Kultur, Geschichte & Management
Miriam Gilles-Carlebach

Ihr Vater, Dr. Joseph Carlebach (1883-1942), war der letzte Oberrabbiner des Synagogenverbandes in Hamburg während des Dritten Reich.
Er, seine Frau und drei seiner Töchter wurden in der Nähe von Riga im Dezember 1942 nach Auflösung des Konzentrationslagers „Jungfernhof“ ermordet.
Als Rabbiner, promovierter Wissenschaftler und Pädagoge galt Joseph Carlebach an der Talmud Tora Schule in Hamburg als schöpferischer Erzieher. Aus Wikipedia zitiert erklärt sich seine Maxime: „Er ging individuell auf den einzelnen Schüler ein und leitete ihn durch das Interesse am Thema zu selbständigem Lernen und Entdecken an. Dabei verstand der Lehrer sich als älterer Freund des Schülers. Grundlage und Ausgangspunkt der Lehre Carlebachs war der jüdische Glaube, der alle Lebens- und Wissensbereiche durchdringen und die Ganzheit und Einheit von Seele und Geist garantieren sollte.”

Seine Tochter Miriam Gillis-Carlebach folgte dem Vater auf den pädagogischen Pfad und führte vieles von dem fort, was er begann. Sie unterrichtete an verschiedenen Schulen und Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt und gründete und leitet das Joseph-Carlebach-Institut an der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan (Israel) und arbeitete dort als Professorin für Pädagogik, Soziologie und jüdische Geschichte deutscher Herkunft.

Claus Friede traf Miriam Gillis-Carlebach (*1922) in Hamburg und sprach mit ihr über ihre Arbeit.

Claus Friede (CF): Sie haben so viele Interviews zur Geschichte Ihrer Familie, Ihres Vaters und über Ihre Kindheit in Hamburg damals und über das Hamburg und Deutschland von heute gegeben. Ich möchte mich mit Ihnen vielmehr über Ihre Arbeit als Pädagogin unterhalten.
Erinnern Sie sich daran, wie Ihr Interesse für Pädagogik und Erziehung entstand?

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Miriam Gillis-Carlebach (MGC): Es war kein Akt des zielstrebigen Denkens, die Pädagogik gewählt zu haben, es kam eher über Umwege. Zunächst fing alles in Israel an, dort lebte ich zunächst in einem Jugenddorf in der Nähe von Haifa und mein Interesse ging in zwei Richtungen: Ich wollte gemeinsam mit anderen das Land aufbauen und zweitens wollte ich etwas in der Agrarkultur bewirken. Ich arbeitete wie auf einem Bauernhof mit Tieren: Hühnern und Kühen – und ich erinnere mich wie stolz ich war, Kühe melken zu können und fand das alles sehr „Israeli“. Ich genoss den Kibbuz auch deshalb, weil ich von den noch so kleinen Dingen etwas lernen konnte, obwohl das Leben anfangs sehr beschwerlich und bescheiden war. Als ich gebeten wurde, einen Artikel über meine Kibbuz-Tätigkeit zu schreiben, überschrieb ich diesen mit – ins Deutsche übersetzt – „Ich erlaube dem Federvieh zu gackern“. Diese Überschrift ist Pädagogik! Mir wurde klar, dass man diesen Satz auf die Kindererziehung anwenden kann, der im Kern besagt: Sie können, ja sie müssen selbst entscheiden, was für sie gut und richtig ist. Das ist natürlich eine große Vereinfachung der Beziehung zwischen Eltern, Lehrern und Kindern. Aber im Kern eben richtig, weil miteinander sprechen und alle Fragen stellen zu dürfen zur damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit war.

CF: Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür, wie die Gewichtung zwischen erwachsener Führung und kindlichem Entwicklungsfreiraum stimmig ist?

