Film

„Lieber Thomas” erzählt von den umkämpften Welten eines radikal Unangepassten: Thomas Brasch (1945-2001), dem Dichter, Rebellen, Filmemacher, Fabrikarbeiter, Häftling, Frauenhelden, gefeiert und fast vergessen. Sein Leben war eng mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden. In der DDR konnte der Künstler nicht bleiben und im Westen wollte er nicht sein. 
Regisseur Andreas Kleinert und Drehbuchautor Thomas Wendrich kreieren ein magisch suggestives Leinwand-Epos zwischen Traum und Wirklichkeit. In betörenden Schwarz-Weiß-Bildern ist ein frappierendes Porträt über Deutschland entstanden, erschreckend eindringlich und zugleich doch von jener unglaublichen Leichtigkeit, die an Jean-Luc Godards „Außer Atem” erinnert. 


Albrecht Schuch („Fabian oder Der Gang vor die Hunde”) ist grandios als Thomas Brasch, dem permanent Aufbegehrenden, voller Widersprüche und der grenzenlosen Leidenschaft für das Schreiben: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen”, eine der bekanntesten Sätze des Dichters, seit frühster Jugend innerlich zerrissen. Wann begann es? Die Filmemacher versuchen keine Antwort zu geben, „Lieber Thomas” kann nur der Versuch einer Annäherung sein, an den Künstler, den Menschen, sein Werk, seine Kompromisslosigkeit. Der Film beginnt in der Kindheit, eine Landstraße 1956, Vater (Jörg Schüttauf) und Sohn (Claudio Magno) im deutschen Kleinwagen singen irgendetwas herrlich Systemirrelevantes wie: „Wir fahren übern See, übern See”, ein kurzer idyllischer Moment. Die beiden sind auf dem Weg zur Kadettenanstalt der Nationalen Volksarmee in Naumburg.  

Geboren ist Thomas in North Yorkshire, England, als Sohn jüdischer Emigranten. Der Vater baute im Ausland die FDJ auf, die Familie siedelte 47 in die sowjetische Besatzungszone über. Horst Brasch, langjähriger Vertrauter von Honecker, steigt zum Parteifunktionär auf. Thomas gilt als privilegiert, ist von Anfang an ein Außenseiter. Der Film verzichtet bewusst auf solche Eckdaten, greift nur Episoden heraus. Der Junge verträumt irgendwo auf einer Wiese die Zeit, während sich die Kameraden im Wettkampf messen, schlechter abschneiden, weil er sich mal wieder drückt. Das bleibt nicht ungestraft, früh werden die Kadetten brutal auf Disziplin und Denunzieren eingeschworen, und sie reagieren mit Brutalität. Thomas ist nicht der Einzige, der daran verzweifelt, nur er ist wie geschaffen für Widerstand und Rebellion. Sein Berufswunsch Schriftsteller steht schon als Junge fest. Früh lernt er, bitten und betteln nützt bei diesem Vater wenig. Konfrontation ist angesagt. Die scharfen Wortgefechte besitzen ihre ganz eigene Spannung und Dialektik, es geht immer um alles oder nichts. Weltanschauung contra Weltanschauung. Niemals die Gefahr von Klischees oder Glorifizierung. Ganz Unrecht hat Horst Brasch nicht, wenn er glaubt, Schriftsteller könne nur werden, wer die Arbeitswelt kennt. Ob Gefängnis oder Fabrik, sie prägen den Künstler, machen ihn zu dem, was er später ist. Nur was, wenn es der eigene Vater ist, der einen anzeigt? Auf moralische Entrüstung kann der Zuschauer nicht spekulieren, der Protagonist verbittet sich jede Einmischung. 

