liegt der Entwicklungsvorgang, durch den die Sprache zum bequemen Mittel des zwischenmenschlichen Verkehrs wird“. (135f.)


Aus dem dritten Hauptstück. Allgemein: „Die Sprache ist ein Gefüge von Zeichen, mit deren Hilfe sich eine Darstellung von Sinn- und Sachverhalten bewerkstelligen läßt, so zwar, daß sie das nicht Gegenwärtige, ja das sinnlich überhaupt nicht Faßbare zu repräsentieren vermag.“ (172) Im Besonderen ist jede dialogische Sprachäußerung Mitteilung: Kundgabe, Auslösung oder Darstellung. In der Kundgabe werden starke, bewegende, gefühlsmäßige innere Erlebnisse des Sprechers in Worten geäußert, so dass „ein teilnehmender Partner über sie in Kenntnis gesetzt wird und diese Kundnahme in Rückwirkung auf den Sprecher die kathartische, erleichternde Wirkung der Aussprache erhöht“. (180) „Etwas unklar Quälendes wird zur Klarheit des sprachlich geformten Begriffs erhoben und damit abgetan.“ (201) In der Auslösung soll „auf das praktische Verhalten des Partners aktiv Einfluß genommen“ werden. (182) In der Darstellung schließlich wird über Sachverhalte in symbolischer Weise informiert. Das Verführende schließlich an der Macht der Sprache besteht darin, dass ein „unkritisches Denken (...) die Worte für notwendige und sachgemäße Bezeichnungen“ hält. (248)

 

Aus dem vierten Hauptstück. Allgemein: „Die für die Entstehung der elementarsten Vorstufen der Sprache vor allem in Betracht kommenden psychischen Grundtatsachen sind Gefühl und Affekt.“ (272) Zu vermeiden bei der Erforschung des Ursprungs der Sprache ist im Besonderen das beliebte vermögenspsychologische „Kurzschlußverfahren“, in dem ein Sprachvermögen unterstellt wird, „das dem Menschen zufolge seines Menschentums eignen“ soll. (275) Sprechen wird – zirkulär – aus einem Sprechvermögen erklärt. Aus dem gleichen tautologischen Holz ist die Annahme geschnitzt, „daß der Mensch eben von vornherein so gescheit war, eine Sprache zu schaffen, was dem Tier zufolge der geringeren Höhe seiner Verstandesausstattung nicht gelang“. (309) Hier wie auch sonst verhält es sich wohl leider so, dass „sich ein Unsinn oft rascher und nachhaltiger ausbreitet als eine richtige Einsicht“. (342) Dagegen gilt, mit der gebotenen Vorsicht, folgendes: Aus „affektverwurzelten, situationsgebundenen Urlauten“ entwickelten sich „darstellende Zeichen“, „die zur Verständigung und Information brauchbar waren“. (283)

 

Psychologie Guessbacher COVER Hansen Vom wissenschaftlichen Erkennen

Auf eine weiter ausholende Psychologie der Intelligenz in der Nachfolge Hegels von einem neueren Autor sei an dieser Stelle lediglich hingewiesen. Wer vor allem etwas über konkretes, sachbezogenes und logisch-allgemeines Denken erfahren will konsultiere das von der Forschung weitgehend vernachlässigte Buch Hegels „Psychologie der Intelligenz" (Würzburg 1988) von Heinrich Güßbacher. Die wesentlichen Einsichten dieser Publikation habe ich in meiner 2005 erschienen Arbeit „Vom wissenschaftlichen Erkennen. Aristoteles – Hegel – N. Hartmann" (Würzburg 2005) auf den Seiten 110-118 zusammengefasst, so dass es mit diesem Vermerk hier sein Bewenden haben kann.

 


Friedrich Kainz: „Psychologie der Sprache“

Antiquarisch erhältlich

 

Heinrich Güßbacher: Hegels Psychologie der Intelligenz
ISBN 978-3884793466

 

Frank-Peter Hansen: Vom wissenschaftlichen Erkennen. Aristoteles – Hegel – N. Hartmann

ISBN 978-3826031779

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