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Ich, Daniel Blake Film

Ken Loach ist 80 Jahre alt und sein Kampfgeist ungebrochen. In „Ich, Daniel Blake” prangert der britische Regisseur den heimischen Sozialstaat an. Akribisch schildert er die Ohnmacht eines arbeitslosen kranken Tischlers gefangen zwischen brutaler Bürokratie und unerträglichen Demütigungen. Es ist der erschütterndste, vielleicht beste Film des Altmeisters.
Ein Drama kafkaesker Dimension voll zornigen Humors, es zerreißt einem fast das Herz (falls man denn eines hat, würde jemand wie Loach ironisch ergänzen). Seine BBC Produktion „Cathy Come Home” löste 1967 im Parlament eine Diskussion über Obdachlosigkeit aus, Gesetze wurden geändert. Doch ob das Schicksal des Daniel Blake heutzutage Politiker zu rühren vermag, scheint fraglich. In Cannes zeichnete die Jury unter Vorsitz von Regisseur George Miller („Mad Max”) den Film mit der Goldenen Palme aus.

Der 59jährige Daniel Blake aus Newscastle (Dave Johns) ist Witwer, Kinder hat er keine, bis zu seinem Herzinfarkt arbeitete er als Schreiner. Der behandelnde Arzt erklärt ihn für arbeitsunfähig, aber bei der zuständigen Behörde gilt er als topfit. Fernmündlich fragt ein Call Center den Gesundheitszustand ab. Ob er die Arme heben kann, als wolle er einen Hut aufsetzen, will man wissen. Könne er auf Tasten drücken wie beim Telefonieren? 50 Meter laufen ohne Hilfe eines anderen? Wohlgemerkt, hier geht es nicht um die Abgrenzung Pflegestufe eins oder zwei, sondern um festzustellen, ob jemand den nächsten Tag beruflich wieder voll einsatzfähig ist. Gegenfragen sind nicht opportun, Blake soll der Unbekannten am Telefon lediglich mit Ja oder Nein antworten. Inkontinent? Anfangs reagiert der Tischler noch leicht amüsiert, irgendwann verliert er die Geduld, zuletzt packt ihn die Wut über die Sinnlosigkeit solcher Prozeduren. Es nützt nichts, seine Sozialhilfe wird gestrichen. Für Arbeitslosengeld ist nur qualifiziert, wer sich aktiv um einen Job bemüht, das heißt 35 Stunden jede Woche. 

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Das historische Politdrama „Jimmy’s Hall” sollte sein letzter Film sein, hatte Ken Loach 2014 verkündet, aber so ganz glaubte er selbst nicht daran. Ein Rebell wie er geht nie in den Ruhestand. Der überzeugte Sozialist setzt sich von jeher für die Unterdrückten und Benachteiligten unserer Gesellschaft ein. Blake ist eigentlich ein robuster, humorvoller Mann, stolz, ehrlich, einer, der immer brav seine Steuern zahlte, zeitlebens gearbeitet hat und auch gerne weiterarbeiten will. Manchmal wirkt er etwas grimmig, wenn er den jungen afrikanischen Nachbarn anblafft wegen der Müllsäcke vor der Haustür. Die Einsamkeit setzt ihm zu. Hilflos steht er der bürokratischen Maschinerie des digitalen Zeitalters gegenüber. Er ist ein qualifizierter Handwerker, nur von Computern hat er keine Ahnung. Seine erste Begegnung mit der Maus endet kläglich. Er schafft es nicht allein, sich durch das Dickicht von Formularen und Bestimmungen zu kämpfen. So sehr er es auch versucht. Von den Angestellten des Jobcenters wird jemand wie Blake unweigerlich als Sozialschmarotzer eingestuft und mit Verachtung gestraft.

Die Zeit für die sogenannten Klienten ist knapp bemessen. Als Sachbearbeiterin Ann (Kate Rutter) dem verzweifelten Blake etwas erklärt, was ein paar Minuten länger dauert, erregt sie sofort den Unmut ihres Vorgesetzten. Alles wird in diesem System sanktioniert insbesondere Menschlichkeit. Bestes Beispiel: Katie (Hayley Squires), 27 Jahre alt, alleinerziehende Mutter. Sie ist neu in der Stadt, hat sich verlaufen, den Bus verpasst und kommt eine halbe Stunde zu spät zu dem vereinbarten Termin. Ihr wird eröffnet, dass es deshalb in diesem Monat kein Geld für sie und die beiden Kinder gibt. Blake steht auf, fragt die Wartenden, ob sie die junge Frau vorlassen, so dass der Termin nicht verfällt. Alle sind einverstanden. Keine Chance. Der Leiter des Jobcenters ist empört über dergleichen Einmischung und lässt Blake von der Security hinauswerfen. Von nun an kümmert sich der Tischler um Katie. Er hilft gerne, kann aber selbst keine Hilfe annehmen, was am Ende fast sein Verhängnis wird. Der Film verzichtet auf jede Art von Sozialromantik oder sentimentalem Pathos. Ken Loach dreht in der Tradition des Neorealismus, gibt seinen Helden jene Würde und Überzeugungskraft genau wie einst Vittorio de Sica („Fahrraddiebe”, 1948) oder Giuseppe De Santis  („Bitterer Reis”,1949). 

