Film
Kreuzweg

Ein verstörendes vielschichtiges Drama von spröder Poesie.
Dietrich Brüggemann schildert die Leidensgeschichte eines jungen Mädchens als moderne Version der Via Dolorosa. Zerbrochen an den strengen Regeln ihres Glaubens, wählt sie den Märtyrertod. Beeindruckend Lea van Acken in ihrer stillen, verzweifelten Entschlossenheit.

Der Satan lauert überall, vor allem im eigenen Herzen. Mit dieser Furcht quält sich die 14jährige Maria Göttler (Lea van Acken) Tag für Tag. Sie und ihre Familie gehören zu einer katholischen Gemeinde radikal konservativer Geistlicher (ähnlich der Piusbruderschaft). Pater Weber (Florian Stetter) bereitet seine Zöglinge auf das Heilige Sakrament der Firmung vor. Maria, zart, blass, ein wenig unscheinbar, ist die beflissenste von allen, weiß auf jede Frage die gewünschte Antwort. Soldaten in Christi Namen sollen sie werden, die Stimme erheben gegenüber den Ungläubigen. Der Priester spricht von großen Gefahren, schweren Aufgaben, erzählt vom mexikanischen Glaubenskrieg der Cristeros in den Zwanziger Jahren, von Kindern, Auserwählten, die schon früh ihre Liebe zu Gott und Kirche unter Beweis stellen durften, als Märtyrer gestorben sind: „Jeder Rosenkranz, den wir beten, stärkt unsere Kampfkraft”. Das Mädchen entschließt sich, ihr Leben Gott als Opfer darzubringen, will so den kleinen Bruder von seiner mysteriösen Krankheit erlösen.

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Dietrich Brüggemann inszeniert die Leidensgeschichte der jungen Protagonistin in vierzehn Kapiteln, benannt und nachempfunden den Stationen des Kreuzwegs Jesu Christi vom Todesurteil bis zur Grablegung. Die Aufeinanderfolge der statischen Aufnahmen aus festem Blickwinkel ohne Schnitte signalisieren Unausweichlichkeit, hermetische Abgeschlossenheit. Die Szenen (Kamera: Alexander Sass), in einer Einstellung gedreht, virtuos komponiert, erinnern an sakrale Tableaus, verfremden christliche Motive wie “Das letzte Abendmahl” von Leonardo da Vinci. Sie berühren durch ihre Nüchternheit, erzeugen eine seltsame Spannung, besondere Konzentration. Brüggemanns Choreographie ersetzt Kamerafahrten, Schwenks, Zooms. Die Welt, die der Regisseur hier entstehen lässt, ist fern kinoüblicher Sentimentalität oder Horrorszenarien, das Thema wird Programm: Entsagung, Demut, Opfer, immer wieder beschworen, prägen auch die Atmosphäre. Der Film richtet sich nicht gegen Religion oder Katholizismus, sondern den Fundamentalismus der Lehre, den Absolutheitsanspruch von Überzeugungen. Politische Indoktrination funktioniert nach genau denselben Mechanismen und darum geht es. In dieser Familie wird die Ideologie über den Menschen gestellt, ist alles durchstrukturiert, bleibt kein Raum für Emotionen oder wirkliche Spiritualität. Das Drehbuch wurde auf der Berlinale mit dem silbernen Bären ausgezeichnet.

Die Mutter (Franziska Weisz) eine tyrannische, selbstgerechte Fanatikerin, fordert von Maria Unterordnung und bedingungslosen Gehorsam. Sie demütigt die fragile Tochter immer wieder, ist sich ihrer Grausamkeit durchaus bewusst, während sie die drei jüngeren Geschwister mit ihren Launen weitgehend verschont. Der Vater (Klaus Michael Kamp) schweigt, wagt keinen Widerspruch, der vierjährige Sohn Johannes hat noch nie ein Wort gesprochen. Manche Kritiker haben mit der Figur der Mutter Schwierigkeiten, zu hart, zu dogmatisch, zu lieblos. Doch es gibt sie diese Frauen, oft sind wir zu sehr in alten Rollenklischees verhaftet, das gleiche Verhalten bei einem Mann würde weniger befremden und nicht als unrealistisch in Frage gestellt. Maria wagt keine Kritik, ihre hilflosen Versuche sich zu verteidigen, erzürnen die herrische Frau nur noch mehr, sie verdreht jedes Wort der Vierzehnjährigen mit boshafter Logik ins Gegenteil, empfindet ein fast perfides Vergnügen daran, Maria zu erniedrigen und systematisch deren Selbstwertgefühl zu zerstören. Die Gebote der Kirche werden hier zum subtilen Psychoterror, der Glaube verbindet nicht, gerät zur unüberwindlichen Barriere: eine wie Maria kann nach Auffassung der Mutter Gott nie gefallen. Die Einsamkeit muss unerträglich für das Mädchen sein, der Tod scheint ihr die einzig mögliche Lösung Buße zu tun.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, heißt es, aber Maria ahnt gar nicht, wer das sein könnte: sie selbst. Sie wurde erzogen zur Selbstverleugnung, zur Selbstgeißelung. Immer wieder werden Opfer eingefordert, überall locken sündhafte Versuchungen, vor denen der Seelsorger gewarnt hat: ein Keks, den man sich doch eigentlich vom Munde absparen könnte, ein eitler Blick in den Spiegel, unsittliche Werbeplakate, obszöne Teenagermagazine. Opfer bedeutet Erlösung, also steht die Protagonistin dort in der hügeligen Landschaft, dankt Gott für den wunderschönen Ausblick, den Blick starr auf den Boden geheftet. Sie versagt sich selbst die Freude an der Natur, ein weiteres Opfer, so wie es ihr befohlen wurde, nur hoffentlich weiß der Herr es zu schätzen. Zitternd verharrt sie im dünnen Blüschen in der Kälte, den Mantel unterm Arm. Frieren: noch ein Opfer für Jesus Christus. Die Familie kommt näher, die Mutter blafft sie an, Maria nimmt den kleinen Bruder auf den Arm, ein kurzer Moment von Nähe, Wärme, schon ertönt wieder die gefürchtete strenge Stimme. Man reißt ihr das Kind aus den Armen. Im Grunde möchte dieses Mädchen nichts Anderes als die Anerkennung ihrer Mutter. Aber die scheint auch dem Zuschauer unerreichbar, unerreichbarer fast als das Paradies. Eigentlich ist Maria nur auf der Flucht, sucht ihren Platz irgendwo, wenn nicht hier, dann in einer anderen Welt. Eine unendlich tragische Figur.

