Nelio Biedermann ist mit seinem Roman Lázár ein Bestseller gelungen, der in 28 Sprachen übersetzt werden soll. Dieses Buch ist ein Pageturner, der nicht nur die Leserschaft, sondern auch Buchhändler in ganz Deutschland überzeugt hat: Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2025 wurde das Buch zum „Lieblingsbuch der Unabhängigen“ gekürt.
Nominiert waren rund 250 Titel. Auf der Shortlist standen fünf Bücher. Mehrheitlich entschieden sich die an der Abstimmung Beteiligten für diese „sinnenfroh und verwegen erzählte Geschichte vom Fall einer ungarischen Adelsfamilie im 20. Jahrhundert“. Die Auszeichnung, die seit 2015 vergeben wird, ist der einzige Preis, der ausschließlich durch Stimmen der Buchhändler und Buchhändlerinnen ermittelt wird.
„Lázár“ behandelt die Familiengeschichte einer ungarischen Adelsfamilie, die über mehrere Generationen hinweg bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht. Kurz gesagt: Es ist eine Geschichte, die zu Herzen geht. Ob Personal oder Politisches – in diesem Roman wird alles intensiv beobachtet und eindringlich beschrieben. Nelio Biedermann weiß, wovon er erzählt: Es ist die Geschichte seiner Vorfahren, seiner Familie. Dies alles ist inzwischen dank vieler Interviews und Videos bekannt, die sich dem Phänomen Nelio Biedermann nähern. Die, die sich fragen – wie auch ich –, wie es sein kann, dass ein 22-jähriger Mann schon so lebenserfahren, so weise, lebendig, so kenntnisreich, so faszinierend schreiben kann. Immerhin wissen wir, Nelio Biedermann wurde schon als Gymnasiast vom Kanton Zürich für seinen Roman Verwischte Welt ausgezeichnet, indem Themen wie Verlust, Trauer und die Herausforderungen Jugendlicher in einer verwirrten Welt behandelt werden. Und vor zwei Jahren erschien das Buch Anton will bleiben, das von einem zum Tode geweihten alten Mann erzählt. Lázár ist also kein Romandebüt. Was dieser Roman aber ist: ein literarisches Ereignis, das an große Familienromane wie Thomas Manns Buddenbrooks denken lässt und selbst Vergleiche wie diesen nicht scheuen muss.
Wovon der junge Autor auch erzählt, ob vom Zusammenbruch der österreichischen Monarchie, vom Nationalsozialismus oder von der Sowjetdiktatur – sowohl die Geschichte dieser Familie als auch die politische Ebene fesseln und berühren. Wie macht er das bloß, der Nelio Biedermann? Schon der erste Satz ist ungewöhnlich: Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickte, den er bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten würde. Welcher Satz könnte neugieriger machen auf das, was auf diesen Beginn folgt? Und genau so ist es: Das Buch lässt sich nur mit Bedauern aus der Hand legen. Von Satz zu Satz, von Seite zu Seite verfolgen wir mit immer wieder neu angefachter Neugierde die Handlung, die uns durch die Zeiten treibt, genauso wie sie die Protagonisten durch ihr Leben treibt.
Das Leben dieser Adelsfamilie beginnt standesgemäß in einem Schloss am Waldrand. Und doch schwelt auch hier schon eine unheimliche, bedrohliche Stimmung. Sándor, der frischgebackene Vater des durchsichtigen Kindes Lajos, steht am Fenster, sucht das Unterholz ab. Ihm ist, als hätte er im Dickicht etwas verschwinden sehen. Das Dienstmädchen Ida muss sich übergeben angesichts des bläulichblassen Neugeborenen. Die Mutter des Babys, die sinnigerweise Maria heißt, fühlt sich in die weichen Seidenkissen gebettet […] als wären die Taschen ihrer dunkelblauen Strickjacke mit schweren Steinen gefüllt […] Von nebenan ist das ständige Räuspern ihres verrückten Schwagers Imre zu hören. Imre, der die Nachtstücke von E. T. A. Hoffmann so oft gelesen hatte, dass er darüber verrückt geworden war. Diese atmosphärische Stimmung wird vom Autor immer wieder neu und gekonnt aufgeladen. Sie zieht sich durch das gesamte Buch. Einer solchen Stimmung können und wollen wir uns nicht entziehen.
Wir lernen weitere Familienmitglieder kennen, Vorfahren und Nachfahren. Wir begleiten die Lázárs vom Ende des 19. in das nächste Jahrhundert. Wir erleben mit ihnen den Untergang des Habsburgischen Reiches, das Beben und Bersten alter liebgewordener Gepflogenheiten und Privilegien, den Verlust von Frieden und Freiheit, von Reichtum und Ehre. Wir lesen Märchenhaftes und Grausames, von romantischer Liebe und brutaler Vergewaltigung. Doch auch Humor ist dem Autor glücklicherweise nicht fremd. Vom Glück hält er allerdings nicht viel: Der Schriftsteller richtet sich vor nichts mehr als vor dem Glück, […] denn Schreiben ist Konservieren, Festhalten, Ordnen, das Glück aber meidet die Sprache, entzieht sich den Wörtern, versteckt sich in der Vergänglichkeit und zerfällt, wenn man es zu erklären versucht.
Das Buch hat 60 Kapitel, die ebenso wie die einzelnen Sätze von unterschiedlicher Länge sind. Es ist in diverse Parts eingeteilt, die da heißen: Das Glaskind, Geister, Träume, Schatten, Stimmen, Die Geschwister. Manchmal ist beim Lesen die Jugendlichkeit des Autors zu spüren, stolpern wir über das sprachlich doch noch nicht vollkommen perfekt Formulierte. Da heißt es beispielsweise: Er bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit durchs Leben, die völlig aus ihm selbst heraus zu kommen scheint. Das Wort heraus ist an dieser Stelle überflüssig. Manches ist flapsig formuliert. Aber diese wenigen Irritationen verzeihen wir Lesenden gerne. Wo es doch so viele andere, klug gewählte Formulierungen gibt. Immer wieder werden selbst die monumentalsten Dinge vom Autor in einem einzigen stimmigen Satz auf den Punkt gebracht: Sie (Anm. d. Red.: die Ärzte) waren auch keine Experten. […] Die Experten waren Juden und wurden wie angeordnet in den Gefängnissen gefoltert. Das ist erschütternd in Kürze auf den Punkt gebracht. Abrupte Wendungen sind ein weiterer Kunstgriff des Autors. Das gilt für viele überraschende Elemente.
So erleben wir einen Auftritt Zuckmayers und einen Auftritt Stalins. Die Namen Proust, Ödön von Horváth, Gogol und anderer berühmter Schriftsteller tauchen auf. Eine Verbeugung des jungen Autors vor den großen Vorfahren. Wir Leser und Leserinnen bleiben bis zum Ende des Buches staunend und sind schlichtweg sprachlos vor dieser Sprachmächtigkeit. Wir unterwerfen uns dieser Schreibgewalt, angesichts derer wir machtlos sind, gegen die wir nichts ausrichten können. Selbst dann nicht, wenn wir wollten. Aber warum sollten wir? Schließlich reden wir von einem großartigen Buch und es ist schade, dass es zu Ende ist.
Nelio Biedermann: „Lázár“
Roman. Hardcover.
Rowohlt Berlin
Gebundene Ausgabe und eBook. (Als Hörbuch im Argon Verlag)
336 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0226-1
Weitere Informationen (Verlag)

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