„Ich, Daniel Blake” lehrt uns, wie sich Armut anfühlt, wie sie entsteht. Kaum etwas ist schmerzhafter und demütigender als das soziale Abseits. Irgendwann kommt ein Moment im Film, da heult man einfach los. Nichts Spektakuläres im Sinne der Boulevardpresse passiert, eine junge Frau bei der staatlichen Lebensmittelausgabe verzweifelt vor Hunger, reißt eine Dose mit Bohnen in Tomatensauce auf, schlingt den Inhalt runter und bricht vor Scham und Erniedrigung zusammen. Sie hatte sich wochenlang alles für ihre Kinder vom Munde abgespart. Vielleicht begreift der Zuschauer, wie viel Kraft es kostet, ums pure Überleben zu kämpfen in einem Land des Überflusses wie Großbritannien. Oder Deutschland. Alles verkaufen zu müssen wie Daniel, jedes wertlose Möbelstück, nur um etwas zum Essen zu haben oder die Elektrizitätsrechnung zu bezahlen. Nein, unsere Helden haben sich beide nichts zu Schulden kommen lassen. Daniel hat jahrelang neben der Arbeit seine schwer kranke Frau gepflegt, viel verdient hat er wahrscheinlich nie, die Rücklagen sind irgendwann aufgebraucht. Katie ist „ein helles Köpfchen”, wie es Hyley Squires formuliert. Die junge Mutter lebte in London, wollte wieder zur Schule, doch dann hatte sie sich beschwert wegen eines nicht funktionierenden Boilers in der Wohnung, der Vermieter warf sie hinaus. In London kommt das öfter vor, Folge der Gentrifizierung. Die Kommune verfrachtet Katie in ein Obdachlosenasyl, zwei Jahre haust sie dort mit den Kindern. Dann bietet man ihr eine neue Bleibe an, in Newcastle. Katie hat keine andere Wahl, sie kennt dort niemanden. Ihre Familie, ihre Freunde sind in London.

Paul Laverty ist seit 20 Jahren Ken Loachs Drehbuchautor („Sweet Sixteen”, „The Wind That Shakes Barley”). Die ununterbrochene systematische Kampagne der rechten Presse gegen jeden, der auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, genau wie die giftversprühenden TV-Sendungen erregte den Zorn der beiden Filmemacher. „Das meiste davon war krude Propaganda, welche die Not von meist armseligen Figuren genüsslich und lüstern ausbreitete”, erklärt Laverty. „Und noch besser war es, wenn es sich dabei um Alkoholiker handelte, denn dann konnte man ja sicher sein, dass hier Steuergelder verschleudert wurden. Kein Wunder, dass alles zu einer unglaublich verzerrten Perspektive führte. Studien besagen, dass der Normalbürger der Ansicht ist, dass hinter rund 30 Prozent der staatlichen Unterstützung betrügerische Absichten steckt. In Wahrheit sind es nur 0,7 Prozent... Diese manipulierte Verzerrung stimmt perfekt mit der strengen Handhabung der Regierung überein, Sparmaßnahmen im sozialen Bereich wurden ein bevorzugtes Ziel... Nur drei Prozent des Sozialhaushalts gehen an Arbeitslose, während die Älteren, bevorzugt Tory-Wähler, 42 Prozent des Budgets an Renten einfahren.” Die Ineffizienz und Undurchschaubarkeit der bürokratischen Strukturen sei Absicht, davon ist Ken Loach überzeugt: „Das politische Establishment hat Hunger und Armut immer dazu benutzt, damit die Leute aus Verzweiflung die niedrigsten Löhne und die unsichersten Jobs akzeptieren”.