Bernadette (Lucien Aron), das französische Au-Pair, gehört derselben konservativen katholischen Glaubensrichtung an wie ihre Gastfamilie, aber im Gegensatz zu Marias Mutter ist sie warmherzig, verständnisvoll, versucht immer wieder Maria zu helfen, ihr Vertrauen zu gewinnen, doch scheitert sie an der Allmacht der Hausherrin. Auch Christian (Moritz Knapp), ein aufgeschlossener netter Junge aus der Parallelklasse, ist katholisch, will die Mitschülerin zur Chorprobe in seine Gemeinde mitnehmen, dort werden neben Bachkantaten auch Soul und Gospel gesungen. Maria möchte nur zu gerne kommen, lügt die Mutter an, dass eine Freundin sie gebeten hat. Die angeblich ‚satanische’ Musik, eine moderne Glaubensgemeinschaft sind, wie zu erwarten, völlig inakzeptabel, die Situation eskaliert. Am Ende wagt Maria nicht mehr mit Christian zu sprechen, weicht seinem Blick aus, ängstlich besorgt, den sittlichen Normen der Kirche gerecht zu werden. Sie will ihren Weg zur Heiligkeit nicht riskieren für ein paar freundliche Worte. Die Radikalität von Priester und Mutter erinnern an die irischen Ordensschwestern in „Philomena”. Diese Via Crucis wird für den Zuschauer eine Art Gewissenserforschung, unabhängig vom eigenen Standpunkt, ob Atheist oder religiös, hier kann man, ohne den Druck politischer Debatten, Glauben, Katholizismus und die eigenen Überzeugungen überdenken. Nicht alles ist abzulehnen, was der Pater sagt. Dietrich und Anna Brüggemann unterlaufen geschickt jede Art von Klischees, distanzieren sich von trendgemäßer Kirchenschelte. Als Jugendlicher zu lernen, mutig die eigene Meinung auch vor Freunden und Mitschülern zu vertreten, ist wahrlich nicht falsch. Und wer sich für tolerant oder fortschrittlich hält in unserer Zeit, verkennt meist völlig, in welchem Ausmaß er selbst permanent Zwängen und Konformismus ausgesetzt ist. Ob Politik, Wirtschaft, Kultur, Mode und auch grade Journalismus, es geht um Werte, Mainstream und Anpassung. Religiöse Dogmen werden heutzutage von ökonomischen Interessen abgelöst.

Es dreht sich immer wieder um Musik, aber sie erklingt nur einmal kurz beim Sportunterricht. Maria verlangt, dass “die satanischen Rhythmen” abgestellt werden, so wie es der Geistliche von ihr erwartet. Die Mitschüler reagieren mit Spott und Hohn, verständlich. Doch die inquisitorischen Fragen des Priesters bei der Beichte, die rigiden Regeln der Mutter erlauben keine Kompromisse. Vereinzelt kritisierten Journalisten die Dialoge des Film als übertrieben, doch sie entsprechen der Realität. Im Gegenteil, sie sind um vieles weniger demagogisch als jene Rede von Erzbischof Lefebvre am 8. Juni 1985 anlässlich Firmung in der Schule La Péraudière. „Die Päpste wollen nicht mehr, dass es Satan und Hölle gibt,” das ist die Denkart der Pius-Brüder noch heute. Hier herrscht ein Gott, der fordert und straft, dies ist keine Religion, die Trost spendet, Kraft gibt. Bei der Firmung bricht Maria zusammen. Die Mutter versucht die Einweisung ins Krankenhaus zu verhindern, will die Tochter nicht mit dem Arzt allein lassen, fürchtet die Kontrolle der Behörden, denn Kontrolle darf nur sie haben. Maria stirbt. Das ersehnte Wunder geschieht. Dafür liebt die Mutter sie nun, so wie Kinder für ihre Siege bei der Olympiade von den Eltern vergöttert werden. Als Märtyrer selig gesprochen zu werden wie der 14jährige José Sánchez del Rio, der 1928 im Guerra Cristera nach qualvoller Folter getötet wurde, davon hatte das Mädchen geträumt. „Es gibt viele Arten zu glauben”, sagt der Bestatter (Hanns Zischler), “Nein,” entgegnet die Mutter, „es gibt nur eine”. Der Mythos von der alleinseligmachenden Kirche.

