Kultur, Geschichte & Management

Mit einem spektakulären steinzeitlichen Grab in Bad Dürrenberg (Sachsen-Anhalt) beschäftigt sich das Buch des Autorenteams Harald Meller und Kai Michel. Zu was für einem Menschen gehörten die gut erhaltenen Knochen?

 

Was bedeuten die auffällig reichen Grabbeigaben, und was sagt uns das Grab über die gesellschaftlichen und kulturellen Zustände jener unendlich fernen Zeit, dem Mesolithikum (der mittleren Steinzeit)? Wer war dieser bedeutende Mann, so fragten sich schon die Ausgräber der dreißiger Jahre, und wären erstaunt zu hören, dass sie das Grab einer Frau gefunden hatten.

Sollte diese Frau eine Schamanin gewesen sein? Denn dahin deutet ein Hirschgeweih, das bis in historische Zeiten ein Attribut vieler Schamanen gewesen ist.

Ist Schamanismus ein Thema auch noch unserer Tage? Die Autoren dieses Buches denken: Ja, obwohl es doch Schamanen hauptsächlich in animistischen Kulturen vor unserer Zeit gegeben zu haben scheint. Zuerst stießen Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts in Sibirien auf Schamanen, und ihre Beschreibungen bestimmen unser Bild von Schamanen bis heute.

 

Schamanin COVERHarald Meller und Kai Michel scheint es möglich, dass bei der Untersuchung und Darstellung von Schamanismus ein Licht auf die Ur- und Vorgeschichte der Menschheit geworfen wird, auf ihre allerersten, selbstverständlich schriftlosen und entsprechend stummen Anfänge. So begründen sie ihr Interesse an einem 9000 Jahre alten, 1934 erstmals geöffneten und untersuchten Grab in Sachsen-Anhalt – der letzten Ruhestätte einer Frau Anfang oder Mitte Dreißig.

 

Trotz eines gelegentlichen journalistischen Tons ist die Darstellung der Geschichte des Grabes, seiner Entdeckung und der Erforschung der Gebeine wie der Beigaben sehr seriös; in einem Anhang wird auf die wissenschaftliche Literatur verwiesen (Fußnoten schrecken ja ab…), und ganz systematisch wird eine ganze Reihe wichtiger Punkte durchdekliniert. Und wenn es Schlussfolgerungen gibt, dann werden diese immer unter Vorbehalt ausgesprochen und gegebenenfalls später korrigiert.

 

Wie lebten die Menschen jener Zeit, wie sahen sie aus, wie ernährten sie sich, in welcher Weise war die Gesellschaft gegliedert und organisiert? Was ist Schamanismus, seit wann gibt es ihn und bis wann, und worin gründet das heutige Interesse an ihn? Kommt die Erforschung dieses Grabes einer Reise zu unseren Anfängen gleich?

 

Archäologie, schreiben die Autoren – der eine Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, der andere Historiker –, Archäologie als die Erforschung der Vor- und Frühzeit ist für sie selbst ein „Medium der Selbsterkenntnis“ und dient nicht zuletzt dem Zweck, einen kritischen Blick auf unsere späte Zeit zu werfen. Im zweiten Teil des Buches wird mehr und mehr die mesolithische Zeit (die Gesellschaft der Mittelsteinzeit) unserer eigenen Epoche entgegengehalten. Vieles in dieser frühen Zeit scheint den Autoren besser gewesen zu sein, insbesondere der soziale Zusammenhalt und der Animismus. Und die Natur wird mal als „Schlaraffenland“, mal als „Paradies“ bezeichnet. Hier findet sich eine gehörige Portion Rousseauismus.

 

Von dieser vielleicht etwas zu romantischen Sicht auf diese Epoche einmal abgesehen, kommt eine Reihe wichtiger Themen zur Sprache: es wird dargestellt, wie die Archäologie früher vorging, welche merkwürdigen Vorurteile sich in den Deutungen der Funde spiegeln und wie diese Irrtümer sich heute korrigieren lassen. Die größte Rolle spielt dabei die Analyse der DNA, die „dem Entziffern einer unbekannten Schrift“ gleichkommt und der wir einige sehr überraschende Einsichten zu verdanken haben. Denn das reich ausgestattete Grab war nicht etwa das Grab eines Häuptlings, sondern die Ruhestätte einer Frau, und die Genanalyse ergab, dass die „charismatische Frau“ dunkelhäutig und blauäugig war. So besaß sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Bild, das sich nicht nur einige vorgestrige Ideologen, sondern eben auch viele andere von den steinzeitlichen Bewohnern Mittel- und Nordeuropas machten.

