Film
Chet Baker Born to be blue

Grandios: Ethan Hawke in der Rolle des legendären Chet Baker.
Seine Fans vergötterten ihn, den begnadeten Musiker, als James Dean des Jazz, den Prince of Cool. Die Welt schien dem charismatischen Jazz-Trompeter und Sänger zu Füßen zu liegen. Doch seinem kometenhaften Aufstieg in den 1950er-Jahren folgt der Absturz. Die inneren Dämonen, das Heroin zerstören ihn. Hier setzt „Born to be Blue” ein. Dem kanadischen Regisseur Robert Budreau gelingt etwas Außergewöhnliches, völlig Verblüffendes: ein Film, der sich anfühlt wie Jazz. Das changierende poröse Fantasiegebilde aus Melancholie, Delirium, Todessehnsucht und Überlebenswillen ist seltsam romantisch verfremdet. Die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verschwimmen bis zur betörenden Unkenntlichkeit.

Italien 1966, eine dunkle schmutzige Gefängniszelle, auf dem Boden kauert Chet Baker, er greift nach der Trompete vor sich, sie ist unerreichbar, eine riesige Tarantel kriecht heraus. Sind es die Entzugserscheinungen oder Fieberphantasien, die den Künstler quälen? Immer wieder landet er wegen seines Drogenkonsums im Knast, und immer wieder findet sich jemand, der ihn herausholt. Dieses Mal ist der Retter in der Not ein Hollywood-Produzent. Man will ein Biopic über die bewegte Karriere des attraktiven Star-Junkies drehen. Der Musiker soll sich selbst spielen, und daran findet er Gefallen vor allem wegen Kollegin Jane (Carmen Ejogo), die seine frühere Ehefrau Elaine verkörpert. Die Dreharbeiten sind pure Erfindung, aber tatsächlich nahm zu jener Zeit der berühmte italienische Filmproduzent Dino De Laurentiis Kontakt zu Baker auf, doch das Projekt blieb im Planungsstadium stecken. Aus Kino machte sich der Protagonist des Cool Jazz eh wenig, er unterzeichnete zwar 1955 einen Vertrag mit Gravis für das Kriegsepos „Hell`s Horizon”, stand öfter vor der Kamera, doch als ihm Columbia Pictures einen Sieben-Jahres Vertrag anbot, lehnte Chet Baker ab. Er will Trompete spielen, nichts Anderes.

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Flashback, New York 1954. Der sanfte Rebell ist ein Frauenschwarm und wenn er mit seiner weichen gedämpft lasziven Stimme „My Funny Valentine” ins Mikrophon haucht, sind seine Fans hingerissen. Aber als fast einziger Weißer im Jazz muss er auch noch auf dem Höhepunkt seines Erfolgs von den schwarzen Künstlerpromis viel Spott einstecken, obwohl deren Respekt ihm unendlich viel bedeutet. Gern erzählt er, wie damals Charlie „Bird” Parker einen Trompeter suchte für seine Tour durch Kanada und die Westküste der USA, im Tiffany drängten sich die Musiker zum Vorspielen, aber als er, Chet auftauchte, wurden alle anderen kurzerhand weggeschickt. An diesem Abend sind Miles Davis und Dizzy Gillespie im Birdland. Nach seinem Auftritt fragt der junge Baker Miles, ob es ihm gefallen hat. „Es war süß wie ein Bonbon”, antwortet der Rivale ironisch herablassend und empfiehlt ihm, zurückzukommen, wenn er ein wenig mehr gelebt hätte. Chet murmelt, als die beiden außer Hörweite sind. „Hello Dizzy, hello Miles. Es gibt da eine kleine weiße Katze an der West Coast, die wird Euch verschlingen.”

Jane gibt sich anfangs ostentativ abweisend, sie weiß um den schlechten Ruf des Prince of Cool, versteht nicht, warum die Frauen bei einem wie ihm überhaupt geblieben sind. Irgendwann willigst sie ein, geht mit ihm zum Bowling. Nachts wird Chet auf der Straße zusammengeschlagen, er schuldet seinem Dealer Geld, die Angreifer zertrümmern ganz bewusst den Kiefer: Sie versprechen ihm: „Du wirst nie wieder Trompete spielen”. Das wiederholt auch der Arzt am Krankenhausbett. Einmal erscheint noch sein Manager Dick Bock (Callum Keith Rennie), Boss von Pacific Jazz Records, macht ihm klar, für diese Misere ist allein er selbst verantwortlich. Der Musiker ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Er steht vor dem Nichts, kein Geld, kein Beruf, keine Freunde, verliert seine Wohnung, nur Jane, die er kaum kannte, bleibt an seiner Seite. Sie liebt ihn, er liebt sie mit einer untypischen völlig neuen Ernsthaftigkeit. Die junge Schauspielerin gibt ihm die Kraft, durchzuhalten, keine Drogen, nur Methadon. Die schlecht sitzende Zahnprothese ist eine Tortur, die Schmerzen unerträglich. Aber Chet will nur eins, sein altes Leben zurück und das ist der Jazz und dafür wird er kämpfen. Er sitzt in der Badewanne, versucht der Trompete einen Ton zu entlocken, es ist sinnlos. Das Blut fließt aus dem Mund, auf sein Hemd. Er soll den Gaumen schonen, hat man ihm gesagt, aber beharrlich quält er sich weiter.

