Film

Unsere Vorstellung vom Weltall versuchte Hollywoods Überwältigungs-Kino Jahrzehnte lang zu dominieren mit männlichem Helden-Pathos und jenem Mythos übermenschlicher Kräfte. Die französische Regisseurin Alice Winocour dagegen schleust uns ein in die Realität der Raumfahrt, ihre Protagonistin ist sich der eigenen Fragilität nur zu bewusst. 
„Proxima - Die Astronautin” berührt als vielschichtiges subtiles Mutter-Tochter-Epos, es erzählt von Träumen, Karriere und schmerzhaften Abschieden, Angst und wie weit sie sich überwinden lässt. Gedreht wurde der Film an Originalschauplätzen wie der European Space Agency (ESA) in Köln und dem Trainingszentrum Swjosdny Gorodok nordöstlich von Moskau. 


Schon als kleines Mädchen wusste Sarah (fantastisch Eva Green), dass sie das All erforschen wollte. Sie setzte sich einen Lampenschirm auf den Kopf und blieb von diesem Moment an ihrem Traum treu. Die junge französische Astronautin arbeitete hart und unablässig an sich, fachlich, physisch und mental. Es ist die Sternstunde ihrer Karriere, als man sie unerwartet für die einjährige Weltraummission Proxima auswählt. Sie wird als erste Frau zum Mars fliegen. Im Training geht sie mit ungeheurer Disziplin an die Grenzen ihres Körpers und ihrer Psyche, und auch noch darüber hinaus. Sarah lernt Emotionen zu kontrollieren und in Extremsituationen zu funktionieren. Alles in ihr ist auf den Augenblick konditioniert, wo sie die Erde verlässt. Nur etwas kann sie nicht trainieren, den Abschied von ihrer achtjährigen Tochter Stella (hinreißend Zélie Boulant-Lemesle). 

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„Fünf, vier, drei, zwei...” Das Zubettgehen der Kleinen als Countdown zum Raketenstart, die alleinerziehende Mutter hat das Weltall zum gemeinsamen Spielplatz erklärt, Stella kennt sich dort bestens aus, aber nun wird, was wie ein abenteuerliches Märchen klang, plötzlich Wirklichkeit. Wenn sie die Mutter bittet, das Licht noch anzulassen, antwortete die mit „Aye, Aye Captain”. Aber Stella ist nicht der Captain, Kinder müssen sich halt oft nach uns Erwachsenen richten, und manchmal kann das verdammt weh tun. Beiden Seiten. Sarah Stimmchen wird dann so leise, fast nur noch ein Flüstern, das Lachen, die Munterkeit sind verschwunden. Thomas, Sarahs Ex-Partner (Lars Eidinger) hat bereitwillig die Erziehung seiner Tochter für dieses Jahr übernommen. Nur leidet der Astrophysiker an einer Katzenhaarallergie, eine Katastrophe für die Kleine, nun muss sie sich auch noch von dem geliebten Haustier trennen. Eine fremde Stadt, eine neue Schule, sie kennt niemanden dort, und ihr Zimmer in der väterlichen Wohnung wirkt seltsam kalt und unfreundlich. Stella ist stolz auf ihre Mutter, doch bis zu diesem Tag haben sie alles geteilt, die Sterne und den Alltag. Stella fühlt sich überrumpelt, verraten, unendlich einsam, versucht ihre Gefühle zu verbergen. Die Spannung zwischen den beiden wächst, je näher der Termin für die Abreise nach Russland rückt. Plötzlich sind sie keine Komplizen mehr, sondern fast so etwas wie Gegner.   

