Meinung
Meine 11. Lange Nacht der Museen in Hamburg

Viel habe ich mir vorgenommen – wie immer zu viel. Und schließlich komme ich aus einem ein Quadratkilometer großen Umfeld gar nicht hinaus.
Meine Stationen, sechs an der Zahl, sind kurzweilig, spannend, faszinierend und die Lange Nacht verfliegt auf wundersame und wunderbare Weise.
Es ist sonnig, der Samstagabend angenehm mild und die Innenstadt ist voller Menschen. Zwischen Fußballfans aus Hamburg (dunkelblau) und Hannover (grün/rot) immer wieder ein Pulk von Menschen mit kleinen Heften (hellblau) in den Händen. Magisch angezogen scheinen die Kulturlemminge gen Deichtorhallen zuzustreben. Ich bewege mich in Gegenrichtung und komme mir vor wie ein Gegen-den-Strom-Marschierer.

Identität und Licht
Michael Batz’ Lichtprojektionen von Kamerabildern im Lichthof der Galerie der Gegenwart sind mein Magnet. Verzerrte, langestreckte und im Bildauslauf unschafte Projektionen, aufgenommen von kleinen auf Stativen angebrachten Kameras erinnern an Fotoläden, in deren auf Monitoren im Schaufenster man sich selbst sehen kann wie man sich selbst sieht. Jede Bewegung im Lichthof wird aus allen vier Ecken projiziert und verharrt man einen Moment bewegungslos so sucht sich ein ockerfarbenes Rechteckt das Gesicht des Besuchers und scannt dieses. Je mehr Menschen es im Raum werden und so schneller springt das Rechteck von Gesicht zu Gesicht. Plötzlich wird der Betrachter mit Identitäten konfrontiert – ein sinnvoller Verweis auf die Ausstellung „Photographien“ von Roni Horn im Sockelgeschoss.
Je dunkler es im Lichthof wird, umso deutlicher wird die Dimension seiner Arbeit, denn auch aus den oberen Etagen sind Projektionen zu sehen, allerdings schwächer in der Lichtintensität. Am Ende der Nacht wird Batz viele Stunden Material eingescannter Gesichter zu sichten haben.

Der Roni-Horn-Schock in der Galerie der Gegenwart
Ich bin mir unsicher wie ich tatsächlich kunstkritisch, kunsthistorisch und psychisch drauf bin als ich die Ausstellung der New Yorker Künstlerin betrat, aber schon im ersten Moment bin ich gebannt. Ich behaupte dies ist weder eine Stimmungs- noch eine Zufallsgeschichte! Und natürlich bekommt eine solche Wahrnehmung sofort Schwierigkeiten mit der Objektivierung. Egal, jemand, der so viele Ausstellungen sieht wie ich, erhält ein solches Geschenk selten und da vergesse ich den Journalisten und bin wieder ganz in der Kunst. Fasziniert stehe ich vor den Portrait-Landschaften aus Island, gehe durch die abgedunkelten Räume an Buchseiten aus Zeichnungen, Fotos, Texten und Drucken. Bis ich im Raum „Clowd and Cloun“ (Grey) und „Clowd and Cloun“ (Blue) endgültig die Fassung verliere. (Nein, ich habe mich nicht vertippt, der Titel der beiden Werke ist so richtig, in dekonstruktivistischer Manier à la Derrida, geschrieben.) Auf gegenüberliegenden Wänden begegnen sich rhythmisch unscharf fokussierte Portraits eines Clowns und einer Wolke, die sich sukzessive in der Reihung auflöst.
Schon die Einzelarbeit „Cabinet of“ aus dem Jahr 2001, die ein einzelnes "Cloun"-Bild zeigt ist eindrucksvoll. Es scheint zu verschwimmen, präsentiert ein verwackeltes Gesicht, mit roter Nasenspitze und einem riesigen roten Mund, weiß geschminkter Gesichtsfläche vor weißem Mittel- und Hintergrund. Grimassen, Metamorphosen verzerrt erstarrt verzogen spricht das Werk unsere Gefühlswelten an. Wer ist der Kerl, und um wessen Kabinett handelt es sich? So verschwommen aufgelöst wie der Gesicht, so verwandelt sich auch die Wolke und vergeht im Nichts. So bleibt auch der "Cloun“ als periphere Erscheinung ohne fassbare Identität.
Auch die nächsten Räume sind von überzeugender Stärke. Die Serie "Some Thames" besteht aus Abbildern unterschiedlicher Wasseroberlächen. In Ihnen untersucht die Künstlerin buchstäblich die Idee von begrenzten Dingen, denen eine unbegrenzte Bandbreite an Erscheinungsformen oder Ausdrücken innewohnen.
altDas Thema der Identität (-ssuche, -frage, -findung) ist allgegenwärtig und wirkungsvoll inszeniert. Egal, ob im Werk „a.k.a“, "This is Me, This is You", "You are the Waether" oder „bird“. Vogelköpfe von hinten zu fotografieren; wir erfahren gar nichts über sie, weder ob sie leben oder ausgestopft sind, noch ob es sich überhaupt um Vögel handelt oder nur um gefiederte Attrappen.
Übrigens ein großes Kompliment auch an die Hängung und die Choereographie der Ausstellung die einen weiteren Besuch und eine eigene Rezension wert sind!