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Wer damals gelebt hat, nicht im Osten, sondern im Westen, dem kommen die aggressiven Generationsscharmützel unerwartet vertraut vor, das eingespielte Unverständnis auf beiden Seiten, die eitlen selbstbewussten Gebaren einer Jugend, die glaubte, die Rebellion entdeckt zu haben, rhetorisch geschult, immun gegen jede Art von Argumenten. Wendrich ist in Dresden geboren, Kleinert in Ostberlin. „Lieber Thomas” ist einer der wenigen Film über die DDR, dem nicht etwas forciert Provinzielles anhaftet, als müsste jede Minute Unterdrückung, Entbehrung und Diktatur signalisiert werden. Stasi und Volkspolizei sind allgegenwärtig, doch es gelingt ihnen nicht, einen wie Thomas Brasch zu brechen. Er wird schreiben und verrückte Feste feiern mit seinen Freunden. Die Atmosphäre erinnert eher an Paris Mitte der Sechziger, nicht ohne Grund zitieren die beiden Filmemacher Godard, Jean Seberg ähnelt einer von Braschs Eroberungen. Als respektloser, immer aufbegehrender smarter Youngster voll kreativer Energie kommt er bei Frauen an, die Männer bewunderten ihn. Er muss sie nicht verführen die jungen Damen, die sind selbstbewusst genug, um eigenständig zu erobern, was ihnen den Aufwand wert erscheint, wenn auch der Verschleiß an Beziehungen beunruhigend ist.

Gedichte und Gedanken des Künstlers strukturieren die Szenen, bestimmen den Handlungsverlauf. Am eindrucksvollsten die surrealen Traumszenen, am Anfang entwickeln sie sich aus einem Kindermärchen, da irrt der Junge durch das Haus. Die Mutter verschwunden, der Vater verschwunden, niemand mehr da. Auch draußen die Straßen menschenleer, wie ausgestorben, nun gehört sie ihm die Stadt. Das Thema absoluter Verlorenheit kehrt immer wieder, genau wie der Kampf gegen den Vater. Protest und Auflehnung prägen die Aktionen von Brasch. An der Berliner Volksbühne wird die Inszenierung seines Vietnamprogramms „Seht auf dieses Land” verboten, er beginnt an der Hochschule für Film und Fernsehen zu studieren. Im März 68 bringt die Liedermacherin Bettina Wegner den gemeinsamen Sohn zur Welt. Auf der nächsten Party verschwindet das Baby in einem Besenschrank ähnlichem Kabuff. Besuche daheim bei den Eltern enden immer als Desaster. Den Weihnachtsbaum in der Hochschule dekoriert er mit staatsfeindlichen Parolen. Autoritäten sind ihm oft hilflos unterlegen: „Ich bin hier die Dozentin.” „Habe leider nicht den Eindruck, man könnte etwas von ihnen lernen.” Er verletzt mit Genuss, ohne Skrupel. Praktiziert Sex als Bürgerschreck Gehabe. Brasch fliegt von der Filmhochschule wie vorher von der Journalistenschule. 

Der Film bezieht einen Teil seiner Faszination aus jener eloquenten Bösartigkeit des Protagonisten. Als1968 die sowjetischen Panzer durch Prag rollen, protestiert Brasch zusammen mit Freundin Sanda und anderen Studenten mit einer Flugblattaktion in den Straßen von Berlin. Alles fliegt auf, der Rebell braucht ein Alibi, vielleicht keine gute Idee, grade seine Eltern darum zu bitten. Rücksicht kennt er nicht. Der Vater geht Zigaretten holen, wenige Minute später wird Thomas von der Polizei abgeholt. Brasch landet im Gefängnis, wird wegen staatsfeindlicher Hetze zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Nach 77 Tagen Einzelhaft wird er auf Bewährung entlassen und muss im Transformatorenwerk Oberschönweide arbeiten.  Auch diese Szenen haben etwas wundervoll Surreales. Helene Weigl, die Witwe Brechts und eine Cousine von Sandas Vater stellt Brasch im Brecht Archiv ein. Er intensiviert seine schriftstellerische Arbeit, erste Inszenierungen sowie weitere Aufführungsverbote. Wir erleben die Welt aus seiner Perspektive. Die Traumvisionen werden düsterer, bedrohlicher. Die Mutter stirbt. Vergeblich bemüht sich Brasch um eine Veröffentlichung seines Prosabands „Vor den Vätern sterben die Söhne”. Er spricht beim Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker persönlich vor, Weggefährte seines Vaters, der Thomas schon seit dessen Kindheit kennt. Honecker erklärt Brasch, das Volk der DDR sei für seine Prosa „noch nicht reif”. Das Unbeschwerte, das Nouvelle Vague-Feeling, verschwindet. Brasch gehört zu den Unterzeichnern der Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Er stellt einen Ausreiseantrag und verlässt mit der Frau, die er liebt (Jella Haase), die Heimat. Im Westen wird er anfangs bejubelt, dreht mehrere Kinofilme wie „Engel aus Eisen”, wird nach Cannes eingeladen. Doch er lässt sich nicht vereinnahmen, von keinem System, bleibt ein Heimatloser: „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin will ich nicht bleiben / die ich liebe will ich nicht vergessen, aber / die ich kenne will ich nicht mehr sehen”, heißt es in seinem Gedichtszyklus „Papiertiger”. 