Die ESA weiß um die Probleme, stellt den Kindern von Astronauten einen Psychologen zur Seite. Wenn Wendy Hauer (Sandra Hüller) die Kleine fragt, wie viel Angst sie habe, große Angst oder ein wenig. „Ein wenig”, haucht Stella etwas schuldbewusst, als müsste sie tapferer, furchtloser sein. Noch fremdelt sie, aber irgendwann wird es Wendy sein, der das Kind von ihrer ersten großen Schwärmerei erzählt. Fürsorge abgeben schmerzt, die junge Astronautin spürt eine aufkommende Eifersucht, der innere Zwiespalt wächst, die Angst vor der Entfremdung. Dabei sollte sie einen kühlen Kopf bewahren, die beiden männlichen Crew Mitglieder empfangen sie nicht mit offenen Armen, haben Zweifel, ob die junge Frau dem Druck des Vorbreitungsprogramms standhält. Die Ausbildung der Raumfahrer in Swjosdny Gorodok, auch Star City genannt, ist eine der härtesten. Kann doch schon ein einziger Fehler oder eine Sekunde der Unachtsamkeit im All verheerende Folgen haben „Im Mittelpunkt meiner Filme (Anm. d. Red. „Augustine”, „Disorder”)“, erklärt die Regisseurin, „steht immer die Beziehung zum Körper. Ich wollte die Mutter-Tochter-Beziehung in ihrer physischen Dimension zeigen. Zum Beispiel, wenn sie im Hotelpool schwimmen, wie in einer Fruchtblase. Überdies wollte ich zeigen, dass der menschliche Körper nicht dafür geschaffen ist, irgendwo anders als auf der Erde zu leben: Im Weltraum wächst man 10-15 cm und unsere Atemwege sind nicht für das Leben da oben gemacht. Die intensiven Trainingseinheiten waren die Schnittstellen zwischen dem dokumentarischen Aspekt und meinen filmischen Ansprüchen.” Das Drehbuch schrieb Alice Winocour zusammen mit Jean-Stéphane Bron, es ist aufgebaut wie die Abkapslungsstufen einer Rakete. Der Trennungsprozess von der Erde läuft parallel mit dem zwischen Mutter und Tochter.  Atemberaubend das Nebeneinander von Technik und Emotion auch durch den Soundtrack des japanischen Komponisten Ryūichi Sakamoto („The Revenant“).

Und so folgt ein Abschied dem nächsten. Bei den letzten Begegnungen ist Stella manchmal bockig, manchmal einfach nur still verzweifelt. Die Crew wächst langsam zusammen. Anton (Aleksey Fateev, „Loveless“), der russische Astronaut liest Gedichte von Ossip Mandelstam und ähnelt einem großen sanften Bruder. Der Amerikaner Mike (Matt Dillon, „The House That Jack Built”), der anfangs noch herablassend chauvinistisch auftrat, ist selbst Familienvater, zeigt Verständnis gegenüber Sarahs Konflikten, hilft ihr das Gefühlschaos zu ordnen. In einem langen liebevollen Abschiedsbrief findet sie die richtigen Worte für ihre Tochter. Sie schildert die letzten Tage auf der Erde und beschreibt, wie sie sich während ihrer Reise ins All an alles erinnern wird. Derweil geht Stella mit dem Vater Schlittschuhlaufen, bricht sich beim Radfahren den Arm und lernt neue Freunde kennen. Der Countdown bis zum Abflug läuft. Bevor die Astronauten in Quarantäne müssen, haben sie noch einmal die Chance, sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Doch Stella und ihr Vater verpassen den Flug, als die beiden eintreffen, hat die Quarantäne bereits begonnen. Sarah darf mit ihrer Tochter nur noch durch eine dicke Glasscheibe sprechen. Stella ist traurig, das Versprechen, ihr vor dem Start die Rakete zu zeigen, kann die Mutter kann nicht halten. Doch Sarah beschließt, die Regeln noch ein weiteres Mal für die Tochter zu brechen. Was folgt, sind die berührendsten Szenen des Films. 

Alice Winocour war ähnlich wie ihre Protagonistin schon als kleines Mädchen fasziniert vom Weltraum, heute hat sie selber eine achtjährige Tochter. In „Proxima” versucht sie das All ins tägliche Leben zu bringen, das unendliche Kleine mit dem unendlich Großen zu kontrastieren.
„Sarah ist Heldin und Mutter in einem einzigen Körper. Im Kino,” so die Regisseurin, „werden diese beiden Zustände oft nicht in einer Person gezeigt, als ob Heldin und Mutter unvereinbar wären.... Eine Frau bei der NASA sagte mir, die beste Praxis, um Astronautin zu werden, sei es gewesen, Mutter zu sein. Denn eine Mutter ist ständig multitasking. Eine Trainerin bei der ESA erzählte mir, dass Astronauten sehr stolz über ihre Kinder spreche, während Astronautinnen oft verbergen, dass sie Mütter sind. Als hätten sie Angst ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.... Die Raumfahrt ist eine männliche Umgebung, von Männern für Männern konzipiert. So werden die Raumanzüge auf den Schultern getragen, weil Männer starke Schultern haben, während Frauen mehr Kraft in den Hüften besitzen. Frauen müssen doppelt so hart arbeiten, um Zugang zu dieser Männerwelt zu erhalten.” Die erste Frau im Weltall war übrigens 1963 die Russin Walentina Tereschkowa, sie ist auch die einzige Frau in der Raumfahrtgeschichte, die allein flog. Die Mutter einer Tochter hatte nie vom Weltall geträumt, war eigentlich begeisterte Fallschirmspringerin, aber bei dem Konkurrenzkampf zwischen Ost und West, fürchtete die Sowjetunion, die Amerikaner könnten ihnen zuvorkommen, und hatten sich verstärkt um die Ausbildung von Kosmonautinnen bemüht.

