Meinung

Die Rhapsodie Tzigane für Violine und das klangtechnisch modifizierte Piano forte, das sogenannte Luthéal, die Maurice Ravel im Jahr 1924 komponiert hat, gilt als eines der anspruchsvollsten Werke der gesamten Violinliteratur.

Tzigane ist eine Auftragsarbeit. Die ungarische Geigerin Jelly d’Arányi, eine Nichte Joseph Joachims, der, wie bekannt, Johannes Brahms bei zahlreichen Werken beratend zur Seite stand, hatte das Werk in Auftrag gegeben. Uraufgeführt wurde das lediglich 10-minütige, einsätzige Stück, das im ersten, thematisch weitausgreifenden Teil ganz auf die Violine fokussiert ist, und das eine groß angelegte Improvisation über Ungarisch-Volksliedhaftes ist, in London am 26. April 1924 mit der Nichte Joachims.

 

Sicherlich, es handelt sich um ein Bravourstück. Keine Frage. Wer über das spieltechnische Vermögen verfügt, kann auf der Violine brillieren und Unerhörtes und Ungehörtes zum Erklingen bringen. So dass einem beim Hören und Sehen beides zusehends vergeht. Die Klangvielfalt und Variabilität des Saiteninstruments wird wohl von keiner Komposition – jedenfalls ist mir keine bekannt – derart frappierend entfaltet, wie von dieser Rhapsodie Ravels. Ich möchte sogar so weit gehen, von Schockmomenten zu sprechen, die den mit offenem Mund Lauschenden überwältigen. Und Tränen der Rührung in die Augen treiben, weil es schier unfassbar ist, welche Höhen und Tiefen des Ausdrucks dieses schmale Corpus der Violine in sich birgt. Es schnürt einem – ein in sich widersprüchlicher Moment des Glücks – die Brust zu vor Schmerz und vor Freude.

 

Jetzt kommt freilich das ganz große ABER. Die ausgefuchsteste technische Fertigkeit auf der Violine in der Streich- und Greifhand ist die Conditio sine qua non. Das ist die Basis. Die aber nicht zureichen würde, um den kompositorischen Ausdruckshintergrund, also das musikalisch Eigentliche, zum Erklingen zu bringen. Für dieses Abtauchen in die klangliche Tiefenschicht bedarf es einer hingebungsvollen Sensitivität, der höchsten, angespanntesten Konzentration auf den unentwegt variierenden Stimmungsgehalt der sich zu einem Ganzen fügenden Einzelaspekte, zu der vermutlich nur ganz wenige Virtuosen des Violinspiels in der Lage sind.

 

Denn nun wird es paradox. Es war soeben von angespanntester Konzentration die Rede. Ja, sie ist da, und sie muss da sein. Denn: Musik in ihrer allein würdigen Form ist eine hochernste Angelegenheit. Aber! Sie muss in und trotz ihres sie charakterisierenden Ernstes ein schwebend-leichtes Spielen mit den musikalisch-klanglichen Möglichkeiten des formal-trockenen Notenmaterials sein; sie muss, in ihrem höchsten Ernst, ein das Herz berührendes, beängstigend-befreiendes, beklemmend-eindringliches Spiel der glückhaften Freude sein.

 

„Die Virtuosität solcher Beseelung besteht darin, sich in diesem Elemente (der Komposition, F.-P.H.) mit vollständiger Freiheit zu bewegen – so wie in geistiger Rücksicht die Genialität nur darin bestehen kann, die geistige Höhe des Komponisten wirklich in der Reproduktion zu erreichen und ins Leben treten zu lassen… Denn ein dürftiger Kopf kann keine originellen Kunststücke hervorbringen, bei genialen Künstlern aber beweisen dieselben die unglaubliche Meisterschaft in ihrem und über ihr Instrument, dessen Beschränktheit die Virtuosität zu überwinden weiß und hin und wieder zu dem verwegenen Beleg dieses Siegs ganz andere Klangarten fremder Instrumente durchlaufen kann. In dieser Art der Ausübung genießen wir die höchste Spitze musikalischer Lebendigkeit, das wundervolle Geheimnis, dass ein äußeres Werkzeug zum vollkommen beseelten Organ wird, und haben zugleich das innerliche Konzipieren wie die Ausführung der genialen Phantasie in augenblicklichster Durchdringung und verschwindendstem Leben blitzähnlich vor uns.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

 

Ist das der Anspruch, den auch dieses kleine Stück Musik in sich selbst birgt und per se zur – für den Uneingeweihten zunächst noch ungehörten – Entfaltung bringt, dann braucht es, soll dieser Anspruch real, sprich, hörbar werden, einen Violinisten, der all das in seinem Spiel wirklich werden zu lassen vermag und so die Komposition zu sich selbst führt.

