Film

Pablo Larraín kreiert „Ema” als hochexplosiven Mix aus Familiendrama, Tanzperformance, Selbstfindungstrip, Zorn, Zärtlichkeit, Erotik und Feuer. Der chilenische Regisseur bezeichnet das rätselhafte bildgewaltige Puzzle als „eine Meditation über die Mutterschaft”.

Im Gegensatz zu seinen bisherigen Werken wie „Neruda” oder „¡NO!” ist dieser Film keine Autopsie der Vergangenheit, er dreht sich allein um Jugend und Gegenwart, Rebellion und Tabubruch. Ema (Mariana di Girólamo) hat ihren achtjährigen Adoptivsohn den Behörden zurückgegeben, aber ohne ihn kann und will sie nicht leben.

 

Verachtung schlägt der Titelheldin von allen Seiten entgegen. Keiner versucht die junge Tänzerin zu verstehen. Der gemeinsam mit ihrem Partner und Choreographen Gastón (García Bernal Gael) adoptierte kolumbianische Waisenjunge Polo legte ein Feuer im Haus, Emas Schwester ist nun durch die Brandnarben entstellt. Was tun, wenn das Kind den Hund in der Tiefkühltruhe verschwinden lässt? Die Ohnmacht, das Ausmaß eigener Unfähigkeit verwandelt die gescheiterten Eltern in hasserfüllte Gegner: „Du allein bist schuld, dass wir unseren Sohn nicht ausstehen konnten.” Selbst auf der Bühne bekriegen sie einander. Und so trennt sich Ema von Ehemann und Company.

 

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Die fiebrige feministische Avantgarde-Fabel wechselt zwischen Realität und Metaphorik ohne jeden Anspruch auf Chronologie, der Tanz verbindet die visuellen Ebenen. Das Drehbuch schrieb Larraín zusammen mit Guillermo Calderón und Alejandro Moreno. Kulisse wie Mittelpunkt der Performance und Emotionen ist in den ersten Szenen ein riesiger roter Planet, glühend als stände er in Flammen. Der dumpf vibrierende Rhythmus der Trommeln verschlingt alles um sich herum. Die Choreographie erinnert in ihrer Intensität an den israelischen Künstler Ohad Naharin: leidenschaftlich, radikal, von unglaublicher Kraft, explosiv, animalisch, fast martialisch. Unerwartet die Konfrontation mit der Wirklichkeit: Ema fordert mit ungebrochenem Selbstbewusstsein vom Jugendamt ihren Adoptivsohn zurück. Für die zuständige Sozialarbeiterin war jene Entscheidung ein Verbrechen an dem ohnehin schon traumatisierten Kind. Ema fleht, bettelt, will wenigstens mit Polo sprechen, will wissen, wo er wohnt. Keine Chance, der Junge soll in der neuen Familie endlich seinen Frieden finden.

 

Die platinblonde androgyne Heldin wird fortan damit umgehen müssen, dass sie keinen Sohn mehr hat. Und dass Gastón ihr wegen der eigenmächtigen Entscheidung Herzlosigkeit und Verrat vorwirft. Sie verliert ihren Job an der Schule. In den Augen der Kollegen ist sie nach dem Vorfall untragbar. Ganz anders die Kinder selbst, sie hängen an der jungen Frau, die sie lehrt, ihre Körper zu beherrschen ohne Quälerei, Tanz ist hier pure Lebenslust, Freiheit. Von nun an lässt sich Ema wie in einem Rausch aus Verzweiflung und Entschlossenheit treiben, sie tanzt überall, am Hafen von Valparaíso und auf dem Schreibtisch der Scheidungsanwältin, allein oder in der Gruppe mit Gleichgesinnten. Die Girl-Gang bietet Unterstützung und Solidarität. Der Zuschauer verfällt dem elektrisierenden Sound aus Reggae, Hip-Hop, Merengue und lateinamerikanischer Musik. Ob Sportplatz oder Industriegelände, die rebellische Protagonistin macht die Welt zur ihrer Bühne, erkämpft sich ohne Skrupel gesellschaftliche Freiräume. Sie greift zu Flammenwerfer und Schweißermaske: Brennende Ampelanlagen und Fassaden als verschlüsselte Botschaften. Das Feuer genau wie der animalische energiegeladene Stil des Reggaeton Dance, jenem Tanz der Straße und der Hinterhöfe, werden ihr kreatives Element, ihre Waffe. Tabus bricht die junge Rebellin mit wahnwitziger Sinnlichkeit, weder Feuerwehrmann Anibal (Santiago Cabrera) noch Anwältin Raquel (Paula Giannini) können da widerstehen.

