Film
Niemals Selten Manchmal Immer

„Niemals Selten Manchmal Immer” ist die Geschichte einer Abtreibung. Oder besser die Geschichte zweier Cousinen und ihrer Freundschaft. Es geht um jene Gewalt, die wir Frauen täglich verdrängen und deren Folgen.
Eliza Hittman inszeniert das berührende Coming-of-Age-Drama als Gegenstück zu den romantischen New York Trips lebenshungriger Teenager, eine Annäherung an den Schmerz, die Einsamkeit der Jugend zwischen Enttäuschung und stiller Entschlossenheit. Die amerikanische Regisseurin registriert jede Gefühlsregung, überrascht mit einer neuen subtilen Form des Realismus, intensiv, direkt, und doch unaufdringlich, das Geheimnis der kleinen Gesten in Großaufnahme.


„He’s got the power, he makes me do things I don’t wanna do” singt die siebzehnjährige Autumn (grandios Sidney Flanigan) mit mürrischer Trotzigkeit, eine Folk Version vom Exciters’ Song aus den Sechzigern. Die Bedeutung des Textes kristallisiert sich erst viel später heraus. Unter den Zuschauern des Talentwettbewerbs sind Mitschüler, Freunde, Verwandte, Eltern. Ein Jugendlicher ruft laut „Schlampe”, niemand rügt ihn, keiner reagiert. Autumns Stimme zittert, kippt, droht zu versagen, aber die Siebzehnjährige hält durch, obwohl, wie eine Kämpferin wirkt sie da oben auf der Bühne nicht. Anschließend in der Pizzeria nörgelt die Mutter (Sharon Van Etten) über den Ehemann (Ryan Eggold), warum er das Mädchen nicht lobe, der gibt sich offen feindselig. Autumn steht abrupt auf, packt ihre Jacke, beim Hinausgehen schüttet sie dem Typen, der sie angepöbelt hat, wortlos sein Bier ins Gesicht und verschwindet draußen in der Dunkelheit.

 

„Schlampe”, so wird der Vater mit genüsslicher Zärtlichkeit Tage später daheim die Hündin nennen, während er etwas zu ostentativ deren Fell krault, ironisch herablassend mustert er Gattin und Tochter. Die Autorenfilmerin deutet die verschiedenen Milieus und Konflikte nur an in scheinbar unspektakulären zufälligen kurzen Szenen wie hier aus dem Alltag des provinziell ländlichen Pennsylvanias. Die Kamera von Hélène Louvart konzentriert sich ganz auf die Protagonistin. Die steht vor dem Spiegel, man sieht, sie ist schwanger. Draußen auf der Straße versteckt Autumn sich unter der Kapuze ihres Hoodies, sucht die Anonymität, aber langsam löst sie sich aus dem Kokon. Nahaufnahme einer Herdflamme, eine Sicherheitsnadel wird desinfiziert, vor dem Badezimmerspiegel durchsticht der Teenager sich die Nase, es blutet. Das winzige Piercing ist ein weiteres Signal der Selbstbestimmung.

 

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Die Entscheidung für den Abbruch steht von Anfang an fest, schwierig ist allein das Wie. Autum lässt im örtlichen Schwangerschaftszentrum einen Test machen. Das Personal ist freundlich, nur die Anteilnahme hat etwas Kalkuliertes. Der Herzschlag, so versichert ihr die Ärztin, sei der zauberhafteste Ton, den sie je hören würde, und das Informationsmaterial, was man ihr in die Hand drückt, beschäftigt sich ausschließlich mit Mutterschaft und Adoption. Als Minderjährige darf sie im konservativen Pennsylvania ohne elterliche Zustimmung keinen Abbruch vornehmen lassen. Hilfe von daheim ist nicht zu erwarten. Die Siebzehnjährige googelt Selbstabtreibung, doch weder Pillen noch die Faustschläge auf den Bauch zeigen Wirkung, außer Blutergüssen. Inzwischen ist ihrer Cousine Skylar (Talia Ryer), mit der sie an der Kasse im Lebensmittelmarkt jobbt, klar geworden, was los ist. Letzte Rettung: New York, dort können Teenager auch ohne Erlaubnis der Erziehungsberichtigten abtreiben. Die hübsche Skylar ist extrovertierter, voller Energie, geschickt stibitzt sie dem zudringlichen Chef, einige Dollar-Noten, das reicht grade mal für die Greyhound Tickets und die Gebühr in der Klinik.