„Fundamentale Glaubensvereinigungen können sich in den letzten Jahren über mangelnden Zulauf nicht beschweren,“ erklärt Co-Autorin Anna Brüggemann, die zusammen mit ihrem Bruder auch die Drehbücher für „Renn, wenn Du kannst” und „3 Zimmer/Küche/Bad” schrieb. „Es besteht anscheinend eine Sehnsucht nach unverrückbaren Werten und einfachen Wahrheiten. Was aber tut man einem Kind an, dem man erzählt, ein höheres Wesen könne in jeden Winkel seines Herzens hineinsehen und dort Sünden ausfindig machen. Wie soll eine Heranwachsende in eine Welt hineingehen, wenn sie gelernt hat, dieser nur zu misstrauen. Und nicht nur ihr, sondern auch den eigenen Gefühlen. Ein System, das keine andere Wahrheit gelten lässt, als die eigenen, egal ob es sich um Religion oder Weltanschauliches handelt, ist immer ein Stück weit lebensverneinend.” Katholische Amtsträger stehen seit Jahren im Kreuzfeuer der Kritik, besonders wegen ihrem Umgang mit sexuellen Missbrauch. “Davon wurde genug berichtet,” so Dietrich Brüggemann, “und das Interesse hieran hat immer einen etwas sensationslüsternen Beigeschmack.” Den Missbrauch, den Brüggemanns anprangern, ist der eines starren ideologischen Systems, dessen Erwähltheitswahn an den Nationalsozialismus erinnert.

Die Pius-Brüder, eine Priestervereinigung katholischer Traditionalisten, gegründet 1970 von Erzbischof Marcel Lefebvre, erkennen die Reformbeschlüsse des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965) nicht an. Dazu gehört die Öffnung zur Ökumene, Religionsfreiheit, die damals eingerichteten Bischofskonferenzen, die Anerkennung des Judentums als Heilsweg (Nostra Aetate) sowie die Liturgiereform, die nach eigenen Worten als “modernistisch” abgetan wird. Die radikalen Katholiken der Bruderschaft stehen nicht im Abseits, sondern im Zentrum der Katholischen Kirche. Die Angaben über die Zahl ihrer Gläubigen schwankt zwischen 150.000 und 500.000. 2009 widerrief Papst Benedikt XVI die Exkommunikation der Pius-Bischöfe, was heftige Kontroversen auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche auslöste, da einer von ihnen, Bischof Richard Williamson wiederholt den Holocaust geleugnet hatte. Von der Hass-und-Hetz-Website „kreuz.net“ distanzierten sich alle deutschsprachigen Bischofskonferenzen und auch die Redaktion des Radio Vatikan. Die Verfassungsschutzbehörden hatten das Portal über einen längeren Zeitraum beobachtet, 2012 nahm die Staatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen wegen des Verdachts der Volksverhetzung auf. Am 2. Dezember 2012 wurde „kreuz.net“ abgeschaltet; der Rechner von der österreichischen Staatspolizei beschlagnahmt. Am 24. Oktober 2012 schloss die Pius-Bruderschaft Richard Williamson wegen Ungehorsams als Mitglied aus. Doch Sprache und Botschaft haben sich bis heute nicht geändert. Symptomatisch die Reaktion auf ein Interview von Papst Franziskus in der Jesuitenzeitschrift Civiltà Cattolica. Das kirchliche Oberhaupt hatte sich für eine neue tolerantere Welt ausgesprochen und den Fundamentalisten eine Absage erteilt: Die Schlagzeile von „pius.net“: „Die glaubenslose Welt jubelt und triumphiert- wir aber weinen.” (23. September 2013).

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Originaltitel: Kreuzweg
Regie: Dietrich Brüggemann
Drehbuch: Anna und Dietrich Brüggemann
Darsteller: Lea van Acken, Florian Stetter, Franziska Weisz, Lucie Aaron, Hanns Zischler, Ramin Yazdani, Moritz Knapp
Produktionsland: Deutschland, 2014 Länge: 107 Min.
Verleih: Camino Filmverleih
Kinostart: 20. März 2014


Foto Header: Copyright Dietrich Brüggemann
Galeriefotos:
01. Camino Filmverleih
02-03. Dietrich Brüggemann
04-05. Alexander Sass

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