 

ema Poster Koch FilmsPablo Larraín schafft mit „Ema” ein melodramatisches radikales Gegenstück zu der Charakterstudie „Jackie” (2017). Und doch, die amerikanische First Lady damals und die chilenische Straßentänzerin heute haben unerwartet viel gemeinsam: Jenen unerschütterlichen Durchsetzungswillen, gekonnt verbergen sie ihre geheimsten Gedanken, stylen sich bewusst als Mysterium. Dem 44jährigen Regisseur gefällt ganz offensichtlich, uns Zuschauer in die Irre zu führen, Fakten sind rar, werden eher beiläufig vermittelt. Sein trickreich strukturiertes Geflecht aus Thriller, Familientragödie, Groteske, Lovestory und Performance gleicht einem suggestiven Tornado (Kamera: Sergio Armstrong). Das Leinwandepos ist wie die Protagonistin kompromisslos, unberechenbar und von berückend destruktiver Schönheit. Sohn Polo (Cristián Suárez) taucht kaum im Film auf, ob Ema zur Mutter taugt, wird nie in Frage gestellt. Unleugbar ist, zwischen ihr und dem stillen Jungen besteht ein unzerstörbares Band. Auch die Beziehung zu ihrem Mann scheint nur dysfunktional, die beiden lieben einander leidenschaftlich, doch der Konflikt überfordert sie. Newcomerin Mariana Di Girólamo besitzt ein phantastisches Gespür für die Rolle, sie gibt dem Film seine Pop-Punk Energie, ihr Tanz spiegelt das gesamte Spektrum an Emotionen während dieser verstörenden Odyssee wider. Niemand ahnt, dass hinter der scheinbaren Spontaneität ein detaillierter kunstvoller Plan steckt. Und ein verblüffendes Finale.

 

Herzlos ist diese Frau bestimmt nicht, sie war selbst fassungslos über ihre Entscheidung, aber Verzicht kann einem Menschen mehr Liebe und Verantwortung abfordern als den Konventionen zu folgen. „Ema” katapultiert uns mitten hinein in den Schmerz, nur langsam löst sich die Titelheldin von ihren Schuldgefühlen. Für Pablo Larraín ist die junge Tänzerin: „...ein Paradigma. Sie ist eine Figur bestehend aus vielen Persönlichkeiten. Sie ist Tochter, Schwester, Ehefrau, Liebhaberin und Anführerin,” erklärt der Regisseur. „Sie ist sehr stark und präsentiert eine markante, schöne Art der Feminität. Sie betreibt einen Individualismus, der auf ihre Umwelt fast unerbittlich und absolut wirken muss. Sie weiß, was sie will und ist überdies auch fähig, alle um sich herum zu verführen und ihr Schicksal selbst zu gestalten. Sie will Mutter sein und eine Familie haben. Vielleicht ist das, was sie am meisten bewegt und motiviert, die Liebe.” Das Interesse am Reggaeton entstand eigentlich erst während der Arbeit. „Ich kann verstehen, warum die gesamte junge Generation Chiles, von der ich im Film erzähle, auf diese Musik abfährt. Reggaeton hat einen Rhythmus, der alles durchdringt, so wie alle starken popkulturellen Elemente. Du bist hier und du bist gezwungen damit zu leben. Es ist eine kulturelle Praxis, die ihre eigene ethische und ästhetische Existenz hat. Sie begann mich immer mehr zu interessieren. Im Moment liebe ich sie fast. ”

 

In seiner Chile-Trilogie, „Post Mortem” (2010), „Tony Manero” (2008) und „¡NO!” (2012) setzte sich Larraín auseinander mit den Jahren der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. „Ema” ist für den politisch engagierten Regisseur: „...ein Zeugnis der heutigen Zeit. Die Leute aus der Generation, die der Film behandelt, sind in diesem Jahrhundert geboren oder gegen Ende des vergangenen, und sie gehören einer neuen Generation an, die ohne Befangenheit zu tanzen weiß. Sie drücken sich durch ihre Körper und durch Musik in einer Art aus, die komplett anders ist, als die meiner Generation. Dies ist meiner erster Film, der im heutigen Chile spielt, in dem ich von einer Generation sprechen, die nicht meine eigene ist. Es war ein sehr erhellender und faszinierender Prozess. ”

 

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Ema

Regie: Pablo Larraín
Drehbuch: Guillermo Calderón, Alejandro Moreno, Pablo Larraín
Darsteller: Mariana di Girólamo, Gael García Bernal, Santiago Cabrera, Paula Giannini
Musik: Nicolas Jaar
Choreographie: José Vidal
Länge: 102 Minuten
Produktionsland: Chile, 2019
Kinostart: 22. Oktober 2020
Verleih: Koch Films GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Koch Films GmbH

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