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Film - Wo ist Kyra

„Wo ist Kyra?” schildert den Sturz ins Bodenlose. Für jede Frau ist dieser Film eigentlich eine Qual, alle wohl verdrängten Ängste werden wahr: Mitte Fünfzig, geschieden, den Job verloren, aus dem Wohlstand herauskatapultiert in ausweglose Armut. Verzweiflung, Scham, das Gefühl der Hilflosigkeit, ein New York ohne Freunde, ohne Familie. Und die Männer? Wie werden sie reagieren? Wie die im Film? Wegschauen, peinlich berührt, oder tun, als wäre die Protagonistin unsichtbar?

Die Armut, das Elend nimmt der aus Nigeria stammende Regisseur Andrew Dosunmu als ästhetische Herausforderung. Die stilisierten düsteren Stadtlandschaften reflektieren die Gefühle einer Femme Fatale wider Willen im Kampf gegen die eigene Bedeutungslosigkeit, grandios verkörpert von Michelle Pfeiffer.

Brooklyn abseits der Hipster-Treffs. Finstre dreckige Straßen, nur einzelne wenige Lichter und Neonreklamen. Ob Bars oder schmuddelige Diner, hier sind sie noch um vieles dunkler und hoffnungsloser als auf den Darstellungen von Edward Hopper, aber genau wie dort, sitzt man allein am Tresen, alles signalisiert verzweifelte Einsamkeit, da quält sich eine dicke alte Frau vor Schmerzen gebückt, in viele Schals und Mäntel gehüllt, zitternd an zwei Stöcken durch das regennasse Asphalt-Labyrinth. Dieses Bild kehrt immer wieder. Es ist das eigentliche Thema des Films. Regisseur Andrew Dosunmu beginnt seinen sinnlichen Neo Noir des Untergangs mit einer langen Kamerafahrt, ein Spiegelbild hinter einer halb geöffneten Tür, Kyra (Michelle Pfeiffer) Mitte, Ende Fünfzig, wäscht behutsam ihre alte schwer kranke Mutter in der Badewanne. Die Szenen haben etwas von zufälligen Impressionen und sind doch akribisch komponiert. Die alte Frau bettelt um ein Gläschen Hochprozentiges, dann muss sie wieder an ihr Atemgerät, die Wohnung wirkt düster bedrückend, aber noch ist da so etwas wie Zärtlichkeit, Wärme. Wir sehen die beiden auf dem Weg zur Post, um den Scheck der Behinderten-Rente einzulösen, sie müssen immer wieder halt machen, nein ein Taxi will die Mutter nicht, man sei ja nicht Rockefeller.

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Kyra, geschieden, der Mann hat eine Jüngere, sie verlor ihren Job in Virginia und fand nie wieder einen neuen, wusste keine andere Lösung, zog zu ihrer Mutter, sucht Tag für Tag nach Arbeit, ihr Lächeln, ihre Qualifikation, nichts scheint zu überzeugen ob in Büros oder billigen Restaurants. Man spürt ihre Angst, Unsicherheit, die Depressionen. Sie ist schön, nur eben nicht jung. Alles wird nur kurz angerissen, bestürzend, qualvoll in seiner Ausweglosigkeit und doch so alltäglich. Eines Tages kommt Kyra heim von einer ihrer erfolglosen Bewerbungsgespräche, die Mutter ist tot. Unsere Heldin weint, es ist ein Weinen über alles, was sie verloren hat und alles, was das Leben ihr verwehrt. Sie ist ohne Einkommen, die Rechnungen stapeln sich. Regisseur Dosunmu, ehemaliger Modephotograph, und Kameramann Bradford Young („A Most Violent Year”, „ Arrival”) sezieren Räume und Gegenstände, als könnten sie dort die Ursachen der Agonie entdecken besser als in den Gesichtern der Menschen. Und so verwandeln sich anonyme sterile Korridore in bedeutungsvoll schillernde Arkaden des wirtschaftlichen Abstiegs. Und immer wieder humpelt die dicke alte vermummte Frau eine menschenleere Straße entlang.

Der Stil, die radikale, gewagte Umsetzung von Andrew Dosunmu („Restless City”, „Mother of George”) erinnert an den „Dirty Realism”, ein Begriff, den 1983 Bill Buford vom Literaturmagazin Granta geprägt haben soll. Zu den Vertretern zählen Charles Bukowski, Richard Ford, Cormac McCarthy, Carson McCullers, Jayne Anne Phillips, ihre Protagonisten waren Außenseiter, Kriminelle oder Alkoholiker, an den Anforderungen einer bürgerlichen Gesellschaft Gescheiterte, ohne jeden finanziellen Rückhalt landen sie im sozialen Abseits. Armut verschlingt alle Hoffnung, „Angst essen Seele auf” war der Titel von Fassbinders Love Story zwischen einer sechzigjährigen Putzfrau und dem marokkanischen Gastarbeiter Ali. Es ist als würde Kyra sich selbst verlieren, die Identität löst sich auf, der Regisseur zeichnet die Personen als Schattenrisse, zeigt nur selten Kyras Gesicht in all seiner Qual, meist verschwimmt es in gnädiger Unschärfe. Sie wird an den Bildrand gedrängt, als wäre kein Platz mehr hier auf dieser Welt. Sie verkauft alles, was nicht niet- und nagelfast, da bleibt ihr wenig außer der Flucht in den Alkohol, aber selbst dafür fehlt ihr das Geld.