 

Schamanismus 01 N Witsen Sibirien

 Sibirischer Schamane, Stich von Nicolaes Witsen, um 1692

 

Ebenso interessant sind die Ergebnisse einer Untersuchung der Gebeine. Die Frau scheint einerseits sehr gesund gewesen zu sein, hatte aber auch gewisse Probleme. Eines – und vielleicht war es das, was sie zur Schamanin werden ließ – war ein Schaden an der Wirbelsäule, der zu gelegentlichen Trancezuständen geführt haben kann. Ein anderer merkwürdiger Punkt betrifft das auffallend schöne Gebiss, bei dem aber die oberen Schneidezähne geöffnet waren – wahrscheinlich absichtlich geöffnet, was zu erheblichen Schmerzen geführt haben muss.

 

Das Buch ist leicht geschrieben, bringt eine Menge Fakten und ist entsprechend angenehm lesbar; und den meisten Überlegungen wird man gerne folgen. Aber es gibt auch Einwände. Einer betrifft die Lobpreisung des Animismus, die Vorstellung einer beseelten Natur, in der die Menschen mit den Kreaturen, vielleicht sogar mit Pflanzen oder gar leblosen Gegenständen kommunizierten und überhaupt, auch dank einer egalitären Gesellschaft, viel entspannter und glücklicher lebten als wir Heutigen. Aber das Bild einer animistischen Kultur stützt sich in diesem Buch auf ein einziges Werk, nämlich auf das vor einigen Jahren erschienene „Jenseits von Natur und Kultur“ des französischen Anthropologen und Ethnologen Philippe Descola – zweifellos ein ziemlich gutes Buch, aber trotzdem eine etwas schwache Basis für so weitreichende Überlegungen. Vielleicht hätten die Verfasser noch ein zweites Buch lesen sollen?

 

Ein zweiter Einwand gilt der Unsitte, alles, was sich irgendwie verändert, mit dem Attribut „evolutionär“ zu bedenken. So heißt es etwa: „Die kulturelle Evolution stellt einen Innovationsbeschleuniger dar, sie ist das Geheimnis unseres [der Menschen] Erfolgs.“ Nun ist es aber in den einschlägigen Wissenschaften durchaus umstritten, ob es überhaupt einen Sinn ergibt, von einer „kulturellen Evolution“ zu sprechen, als handle es sich um einen der natürlichen Evolution vergleichbaren Vorgang. Wahrscheinlich ist mit „evolutionär“ nichts als Veränderung gemeint, eine Fortentwicklung der Gesellschaft. Das würde übrigens bedeuten: fort vom Animismus, der ja hier als die glücklichste Phase der Menschheit beschrieben wird.

 

Schamanismus Tanumshede Felszeichnung

Nach dem rumänischen Wissenschaftler Eliade stand der Urmensch noch permanent mit dem Göttlichen in Verbindung (bronzezeitliche Felsritzungen in Schweden. Foto: gemeinfrei)

 

Ein dritter Einwand gilt dem Umgang der Autoren mit der Chronologie. Es verwundert immer wieder, wie leichtfertig mit Jahrtausenden umgegangen wird. Die Menschheit scheint sich quälend langsam entwickelt zu haben, denn selbst die neolithische Revolution brauchte viele Jahrtausende, bis sie sich endlich durchsetzen konnte. Aber ist der Mensch wirklich so konservativ, wie die Autoren annehmen, hat auch der Steinzeitmensch über fast unendlich lange Zeiträume an Sitten und Gebräuchen festgehalten? Ist es wirklich eine realistische Annahme, dass es „während des Jungpaläolithikums [der jüngeren Altsteinzeit: auch ein lustiges Wort!] räumlich weitreichende und teilweise über Jahrtausende stabile Informationsnetzwerke“ gegeben habe?

 

Heute sind Traditionen von mehr als hundert Jahren schon eine seltene Ausnahme, und Traditionen von mehr als tausend Jahren? Unter Umständen dank einer jede Bewegung verweigernden Institution wie der katholischen Kirche, aber in der Steinzeit gab es weder derartige Organisationen noch eine Schrift, die ja zweifellos auch zu der Fortführung von Traditionen beitragen kann. Sind also solche Annahmen nicht fragwürdig? Die Autoren verallgemeinern, wenn sie schreiben, dass „die Menschen sehr konservativ“ sind, aber tatsächlich wissen wir aus der Kolonialgeschichte, dass indigene Gruppen, ja sogar ganze Nationen sich in extrem kurzer Zeit anzupassen wussten: Sie schufen, wenn sie dazu gezwungen wurden, in wenigen Jahren neue Gebräuche und Gewohnheiten ebenso wie eine entsprechende Mythologie, die in nichts verrieten, dass sie nicht Jahrtausende alt waren.

 

Trotz dieser Einwände: ein schönes und interessantes Buch, und wenn ich einmal in der Gegend sein sollte, werde ich ganz bestimmt das Museum mit der Schamanin besuchen.


Harald Meller und Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin. Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen

Rowohlt 2022

368 Seiten

ISBN: 978-3-498-00301-2

- Weitere Informationen (Rowohlt Verlag)

- Weitere Informationen (Wikipedia)

 

YouTube-Video:

Das Grab der Schamanin von Bad Dürrenberg | Museum exklusiv (7:12 Min.)

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