 

Anna Agafia Egholm ist so eine Geigerin! Spür- und sichtbare Fokussierung, also eine höchst konzentrierte Präsenz, gehen bei dieser dänischen Geigerin eine in dieser Form sicherlich ganz seltene Verbindung ein mit dem musikalisch freien Höhenflug des völligen Verschwunden- und Abgetaucht-Seins in die kompositorische Tiefenschicht des vom Komponisten letztlich Intendierten. Ihre hochgradige, in die Gesichtszüge eingegrabene, Konzentration beim Sich-Verlieren in sowohl der Komposition als auch ihrem Instrument ist lediglich die Kehrseite des freien Sich-Aufschwingens in die schier unendliche Vielfalt von teilweise vermutlich noch unerhörten und ungehörten Klangwelten.

 

Und weil diese schwer zu beschreitende Kombination des sich auf den ersten Blick doch eigentlich Ausschließenden vorliegt, überrascht es auch nicht, dass, dies mein YouTube-gestützter persönlicher Eindruck, Anna Agafia Egholm auch als Mensch diese beiden Seiten in sich vereinigt. Ein Mensch der zwei Gesichter, die im Spiel, übertragen gesprochen, zu einer in sich stimmigen Einheit – der Harmonie des Sich-Widersprechenden – verschmelzen. Ihr Gesichtsausdruck im nicht musikalisch vereinnahmten Zustand hat etwas von dem lichtvollen Glanz der kindlichen Unschuld und Unbefangenheit.

 

Sobald sie aber mit ihrem Instrument Zwiesprache hält, wirkt sie in ihrer hebungsvollen Konzentration wie entrückt; wie jemand, der der Welt abhandengekommen ist. Aus diesem Nicht-mehr-Vorhandensein gleich nach dem Verklingen des letzten Tons wieder in die Realität des Banalen zurückzukehren erfordert vermutlich eine größere Kraftanstrengung als jede noch so verwegene Griff- und Streich-Kombination. Denn, wie gesagt, in der relevanten, bedeutungsvollen Musik und ihrer Darbietung liegt der Ernst dem sich darüber entwickelnden frei-leicht-beweglichen Spiel zugrunde, ist sein sich beängstigend, beklemmend, befreiend manifestierender Gehalt.

 

„Denn was ist dieser Klang, der dir Heimweh macht? Und was ist diese Musik, die dich zittern macht und dir den Atem nimmt, als wüßtest du deine Geliebte vor der Tür stehen und hörtest den Schlüssel schon sich drehen? Was ist dieser Akkord, mit dem die wunderliche Musik Ernst macht und dich in die tragische Welt führt, und was ist seine Auflösung, mit der sie dich zurückholt in die Welt heiterer Genüsse? Was ist diese Kadenz, die ins Freie führt?! Wovon glänzt dein Wesen, wenn die Musik zu Ende geht, und warum rührst du dich nicht? Was hat dich so gebeugt und was hat dich so erhoben? Was hörst du noch, wenn die Musik zu Ende ist? Was
ist es?! Gib Antwort! ‚Still!’ Das vergesse ich dir nie.“
(Ingeborg Bachmann)


Anna Agafia Svideniouk Egholm

Weitere Informationen: https://www.kronbergacademy.de/studium/alumni-projekte/alumni-projekte/person/anna-egholm

You-Tube-Videos:
-
Copenhagen Summer Festival 2016: Maurice Ravel „Tsigane” | Anna Egholm. Violine | Miki Aoki: Piano (11:19 Min)

- Around the notes, 10.12.20 – J.C Vanden Eynden & Anna Egholm | MCFestival, Beyond Beethoven (6:55 Min.)

 

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

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