Space Ship auf der Kunstmeile
Ein paar hundert Meter die Kunstmeile entlang, zwischen Markthalle und Kunsthaus haben in dieser Nacht auch die kleinen Galerien geöffnet. Die Mikiko Sato Gallery zeigt Werke des in Tokio lebenden Künstlers Yoshiaki Kaihatsu. altEr, der 2004 im japanischen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu sehen war, hat den schmalen Galerieraum in einen Orbit verwandelt. Seine aus Styropor zusammen gesetzten Gebilde, namens „Space Ship“, „Astronaut with Space Probe Spider“ und „The Year we Make Contact“ katapultieren den Besucher in eine fragile Welt. Und der Aspekt des Fragilen beherrscht auch die Diskussionen des Galeriepublikums an diesem Abend: Japan und die Folgen...

Tucholsky, Kästner, Schwitters und Heine
Uwe Friedrichsen ist bestens gelaunt, schon eine gute halbe Stunde vor seiner Lesung in der Freien Akademie, merke ich seine positive Stimmung in unserem kurzen Gespräch. Und in der Tat, Friedrichsen liest „Anna Blume“ von Kurt Schwitters mit einer solchen Bravour, dass das Publikum hingerissen ist und den Präsidenten der Akademie, Armin Sandig, zu dem Ausruf „besser geht es nicht“ hinreißt. Uwe Friedrichsen hat Spaß an den Texten von Brecht, Tucholsky, Fontane, Schwitters, Heine und Kästner und an den Reaktionen des Publikums. Auch er muss immer wieder über das Gelesene Lachen. Seine Stimme trägt die Besucher durch die wohl ausgesuchte Literatur. Nach einer Stunde endet seine Lesung, „ohne roten Faden“ wie er betont, mit Erich Kästners „das Märchen von der Vernunft“. „Aus gegebenen Anlass...“, so Friedrichsen.

Klangraum St. Jacobi
Weil die Schlangen vor der nördlichen- und südlichen Deichtorhalle derartig lang sind, dass ich befürchte kostbare Zeit zu verlieren, gehe ich weiter zur Hauptkirche St. Jacobi. Eine kleine, aber sehr feine Ausstellung zeigt Druckgrafik der Moderne mit dem Titel „Passio – Der Menschen Sohn“. Viele große Namen sind versammelt: Lovis Corinth, Otto Dix, Oskar Kokoschka, Max Slevogt, Karl Schmidt-Rottluff, Max Beckmann und Wilhelm Lehmbruck. Im Kirchenschiff ist die Uraufführung der „Lamentationes“ (Die Propheten warnten Israel. Israel hörte nicht. Jerusalem wurde zerstört, das Volk Israel verschleppt.) von Johann Adolph Hasse zu hören. Der Kirchenraum ist erfüllt von den Singstimmen und dem Orgelspiel der Passionsmusik.

Wunschkonzert im Plenarsaal des Hamburger Rathauses
altSo gut besucht ist der Plenarsaal der Hamburgischen Bürgerschaft nicht so häufig, alle Abgeordnetensessel sind besetzt und mindestens die gleiche Menge Leute stehen im hinten Bereich des Saales. „Scheibes Wunschkonzert – Zwischenrufe ausdrücklich erlaubt“ ist eine musikalische Unterhaltung, zwischen Improvisationstheater, schlagfertiger Comedy und Mitmachaktion. Wunschkonzert ist da ganz wörtlich zu verstehen, Begriffe fliegen dem Frontmann Scheibe zu, der mit Gitarren- und Schlagzeugbegleitung wohl jede Musikrichtung beherrscht und mit viel Witz noch die absurdesten Texte verarbeiten kann. Alles mit Unterstützung des Publikums. Ab und zu dreht Scheibe an einer Scheibe, die wie Glücksrad aussieht und Stilrichtungen von Flamenco, Jazz und Schlager, über HipHop und Folk alles bis Zydeco aufweist. Und da muss dann auch mal der Text eines SPD-Flugblatts, einer Fernsehzeitschrift und eines Einkaufszettels als Schlager herhalten, Hauptsache es folgt ein „Nanä-nana“ als Refrain.
Die Stimmung im ehrwürdigen Rathaus war gelöst und ausgelassen und selbst Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit war bis spät nachts im Stimmungshoch dabei.

Ihr Claus Friede

Fotonachweis:
Header: Claus Friede
bird (Detail), 1998/2007. 10 Fotografiepaare, je 55,9 x 55,9 cm © Roni Horn, Courtesy die Künstlerin u. Hauser & Wirth
The Year we Make Contact (Titelmotiv der Einladungskarte)
Jan Christof Scheibe: Claus Friedealt

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