 

Es existieren die verschiedensten Formen des Schweigens: als Zeichen der Verbundenheit, Schweigen aus Loyalität, Schweigen als Ausdruck der Verachtung oder aus Furcht. Über die ungewollte Schwangerschaft sprechen die beiden Mädchen nie, zwischen ihnen herrscht ein wortloses Verstehen, selbst wenn eine von ihnen einmal falsch reagiert, es braucht keine Erklärung, schon verziehen. Das schweigende Einvernehmen überträgt sich auf uns. Wir merken anfangs deshalb gar nicht, wie wenige Worte gewechselt werden. Die Kamera übernimmt die Funktion der Dialoge, reflektiert ästhetisch virtuos die Gefühle in all deren Feinheiten. Die Anspannung unserer Protagonistin, ihre Angst ist fast körperlich greifbar, aber man spürt auch den Mut, die Entschlossenheit von Autumn. Skylar packt einen riesigen Koffer, stopft Pullover rein, als würde die Reise ins Ungewisse Monate dauern, das Ungetüm gibt ihrer heimlichen Flucht einen scheinbaren Touch von Normalität. In New York werden sie den sperrigen Koffer durch Häuserschluchten und Unterführungen hinter sich herziehen, Rolltreppen rauf und runter in die Subway Stationen, über Bordsteinkanten zerren, für das Wachpersonal zur Kontrolle auf Counter hieven. Die unbekannte einschüchternde Metropole ist voller Hindernisse, der Koffer als Bürde symbolisch, erinnert er die Protagonistinnen doch an ihren unsicheren Status als Reisende ohne genügend Geld, für ein Hotel reicht es nicht, die Mädchen übernachten in Wartesälen, Diners, Karoke Bars.

 

Vor der Klinik demonstrieren Abtreibungsgegner. „Niemals Selten Manchmal Immer” beobachtet, agitiert nie. Die Ärzte stellen beim Ultraschall fest, die Schwangerschaft ist bereits sehr viel weiter fortgeschritten, man hat Autumn in ihrem Heimatort bewusst belogen, um so den Abbruch zu verhindern. Nun wird der Eingriff komplizierter, sie muss in eine andere Klinik, alle Untersuchungen beginnen wieder von vorn, dort wird die Schwangerschaft eingeleitet, eine Nacht muss vergehen, eine Nacht draußen in der Kälte, bevor der eigentliche Abbruch erfolgen kann. Man fragt man die Patientin, ob sie auch wirklich eine Unterkunft hat. Hilfe annehmen außer von ihrer besten Freundin, damit tut sich das verschlossene Mädchen schwer. Nein, sie braucht nichts, alles okay. „Okay”, so lautet ihre Standardantwort. Zugeben, dass sie keinen Cent mehr besitzt, noch nicht mal mehr ein Ticket für die Heimfahrt, wäre für sie unmöglich. Eigentlich ist sie ja krankenversichert, aber dann würden ihre Eltern von der Abtreibung erfahren. Also schweigt sie. Aus Angst. Diese Odyssee nonverbaler Poesie nimmt ständig unerwartete Wendungen, irgendwie befürchten wir immer das Schlimmste, und auch wenn es nicht eintritt, schon taucht ein neues Problem auf. Die toxischen Männerblicke sind omnipräsent, daheim war es der Chef, der ungefragt ihre Hände küsste, Skylar setzen unliebsame Verehrer zu, ob daheim an der Kasse des Lebensmitteladens oder nun im Bus auf der Fahrt durch postindustrielle Landschaften, wo ein Youngster gnadenlos insistiert, bis er endlich die ersehnte Handy-Nummer kriegt. In den labyrinthischen Tunneln nähert sich ein masturbierender Mann. Autumn und Skylar wirken auf uns unendlich schutzlos, dieser riesige Moloch New York droht sie zu verschlingen, auch wenn die beiden Teenager sich durchaus zu verteidigen wissen. Die Furcht bleibt, unsere Phantasie ist geprägt durch John Schlesingers „Midnight Cowboy” (1969) und Martin Scorseses „Taxi Driver” (1976).

 

Skylar ist um vieles abenteuerlustiger als ihre Cousine, Geld haben sie keins, warum sich also nicht mit Jasper (Théodore Pellerin) treffen, dem etwas nervigen Jungen aus dem Greyhound, der hat schon etliche SMS geschickt, große Pläne. Notgedrungen willigt Autumn ein, seltsam jenes New York, das sich uns da eröffnet. Eliza Hittmans Independent Filme über Jugendliche wie „Beach Rats” (2017) und „It Felt Like Love” (2013) entwickeln eine unverwechselbare Sinnlichkeit jenseits des Sexuellen, irgendwo zwischen verlorener Unschuld, Naivität und Erwachsensein. Die Mädchen schlagen die Einladung zum Essen aus, obwohl sie wirklich hungrig sind, stattdessen Bowling und dann in die Karaoke Bar. Den nächsten Morgen nimmt Sklyar es auf sich, den Jungen mit einer Ausrede um das Geld für die Tickets zu bitten, klar bekommt er sein Geld sofort zurück. Erwartet Jaspar eine Gegenleistung dafür? Offensichtlich, die beiden verschwinden, Autumn hockt verlassen neben dem riesigen Koffer, irgendwann macht sie sich auf die Suche. Entdeckt hinter einer Säule die Freundin etwas lustlos mit Jasper knutschend. Langsam nähert sie sich, der Junge kann sie nicht sehen, die Hände der beiden Mädchen gleiten über die Kacheln, berühren sich für einen Moment. Die winzige verstohlene Liebkosung steht für jene bedingungslose Freundschaft als Teenager, als wir Mädchen für einander durch dick und dünn gingen, nie fragten, was vernünftig sei.