Es ist eine semi-surreale Choreographie urbaner Finsternis, der fast alle Farben entzogen scheinen, allein das satte Honiggelb von Kyras Mantel erinnert an Jahre wohlbehüteter finanzieller Absicherung. In einer Bar trifft unsere Heldin auf Doug (Kiefer Sutherland), mit Mühe kriegt sie die letzten sieben Dollar zusammen für einen Drink. Er lädt die attraktive Trauernde ein, sie trinken, sie schlafen miteinander, treffen sich von nun an öfter. Der Film hat ein raue, schmerzhaft eindringliche Poesie, selbst Umarmungen sind fern des Glücks, mehr wie das Greifen nach einem Rettungsanker. Doug war beeindruckt, wie liebevoll sich Kyra um ihre Mutter kümmerte, er selbst arbeitet in einem Pflegeheim, doch dann berichtet er ihr erschreckt von einer alten Frau auf der Straße, die Kyras Mutter verblüffend ähnle. Wir ahnen schon länger, was die Protagonistin treibt, sie löst mit dem Ausweis der Mutter die Renten-Schecks ein, der Akt der Verwandlung ist beängstigend und schauspielerisch faszinierend. Als Doug es herausfindet, macht er Schluss. Er hatte sich geschworen, keine schrägen Touren mehr, will für seine Tochter sorgen, auch wenn er sie nie sieht. Seine Ex-Frau soll wieder Achtung vor ihm haben. Doch Kyra hat schon vier Monate ihre Miete nicht gezahlt, sie soll zwangsgeräumt werden. Die Polizei hat Wind von ihren Betrügereien bekommen, Doug will ihr helfen, er liebt sie...

Andrew Dosunmu schreibt in der Director‘s-Note: „Mich hat das Drehbuch (Darci Picoult, Anm.d. Redaktion) vor allem deshalb so fasziniert, weil es sich mit einer tiefen Wahrhaftigkeit seinem Thema nähert: Die Idee, dass wir als Gesellschaft immun zu sein scheinen gegen die Existenzkämpfe der Älteren, der Entrechteten, gegen jene ohne Status, ohne Vermögen und ohne Arbeitsplatz. Viel zu selten sehen wir die Älteren als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft an, wir neigen dazu, ihre missliche Lage zu ignorieren, weil wir viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind. Es liegt auch eine Menge Wahrheit in der Tatsache, dass viele Menschen nur ein einziger Gehaltsscheck vor der Obdachlosigkeit, vor der totalen Verarmung trennt. Hier haben wir es mit einer vergleichsweise jungen Frau zu tun, deren Ehe kaputt ist, der die Lebenslage entzogen wurde und die grade ihren letzten Elternteil verloren hat. Die Welt um sie herum ist zusammengebrochen, und jetzt muss sie irgendwie überleben und dafür ist ihr jedes Mittel recht.” „Wo ist Kyra?” fühlt sich an wie das stilisierte Gegenstück zu dem Sozialdrama „Ich, Daniel Blake” von Altmeister Ken Loach. Der Unterschied: Kyra wehrt sich, sie hat keine Alternativen und der Regisseur will uns nicht rühren, er will uns überzeugen. Wenn alle sie verachten, durch sie hindurch sehen, als gäbe es sie gar nicht mehr, lässt er sie nie aus den Augen, aber hält Distanz, zollt ihr Respekt, gibt der Figur ein wenig verführerische Vintage-Coolness. Michelle Pfeiffer betörte uns in „Gefährliche Liebschaften” und „Die fabelhaften Baker Boys”, aber diese Momente unterdrückten Schmerzens sind intensiver, sie prägen sich ein in unser Gedächtnis, ob wir wollen oder nicht.

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Originaltitel: Where Is Kyra?

Regie: Andrew Dosunmu
Drehbuch: Darci Picoult Story Andrew Dosunmu
Darsteller: Michelle Pfeiffer, Kiefer Sutherland, Suzanne Shepherd
Produktionsland: Großbritannien, USA 2017
Länge: 98 Minuten
Kinostart: 27. Juni 2019
Verleih: Kinostar Filmverleih GmbH

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Kinostar Filmverleih GmbH

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