„Born to be Blue” ist ein Film im Film, er will alles sein nur kein herkömmliches biographisches Porträt. Reales und Fiktives überlagern sich oder stellen einander in Frage. Der Zuschauer entwickelt in dem traumartigen lyrischen Freiraum ein besonderes Gespür für den fragilen Protagonisten, seine Ängste, seine Genialität, den Trotz, den Starrsinn, seine Arroganz, Egozentrik, den Hang zur Selbstzerstörung. Man begreift wie nie zuvor die Ursachen seines Scheiterns, die Abgründe der Sucht. Je mehr sich Budreau („That Beautiful Somewhere”) im Drehbuch von der Wirklichkeit entfernt, desto näher kommt er der Wahrheit. In seinen Produktionsnotizen schreibt er: „Die Tatsache, dass Chets eigene Erzählung seines Lebens voller Widersprüche und Improvisationen steckt, inspirierte mich dazu, weniger seiner Biographie als seiner Musik und seiner Persönlichkeit treu zu bleiben. Mich erinnert das an Bob Dylan, der ebenfalls seinen eigenen Mythos und seine eigene Identität schuf, was dann sehr clever in dem Film „I’m Not There” von Todd Haynes aufgegriffen wurde.” Tragisch, dass der Jazz-Musiker dort, wo er Anerkennung sucht, sie nicht findet: für die Idole seiner Jugend bleibt Chet Baker ein weißer Emporkömmling. Der Vater, selber ein nur durchschnittlicher Gitarrist, betreibt eine Schweinefarm und wirft ihm vor, wie ein Mädchen zu singen, er sei eine Schande für die Familie.

Jane gibt Chet den Glauben an sich selbst zurück, achtet darauf, dass er die Auflagen seines Bewährungshelfers erfüllt, er muss einen festen Job haben, arbeitet deshalb an einer Tankstelle. Sie wohnen zusammen in einem VW Bulli mit Blick aufs Meer. Der Musiker übt verbissen wie hingebungsvoll Tag für Tag, am Anfang klingen die Töne noch kläglich gequetscht, es braucht ungeheuren Mut, sich dem eigenen Unvermögen immer wieder zu stellen. Dann die ersten Versuche vor Publikum zu spielen, eine Pizzeria mit laienhafter Band, die dem einst legendären Jazz-Trompeter den wohlmeinenden Rat erteilt, doch noch an sich arbeiten, bevor er sich in die Öffentlichkeit wagt. Auch Jane selbst ist eine Fiktion, sie steht stellvertretend für mehrere Frauen im Leben des Prince of Cool, hier in „Born to be Blue” verkörpert sie auf der einen Seite bei den Dreharbeiten die verführerische Femme Fatale, die den jungen Musiker zum Heroin ermuntert: “Hallo Angst, hallo Tod” und auf der anderen Seite die verlässliche, burschikose Freundin an der Seite von Chet, die ihn von den Drogen abhält: „Du hast nie bessere Musik gemacht, als wenn Du clean warst.” Sie bettelt heimlich bei Dick Bock, seinem einstigen Star noch eine letzte Chance zu geben.

Der Titel des Films bezieht sich auf eine Zeile in „My Funny Valentine”, jener Ballade aus dem Broadway-Musical „Babes in Arms” (Premiere 1937), komponiert von Richard Rogers mit Texten von Lorenz Hart. In den Versionen von Chet Baker und Miles Davis wurde sie später zu den beliebtesten Jazzstandards. Um die einzelnen Zeit- und Realitätsebenen von einander abzugrenzen, entschied sich Budreau schon früh dafür, die Szenen der Fünfzigerjahre in Schwarzweiß zu drehen. Dies sollte sie nicht nur vom Rest des Films abheben, sondern auch an die kontrastreichen Fotos und die visuelle Ikonografie erinnern, die das Bild des Jazz zu jener Zeit prägte. Nicht zuletzt die berühmten Aufnahmen, die William Claxton damals von Baker machte, etablierten das Image des ‚James Dean of Jazz’ und brachten die Musikrichtung auch einem weißen (und weiblichen) Mainstream-Publikum nahe. Ein Wagnis war ohne Zweifel die Entscheidung, auf die Originalaufnahmen zu verzichten. „Wir wollten, dass Ethan selbst singt”, erklärt der Regisseur. „Außerdem mussten wir eben darauf achten, dass die Songs zur Erzählung des Films passen. Mit den perfekt abgemischten Studioaufnahmen hätten wir in vielen Fällen nichts anfangen können, denn in den Szenen, wo Chet mühsam an seinem Comeback arbeitet, sollte man ja die Mühe und Schmerzen hören können.”