 

„Niemals Selten Manchmal Immer”, Multiple Choice Fragen der Betreuerin vor dem Eingriff. Sie beziehen sich auf Gewalt in all ihren Schattierungen. Dieses Mal kann sich Autumn nicht hinter Schweigsamkeit oder ihrem „Okay” verschanzen. Eine Frage und dann wiederholt die Betreuerin, dargestellt von einer Sozialarbeiterin, jedes Mal langsam „Niemals Selten Manchmal Immer”. Autumns Augen füllen sich mit Tränen. Die Worte treffen auch uns, dort wo es am meisten weh tut, der sanften Stimme kann man sich nicht entziehen und plötzlich taucht die Erinnerung auf an all die Momente, wo wir geduldet haben, was wir eigentlich nicht wollten oder sollten. Es endete nicht immer mit einem blauen Auge, gebrochenen Rippen, Schwangerschaft oder der großen Verzweiflung, aber wir geben nach, vergessen, verdrängen, wer will schon sein Selbstbewusstsein riskieren. #MeToo, da denkt man an übergewichtige alte weiße Männer, die ihre Machtposition ausnützen, was mehr schmerzt, ist doch der Missbrauch, von dem, in den wir uns verlieben, dem wir vertrauen und uns selbst dabei verlieren. „He’s got the power, he makes me do things I don’t wanna do”.

 

Der Film wurde auf der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und beim Sundance Film Festival mit dem U.S. Dramatic Special Jury Award. Aus den Produktionsnotizen: Auslöser für „Niemals Selten Manchmal Immer” war im Spätherbst 2012 die Nachricht vom Tode Savita Halappanavars, die um die Welt ging. „Bei der in Irland lebenden 28-jährige Zahnärztin kam es während der Schwangerschaft mit ihrem ersten Kind zu schweren Komplikationen, weshalb sie in ein Krankenhaus in Galway eingeliefert wurde. Obwohl sich ihr Zustand rasch verschlechterte, wurde ihre Bitte nach einer Notfallabtreibung abgelehnt. Sie starb am 28. Oktober 2012 an einer Blutvergiftung – eine Woche, nachdem sie sich in Behandlung begeben hatte. „Ich erinnere mich, dass ich über Savita Halappanavar gelesen habe und am Boden zerstört war“, sagt Hittman. „Ich habe mich dann im Internet über die irischen Abtreibungsgesetze informiert und darüber, wie das Verfahren kriminalisiert wurde.“

 

Einigen Frauen blieb nichts Anderes übrig, als für Abtreibungen in Länder zu reisen, in denen das Verfahren legal war. Eines der Bücher, die Hittman damals las, war Ann Rossiters „Ireland’s Hidden Diaspora: The ‚abortion trail‘ and the making of an Irish-English underground, 1980-2000“. Das Buch beschäftigt sich mit dem Hilfsnetzwerk, das entstand, um irische Frauen in England bei der Durchführung von Abtreibungen zu unterstützen. Diese Untergrundbewegung verlor in den 2000er-Jahren an Bedeutung, als das Aufkommen des Internets, überarbeitete englische Gesetze und Billigfluglinien es Frauen ermöglichten, an einem einzigen Tag von Irland nach England und zurück zu reisen

 

Im als „Roe vs. Wade“ bekannten Präzedenzfall von 1973 schrieb der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten das Recht von Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimester fest. Spätere Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs erlaubten es den einzelnen Bundestaaten jedoch, den Zugang zu solchen Verfahren zu beschränken. Neue staatliche Regelungen und die Schließungen von Abtreibungskliniken hatten zur Folge, dass Frauen größere Entfernungen zurücklegen mussten, um einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Als Hittman im Internet Informationen sammelte, stieß sie auf Details, die die Geschichte, die sie erzählen wollte, nachhaltig beeinflussten. „Es gab Artikel über Frauen, die für Abtreibungen nach New York City reisten und dort auf Parkbänken übernachten mussten“, sagt sie. „Die Stadt ist einfach so teuer, dass sie sonst nirgendwo bleiben konnten.“

 

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Originaltitel: Never Rarely Sometimes Always

Regie & Drehbuch: Eliza Hittman
Darsteller: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Ryan Eggold, Sharon Van Etten, Théodore Pellerin, Drew Seltzer, Amy Tribbey
Produktionsland: USA 2019
Länge: 101 Minuten
Verleih: Universal Pictures Germany
Kinostart: 1. Oktober 2020

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Universal Pictures Germany

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