MGC: Ich erinnere mich an ein schwieriges, impulsives und leicht aggressives Kind – fünf oder sechs Jahre alt – in der Schule, in der ich nach meiner Kibbuz-Zeit unterrichtete. Er beleidigte seinen Lehrer mit den Worten: „Deine Mutter ist eine Hure“ und gebärdete sich unzugänglich, sich dafür zu entschuldigen. Dieses Kind wurde zu mir geschickt. Ich sorgte erst einmal dafür, dass er sich beruhigen konnte und sprach dann mit ihm auf Augenhöhe. Er wusste nicht einmal richtig was eine „Hure“ war, sondern wusste nur, dass es damit jemanden beleidigen konnte. Das Gespräch und die ruhige Atmosphäre sorgten dafür, dass er sich beim Lehrer schließlich entschuldigen konnte.
Mich erinnerten diese und weitere Situationen immer an meinen Vater, denn er war es, der solche Situationen während seiner Lehrtätigkeit oder Erziehung nie als Desaster angesehen hat, sondern versuchte, über Erklärung und Humor diese aufzufangen.
Kinder erwarten eine bestimmte Reaktion, etwas was sie schon vorher erwartet haben wie ein ernstes Wort, eine Strafe, einen Ausbruch an Ärger und Schimpfe. Ich habe versucht, Wege zu finden, die das Unerwartete hervorholen. Ich wollte nicht auf irgendwelchen Prinzipien herumzureiten, sondern immer individuell vorgehen. Die Kinder waren meist erstaunt, regelrecht verdutzt nicht die Reaktion zu erhalten, die sie erwartet hatten. Sie müssen dann auch anders reagieren als das die Verhaltensmühle vorgibt. Meine Erfahrung war, dass ich besser und schneller an die Kinder herankam.

CF: Sie haben darüber und über Ihre eigene Kindheit ein Buch geschrieben...

MGC: Ja, es heißt „Jedes Kind ist mein Einziges”. Es bezieht sich auf meine Kindheit und ich schildere meine Erinnerungen an meine Mutter, Lotte Carlebach, unser Leben und den Alltag in unserem Rabbiner-Haushalt mit neun Kindern. In diesem Buch geht es aber nicht nur um Rückblenden, sondern auch um meine Erfahrungen, die ich in Israel machte, auf den Umgang mit den Kindern meiner Schule, aber auch meinen eigenen vier Kindern.
Das Unterrichten wurde zu meiner Leidenschaft. Obwohl ich erst sehr spät Pädagogik studiert hatte, bekam ich offensichtlich so viel von zuhause mit, dass es bis heute trägt. Meine Eltern waren der Meinung: Die Kindererziehung besteht aus Freiräumen. Erziehen, ja, aber so, dass es die Kinder gar nicht merken. Und wie gesagt – viel Humor mitbringen.

CF: Sie haben Ihre Kinder erwähnt und haben längst viele Enkel. Haben sie sich in deren Erziehung eingemischt, wenn Sie das Gefühl hatten, anders wäre es besser?

MGC: Oh nein, nicht eingemischt, überhaupt nicht. Sie haben ja das weitergeführt, was sie selbst erfahren haben...

CF: Und glauben Sie, dass Ihre Idee von Erziehung noch heute seine Berechtigung hat, in einer sich immer mehr ausdifferenzierten Welt?

MGC: Das ist für mich bis heute eine sehr gute Erziehungmethode! Wissen Sie, in der Pädagogik hat sich viel getan, in meiner Kindheit wurden noch Schläge verteilt, strenge Disziplinierungen vorgenommen, das ist heute eher seltener. Dennoch und das gilt auch noch heute: Aggression ist kein guter Ratgeber. Gewalt produziert Gewalt. Aggressionen müssen anders kompensiert werden, dafür gibt es Sport und anderes.

CF: Was fehlt? Mir scheint, es läuft eine ganze Menge falsch in dieser Welt.

MGC: Es fehlt Humor. Es gibt genug Tragik auf der Welt. Man darf dennoch nicht alles tragisch nehmen, muss Distanz bewahren und Persönlichkeiten ausbilden.


Literatur von und über Miriam Gillis-Carlebach
Weitere Informationen zu Joseph-Carlebach-Institut
German Jewish Cultural Heritage


Abbildungsnachweis:
Header: Miriam Gilles-Carlebach in Hamburg, 2014. Foto: Hans-Juergen Fink
Galerie:
1. Seite des Joseph-Carlebach-Instituts
2. und 3. Buchcover

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