Zwischen Daniel und Katie entsteht vorübergehend eine Art fragiler Solidargemeinschaft voller Träume und übersteigerter Hoffnungen. Schwierig nicht nur wegen des Altersunterschiedes. Die junge Frau macht sich daran, ihrem Haus einen Hauch von Wohnlichkeit zu geben, das ist harte Knochenarbeit. Dan, der älter aussieht, als er eigentlich ist, repariert alles, was im Haushalt anfällt. Er schnitzt zauberhafte Fisch-Mobiles für Daisy und Dylan, verwandelt ihre Zimmer in einen Unterwasserspielplatz. Der Tischler wird auf einen Crashkurs geschickt, wo er lernen soll sich zu vermarkten, dort unter lauter Arbeitslosen wird ihm klar, dass auf jeden Job, 30 von ihnen kommen. Er fühlt sich wie Sisyphos, die Sinnlosigkeit seines Daseins erdrückt ihn. Katie verdient ihr Geld als Prostituierte, sie weiß keine andere Lösung. Dan kann und will es nicht verzeihen. Politisch gesehen ist jene Welt noch grausamer als die von „Cathy Come Home” vor 50 Jahren. „Die Marktwirtschaft hat uns erbarmungslos in dieses Desaster geführt, sie konnte gar nicht anders”, sagt Loach, „Sie erzeugt eine verwundbare Arbeiterklasse, die leicht auszubeuten ist”. Und überall in Europa gibt man den Armen das Gefühl, für ihre Armut selbst verantwortlich zu sein. Der Neorealismus sei in erster Linie ein „moralischer Begriff”, schrieb der französische Philosoph und Literaturkritiker Roland Barthes (1915-1980), der „genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen”.

„Ich, Daniel Blake” funktioniert wie eine Parabel, erinnert schmerzlich an Orwell und Dickens. Die Protagonisten sind fiktional, aber in ihnen verbinden sich die Schicksale unzähliger Betroffener. Laverty schildert die Begegnung mit ihnen bei den Essensausgaben. Die Dauer der Sanktionen von Arbeits- und Sozialamt liegen zwischen einem Monat und drei Jahren: „Zum Beispiel jener Vater, der zur Geburt seines Kindes gegangen war, oder ein Verwandter, der ein Begräbnis besucht hatte. Beide wurden gesperrt, obwohl sie vorab das Amt über ihre Gründe informiert hatten. Buchstäblich Millionen sind bestraft worden. Durch eine simple administrative Entscheidung wurde ihr Leben und das ihrer Kinder in die Hoffnungslosigkeit getrieben. Kriminelle werden humaner behandelt,” so der Drehbuchautor, „die verhängten Bußgelder sind oft niedriger als das, was Anspruchsberechtigte verlieren, wenn sie die Sperre trifft.” Angestellte von Behörden, schrieben den Filmemachern anonym, „wie angeekelt sie sind, weil sie gezwungen werden, Sanktionen durchzuführen. Laverty: „Der Mitarbeiter eines Arbeitsamts zeigte mir einen Ausdruck, der auflistete, wie viele Sanktionen er und seine Kollegen verfügt hatten, zusammen mit einem Schreiben seines Vorgesetzten, der sich darüber beklagt, das nur drei ‚Arbeitsvermittler’ im vergangenen Monat genügend Sperren verfügt hätten.”

Den Auftrag für die medizinischen Untersuchungen hatte in Großbritannien zunächst ein französisches Subunternehmen erhalten. Nach einer Serie von Skandalen übernahm ein amerikanischer Konzern die Aufgabe. Laverty berichtet Grauenvolles davon: „Ein wütender junger Arzt erzählte mir von einem seiner Patienten. Der war todkrank wegen eines Tumors, konnte kaum noch laufen, wurde aber als ‚arbeitstauglich’ erachtet. Eines Tages stürzte er zuhause und verletzte sich am Kopf. Die Ambulanz kam, doch er weigerte sich einzusteigen, weil er am nächsten Tag einen Termin auf dem Arbeitsamt hatte und befürchtete, sanktioniert zu werden. Er starb etwa drei Monate später. Welch unnötigem Kummer und Demütigungen wurde dieser alte Mann in seinen letzten Tagen ausgesetzt.” Doch außerhalb der behördlichen Strukturen gibt es durchaus Solidarität: Der fröhliche afrikanische Nachbar zum Beispiel, der immer vergisst den Müllsack wegzuräumen, hilft Blake bei seinen Exkursionen im Internet. Er findet sich in der modernen globalen Welt gut zu Recht, verdient sein Geld mit falschen Marken-Sneakern aus China, einem viel versprechenden Geschäftszweig, von dem der Tischler wenig hält.

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Originaltitel: I, Daniel Blake 
Regie: Ken Loach  
Darsteller: Dave Johns, Hayley Squires, Dylan McKiernan  
Produktionsland: Großbritannien, Frankreich, Belgien, 2016 
Länge: 101 Minuten
Verleih: Prokino Filmverleih 
Kinostart: 24. November 2016

Fotos & Trailer: Copyright Prokino Filmverleih 

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