„Es geht um einen Künstler, der sich nie angepasst hat, ähnlich einem Pasolini oder Genet. Wenn man ihn umarmen wollte, hat er sich freigemacht”, sagt Regisseur Kleinert in einem Interview. „Er wollte nie so sein, wie andere ihn haben wollten.” Widerstand hat auch etwas Sinnliches, sie machte einen Teil der Anziehungskraft von Brasch aus und der Sechziger Jahre, Aufbegehren als Form des Begehrens, des Begehrt Werdens. „Es ist eine sehr moderne Geschichte in unserer chaotischen komplexen Zeit”, erklärt Kleinert. Es soll keine Dichterbiografie sein, kein Biopic. „Wir behaupten nicht: So war Brasch. Das wäre anmaßend. Es ist ein Erinnern an ihn, ein Nachdenken... Der Film soll wie ein atemloser Ritt durch verschiedene Bewusstseinsebenen sein, bei dem jeder seine eigenen Assoziationen haben kann. Wie eine Überforderung, die beim Sehen sinnliche, nahezu traumähnliche Lust macht.” Brasch drängte auf Veränderung, Jella Haase nennt ihn einen „Systemsprenger. Katarina, der Film lässt das h am Ende weg, der Name Thalbach wird nicht erwähnt. Um keine Frau hatte Brasch je so geworben, war ihr so nahe gewesen. Andreas Kleinert über die Beziehung: „Thomas und Katarina sind Pioniere eines neuen Denkens. In ihrem Fordern, in ihrem Insistieren, in ihrem Wachsein. Ihr rebellischer Geist spricht ganz direkt zu uns. Unsere Film Katarina ist ein Motor, jemand der das Leben greift, der sich nicht verschränkt. Sie umarmt das Leben, die kommt damit zurecht. Ihr Blick ist geerdet, sehr realistisch. Beide sind in ihrer Klugheit und ihrem Talent, sie als Schauspielerin, er als Autor, symbiotisch miteinander verbunden. Was lässt sich Besseres über eine Partnerschaft sagen: Sie motivieren und inspirieren sich gegenseitig, sie halten sich und sie streiten sich, sie hinterfragen und überprüfen ihre Haltung.” 

Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR stirbt der Vater. Nach der Wende kehrt Brasch zurück nach Ostberlin, er konzentriert sich auf sein Prosa Projekt „Mädchenmörder Brunke oder die Liebe und ihr Gegenteil”. Er zieht sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Mehr als 1400 Manuskriptseiten entstanden in dieser Zeit. Verbrechen waren für ihn der Spiegel er Gesellschaft. Thomas Brasch stirbt am 3. November 2001 im Alter von 56 Jahren. Der Film findet ein wundervolles surreales Finale hoch oben im Himmel über Berlin.

 

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„Lieber Thomas”

Regie: Andreas Kleinert

Drehbuch: Thomas Wendrich
Darsteller: Albrecht Schuch, Jella Haase, Ioana Iacob, Jörg Schütauff, Anja Schneider, Marlen Ulonska
Produktionsland: Deutschland 2021
Länge: 150 Minuten
Kinostart: 11.11. 2021
Verleih: Wild Bunch Germany GmbH

 

Trailer: © Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany

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