Der in Beijing lebende Fotograf Xu Yong (徐勇) hält seit den frühen 1980er Jahren seine Umwelt mit der Kamera fest.
Geboren 1954 und aufgewachsen in Shanghai erlebt er als Kind und Jugendlicher die Härte des politischen Alltags in China mit, aber auch die alten rückständigen Wohnviertel, in denen es oft weder fließendes Wasser noch Bäder gab. Der morbide Charme jener sogenannten Hutong-Viertel, die es heute oft gar nicht mehr gibt, weil das moderne China diese längst abreißen ließ, Bewohner umquartierte und mit zeitgemäßen Wohnblöcken ersetzen ließ. Ganze Quartiere sind heute nur noch Erinnerung.
Nachdem er im Jahr 1978 seinen Abschluss am Polytechnikum Luoyang[1] machte, zog er nach Beijing und arbeitet zwischen 1984 und 1988 in der Kreativabteilung einer staatlichen Werbeagentur der Hauptstadt. In diese Zeit, 1986, fällt auch seine erste Einzelfotoausstellung.
Er ist einer der Pioniere des „798 Art District“[2], die die Ansammlung ehemaliger Militärbaracken und einer Munitionsfabrik zu einem Zentrum für zeitgenössische Kunst und Fotografie umwandelten. Im Jahr 2003 konzipierte und initiierte er die Kunstaktion „Re-Creation 798“.
In jene Ära führt uns auch die Fotoserie „101 Portraits of Hutong“ die die Ästhetik der traditionellen chinesischen Gassen, der Hutongs, zeigt. Die in schwarz-weiß fotografierten Aufnahmen präsentieren mal anmutige, mal schmutzige Gassen, die einstöckigen Hofhäuser und architektonische Details wie Eingänge, Fenster und Beschläge, aber auch die Menschen, die dort lebten.
Was die Fotos der späten 1980er Jahre nicht zeigen, sind die Lebensbedingungen. Wer um das Jahr 1989 in jenen Hutong-Vierteln in Beijing oder Shanghai war, der erinnert sich sicher an die Lautstärke, die Enge, mit der Familien und die Nachbarn klarkommen mussten, die Feuchtigkeit und Kälte in den Wintern und die mangelnden hygienischen Verhältnisse.
Die stillen Fotos Xu Yongs sprechen von einer eher romantischen, poetischen und distanzierten Seite der Quartiere. Mit den Fotografien fängt Xu Yong dennoch wichtige Fragmente einer vielfach verschwundenen Realität ein, indem er den flüchtigen Charme der alten, vom Schnee bedeckten, vom Regen durchnässten und von der Sonne aufgeheizten glänzenden Gassen festhält.
1989[3] wurden die Hutong-Fotos erstmals ausgestellt. Damals gab es in Beijing noch etwa tausende Hutong-Gassen, im Jahr 2005 nur noch etwa 500. Heute wurden einige Hutong-Gassen mit viel Kapital saniert, auf modernen Lebensstandard gebracht und die alten Hofhäuser wurden an Ausländer und reiche Chinesen verkauft und vermietet. In der Straße Shijia Hutong im Viertel Chaoyang gibt es heute das Shijia Hutong-Museum[4] mit einem großen Modell der ehemaligen Viertel.
„Hutong“ ist ursprünglich kein chinesisches Wort, sondern ein Wort aus dem Mongolischen[5], das ‚Quelle‘ oder ‚Wasserbrunnen‘ bedeutet. Vor siebenhundert Jahren besetzten die Mongolen aus Nordchina fast das gesamte Gebiet der Han-Völker. Sie gründeten die Yuan-Dynastie (1279–1368) im alten China und machten Beijing zur Hauptstadt, die sie „Yuan Da Du“ nannten. Seitdem ist sie die Hauptstadt Chinas.
Das mongolische Volk lebte als Nomaden im nördlichen Grasland und versammelte sich oft in der Nähe von Wasserquellen. Die königliche Yuan-Familie baute ihren Palast im zentralen Bereich des Yuan Da Du, entsprechend der kulturell fortschrittlichen Stadtplanung der Han-Ethnie, und legte dann Straßen im Tic-Tac-Toe-Muster um den Palast an. Außerdem befanden sich auf beiden Seiten der Straße feudale Residenzen. Die Gassen und Häuser wurden vollständig nach dem Etikettensystem der ethnischen Han-Tradition gestaltet. Diese traditionellen chinesischen Hofhäuser, siheyuan genannt, wurden berühmt, und die Gassen und Sträßchen wurden in leichter Abwandlung der mongolischen Aussprache Hutongs genannt[6].
Bereits in den 1980er Jahren startete Xu Yong eine Kampagne zur Erhaltung und Sanierung der Einzigartigkeit dieser historischen Stätten. Obwohl die Regierung Touristen und ausländischen Gästen nur moderne und westliche Architektur zeigen wollte, gelang es ihm in den 1990er Jahren, Führungen in alten Pekinger Stadtvierteln zu organisieren, um den Menschen einen Hauch der alten Kultur und der Lebenssituationen zu vermitteln.
Die Serie „101 Portraits of Hutong“ und das Buch „Hutong 101 Photos“ – eines von mittlerweile über zwanzig Publikationen – visualisiert die Hutong-Viertel und definiert diese als wertvolle Zeugnisse einer verlorengegangenen, städtebaulichen und sozialen Ära und bringen Momente ans Licht, die die Melancholie der Zeit ins sich tragen.
Xu Yong: Hutong 101 Photos
Herausgegeben von Xu Yong, He Hao
Texte von Xu Yong
Kerber Verlag 2024
ISBN 978-3-7356-0981-6
160 Seiten, 101 duplex Abbildungen, Hardcover in Leinen
Sprachen: Englisch, Chinesisch
Gestaltung von He Hao, Professor der Central Academy of Fine Arts (CAFA), Peking China
Weitere Informationen (Verlag)
[1] heute: Luoyang Institute of Science and Technology (LIT) in der Provinz Henan
[2] Dt.: Kunstbezirk Dashanzi
[3] Im gleichen Jahr fotografierte Xu Yong als 35-Jähriger die Geschehnisse der Protestbewegung auf dem Tiananmen Platz in Beijing. Die hunderte von Aufnahmen versteckte er ein gutes Vierteljahrhundert, bis schließlich 64 davon in der Publikation „Negatives“ (2024) veröffentlicht wurden. Das Buch steht in der Volksrepublik China auf dem Index. Weitere Informationen: https://www.distanz.de/en/xu-yong/negatives-scans
[4] Siehe: https://r.visitbeijing.com.cn/museum/561
[5] Das mongolische Wort lautet „Hottog“.
[6] Vgl. Interview „Beijing’s Changing Face“ von James Lee-Tullis in Art & Design des Centurion Magazins, Januar 2013
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