Der Trompeter Kevin Turcotte klingt wie der legendäre Jazz-Musiker, ohne ihn Note für Note zu imitieren. Er versucht die Art der Improvisation, dessen Ausdruck nachzuempfinden, einzufangen, muss dabei den Stil variieren, fehlerhaft spielen, sich anpassen an die verschiedenen Stadien des Genesungsprozesses, wenn Chet langsam wieder lernt, das Instrument zu beherrschen. Der Sound ist am Anfang noch dünn, schwach, fast tonlos, ohne Klang, gequetscht. Schon seit 20 Jahren träumt Ethan Hawke („Der Club der toten Dichter”, „Before Sunrise”) von dieser Rolle. Das Script erhielt er vier Wochen nach der Beerdigung von Philip Seymour Hoffman. Er starb an einer Überdosis von Kokain und Heroin. Seit frühster Jugend hatte Hawke ihn, das Ausnahmetalent, bewundert. Der Tod des Freundes traf ihn schwer. Sein Schmerz, seine Erschütterung wird nun zur Kraft Chet Bakers. Der Schauspieler selber weigert sich, an die Symbiose von Genie und Rausch zu glauben. Er hat trotz seiner 46 Jahre noch etwas Jungenhaftes, Zerbrechliches. Chets Stimme wird kieksig verzweifelt, wenn er sagt: „Alles was ich will, ist Spielen”. Er ist bereit, jeden Preis dafür zu zahlen. „Born To be Blue” ist sein Schicksal. Die Abstürze der Stars empören, faszinieren die geifernde Menge, obwohl sie eigentlich nur Spiegelbilder von uns selbst sind. Am anrührendsten ist Ethan Hawke im Moment des Scheiterns, verschwitzt, blass, voller Scham, zu erschöpft um enttäuscht von sich zu sein, die Droge ist sein Komplize, er mag sie nicht verraten.

Aber jetzt ist der Protagonist des Cool Jazz clean, er bekommt seine Chance von Dick Bock für ein Comeback, tritt wieder im Birdland auf, dem berühmten New Yorker Jazz Club. Im Saal sind wie damals wieder Miles Davis und Dizzy Gillespie. Chet hat es lange Zeit ohne Heroin geschafft, Jane ist schwanger, er weiß, sie wird ihn verlassen, wenn er sich jetzt einen Schuss setzt. „Heroin gibt mir Selbstvertrauen, es weitet die Zeit, so dass ich in jede Note hineinschlüpfen kann”, gesteht er seinem Manager, der hat ihm ein Fläschchen Methadon gebracht. Aber was ist schon Methadon, wenn Miles Davis im Publikum sitzt. Seine Stimme ist eine andere als damals in den 50er-Jahren, auch das weiß er, vielleicht schwächer, aber intensiver, ernsthafter, der erlittene Schmerz schwingt immer mit, Chet ist unsicher, hat Angst. „I’ve never been in love before, I thougt my heart was safe, I thought I knew the score”. Es ist ein unendliches trauriges Finale. Jane begreift, der Mann dort auf der Bühne singt nicht von ihr und von keiner anderen Frau. Für ihn gibt es nur die Trompete und das Heroin. Für sie ist da kein Platz. Für niemanden. Es zerreißt einem das Herz, auch wenn „Born to be Blue” eigentlich ein Film der gedämpften Emotionen und Farben ist.

Chet Baker starb am 13. Mai 1988 in Amsterdam. Er lag auf der Straße vor seinem Hotel, Passanten fanden ihn. Bei der Autopsie wurden Spuren von Kokain und Heroin in seinem Blut gefunden. Hatte er sich aus dem Fenster im zweiten Stock gestürzt, war es ein Unfall oder Mord? Der Tathergang wurde nie geklärt, die Gerüchte um den Tod sind Teil seines Mythos.

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Originaltitel: Born to be Blue
Regie / Drehbuch: Robert Budreau
Darsteller: Ethan Hawke, Carmen Ejogo, Callum Keith Rennie
Produktionsländer: Großbritannien, Kanada, 2015
Länge: 97 Minuten
Verleih: Alamode
Kinostart: 8. Juni 2017

Fotos & Trailer: Copyright Alamode Film

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