Proxima C Koch Films POSTERIn „Proxima” kann Eva Green („Casino Royale“, „Dark Shadows” ) endlich einmal ihr grandioses schauspielerisches Talent unter Beweis stellen, Kassenhits sorgen für Weltruhm, aber reduzierten sie auf ihre weibliche Attraktivität. Gefühle, Gestik, Mimik waren in jenen oft schablonenhaften Rollen nicht gefragt. Als Sarah verkörpert sie eine Kämpferin, die sich mit dem ihr eigenen Perfektionismus immer weiter antreibt. Gleichzeitig versucht sie beharrlich, in den viel zu kurzen Trainingspausen noch Zeit für ihre Tochter zu finden, die Anrufe nicht zu verpassen, auch wenn sie damit bei den Kollegen aneckt. Die zunehmende Entfremdung zerreißt ihr das Herz, Schuldgefühle quälen sie. Um jeden Preis will sie der Tochter, dem ihr wichtigsten Menschen auf Erden vermitteln, warum sie diese Entscheidung getroffen hat. Die internationale Zusammenarbeit in der Weltraumforschung scheint besser zu funktionieren als die politische. Star City und Baikonur (Kasachstan) wirken mit ihrem Fünfziger Jahre Design und den verblichenen Teppichen auf den ersten Blick antiquiert. „Dennoch sind die Sojus-Raumschiffe derzeit die zuverlässigsten Raketen, um Astronauten ins All zubringen”, erläutert die 45jährige Filmemacherin. „Amerikanische, japanische und europäische Astronauten gehen alle dorthin, weil dort die Technologie am weitesten fortgeschritten ist. Für jeden Raumflug sind ein russischer, ein europäischer und ein amerikanischer Astronaut im Einsatz.” 

Winocour fühlt sich dem sowjetischen Regisseur Andrei Tarkowski und „Solaris” (1972) mehr verbunden als den in artifizieller Opulenz schwelgenden US Blockbustern. Sie ist stolz darauf, an Originalschauplätzen zu drehen: „In Star City filmten wir im Prophylaktorium, wo die Astronauten im wirklichen Leben trainieren. Sie teilten mit uns die Realität ihres Alltags während der Ausbildung. Das erinnerte mich an die griechischen Götter, die einerseits Superkräfte besitzen und gleichzeitig sehr menschliche Schwächen zeigen, mit denen sich jeder identifizieren kann. Wir arbeiteten auch mit männlichen und weiblichen Trainern zusammen. Ich wollte, dass jede Dialogzeile punktgenau ist. Alle was man im Film sieht, basiert auf realen Abläufen bei der ESA, die darauf abzielen, die Widerstandsfähigkeit es menschlichen Körpers für lange Weltraumflüge.” An Winocours Seite wieder Kameramann Georges Lechaptois („Augustine”, „Disorder”). Es sind wundervolle eindringliche leicht poetische Bilder entstanden wie die Rückwärtsaufnahme vom Raketenstart. Diese Szene drehte die Regisseurin und ihr Team nicht in Baikonur, sondern auf dem Rollfeld eines Flughafens in der Nähe von Moskau, wo eine riesige Hebebühne ein Licht ausstrahlt, das nach und nach die Gesichter der Zuschauer beleuchtete, bis die Dunkelheit zurückkehrt wie bei einem richtigen Start. Winocour: „Ein abhebendes Raumschiff erzeugt intensive und auch paradoxe Gefühle: Rausch, Tränen, Gedanken über die menschliche Existenz... Es erinnert ein wenig an den jüdisch-christlichen Glauben, in den Himmel aufzusteigen und verbindet den symbolischen Tod mit einem realen Todesrisiko. Ich habe den Brief nicht erfunden, den die Astronauten für ihre Lieben hinterlassen. Er ist Teil des Raumfahrtprotokolls, das sich aus der Idee ergibt, sein Leben in Ordnung zu bringen, bevor man die Erde verlässt.

Der Blick Stellas beim Raketenstart signalisiert neues Selbstvertrauen, sie ist dem mütterlichen Kokon entschlüpft, Nähe wird von nun an nicht mehr gemessen in Kilometern oder Lichtjahren, sondern allein durch die Gefühle für einander. Wildpferde preschen über die Ebene. Das ist Stellas Welt, während ihre Mutter zu den Sternen aufbricht. 

 

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Originaltitel: Proxima

Regie: Alice Winocour
Darsteller: Eva Green, Zélie Boulant-Lemesle, Lars Eidinger, Matt Dillon, Sandra Hüller
Produktionsland: Frankreich, 2019
Filmlänge: 107 Minuten
Kinostart: 24. Juni 2021
Verleih: Koch Films GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Koch Films GmbH

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