Film
Mustang Film Trailer

Hinreißende Widerstands-Saga von verstörender Eindringlichkeit.
„Ein Monster mit fünf Köpfen” nennt Regisseurin Deniz Gamze Ergüven die wunderschönen Heldinnen ihres Debütfilms. Sie sagt es mit Bewunderung. „Mustang” sprengt auf ästhetisch virtuose Weise und mit frappierender Leichtigkeit die Genres: tragische Familienchronik, bizarres Ausbrecher-Epos, feministisches Märchen. Es geht um Unterdrückung, die Willkür des Patriarchats, um Tod, Liebe, eine verlorene Jugend, viele Niederlagen und den unerschütterlichen Willen, nie aufzugeben. Schauplatz: ein abgelegenes Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste.

Lale (Güneş Sensoy) und ihre vier älteren Schwestern wachsen nach dem Tod der Eltern bei Onkel und Großmutter auf. Es ist der letzte Schultag vor den Sommerferien. Die Mädchen laufen mit einigen ihrer Schulkameraden am Strand entlang nach Hause. Sie lachen, kreischen, sind übermütig, unbeschwert, einfach nur glücklich. Die Luft flirrt vor Hitze, Sonnenstrahlen tanzen auf den Wellen. “Komm, lass uns schwimmen gehen,” in ihren Schuluniformen werfen sie sich ins Meer. Auf den Schultern der Jungen sitzend, wetteifern die Schwestern darum, wer sich am längsten über Wasser halten kann. Die weißen Blusen kleben an ihren Körpern. Sie toben wie ausgelassene Kinder. Ihre langen dunklen Haare flattern im Wind. Schon in den ersten lichtdurchfluteten bläulich schillernden Bildern zeigt sich das furiose Talent der türkisch-französischen Regisseurin. Diesen Moment überschäumender Lebensfreude und absoluter Unschuld glaubt der Zuschauer selbst körperlich zu spüren.

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Was Werbung und Tausende von Filmen schon aufwändig in Szene setzten, und was meist nur als unendlich verlogen rüberkommt, hier ist es plötzlich in seiner pursten Form: jenes überwältigende Gefühl von Freiheit und Jugend. Doch das Glück endet abrupt. Eine sittenstrenge Nachbarin hat die Teenager beobachtet und sich beim Onkel beschwert über solch lasterhaftes Treiben. Der konservative Erol (Ayberk Pekcan) rastet aus. Voller Wut stürzt er sich auf die Mädchen, prügelt auf sie ein. “Es war das letzte Mal, das wir alle frei waren, von einem Tag auf den anderen änderte sich alles,” aus dem Off kommentiert die Jüngste der Schwestern, eigentlich noch ein Kind, was nun geschieht. Sie ist die Erzählerin, wir erleben alles aus ihrer Perspektive. Die unverblümten Worte und ungefilterte Wut der Kleinen geben dem Film seinen leicht ironischen unverwechselbaren Zauber ganz ohne Pathos oder Sentimentalität. Lale ist eine exzellente Beobachterin, ihren Augen entgeht kein Detail. Der Onkel konfisziert Handys und Computer, attackiert selbst die Großmutter (Nihal Koldaş): “Wenn die Mädchen entjungfert wurden, bist Du dafür verantwortlich”. Ab geht es zum Arzt, um festzustellen, wie weit “die Schlampen” gegangen sind.

Die Mädchen werden in sackähnliche braune Kleider gesteckt, die Fenster vergittert, die Villa zur Festung ausgebaut. Die Großmutter will keinen Stacheldraht vor ihrer Tür: “Alles ist verbarrikadiert”. Widerspruch ist sinnlos. Aber so schnell geben die Verehrer der Teenager nicht auf, auch wenn der Onkel seine ganz eigenen Pläne hat, ab nun dreht sich alles um die von ihm arrangierten Heiraten. “Unser Haus wurde zu einer Hausfrauenfabrik”, erinnert sich Lale . Die Mädchen dürfen nicht mehr zur Schule gehen, ab jetzt stehen nur Kochen, Putzen, Nähen und Benimmregeln auf dem Stundenplan, selbst der Garten ist verbotenes gefährliches Terrain. Trotzdem gerät “Mustang” nicht zum tristen Sozialdrama, die Kritik am System ist natürlich unmissverständlich und doch scheint die Sonnen weiter, dringt auch durch die Gitterstäbe. Die Schwestern träumen in ihrem düstren Gefängnis von der Freiheit, suchen sich ein unbewachtes Eckchen, wo sie zusammen für ein paar Stunden Strandatmosphäre simulieren: Spärlich bekleidet genießen sie die Wärme der Sonnenstrahlen und ahmen auf dem Trockenen Schwimmbewegungen nach. Ihr roter Plastikball symbolisiert alles, was ihrer Welt verloren ging.

Deniz Gamze Ergüven schrieb das Drehbuch zusammen Alice Winocour. Im Film steckt durchaus Autobiographisches, aber es hatte nie so gravierenden Folgen für die Regisseurin wie für ihre Protagonistinnen. Sie ist die Tochter eines türkischen Diplomaten, der Anfang der Achtziger Jahre mit der Familie nach Paris zog, wo er bei der UNESCO arbeitete. Ergüven ging in Frankreich zur Schule, aber verbrachte auch einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Ankara und den Vereinigten Staaten. Sie studierte Afrikanische Geschichte in Johannesburg und später Regie an der La fémis. “Mustang” wurde als französischer Beitrag für einen Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film nominiert. In Cannes bei den Festspielen waren Zuschauer wie Kritiker begeistert, in der Türkei kam der Film nicht gut weg. Aber auch deutsche Kritiker melden vereinzelt Protest an, die grandiosen sonnendurchfluteten Bilder von David Chizallet und Ersin Gok werden da als Abklatsch der süßlich erotischen Fotographie von David Hamilton empfunden. Das heißt wirklich, die Geschichte verkennen.  

“Mustang” ist Programm Die Mädchen haben alle das ungestüme, zügellose Temperament eines Wildpferdes. Ihre Haare gleichen Pferdemähnen und wenn sie durch das Dorf jagen, wirkt das wie eine Herde in Aufruhr. Energie und rasantes Tempo bestimmen den Film. Lale und ihr vier Schwestern, Nur (Doğa Zeynep Doğuşlu), Selma (Tugba Sunguroglu), Ece (Elit İşcan),  Sonay (Ilayda Akdogan) waren immer schon eng mit einander verbunden, vielleicht wegen des frühen Todes ihrer Eltern. Sie ähneln einander und sind doch grundverschieden. Jede rebelliert auf ihre eigene ganz unverwechselbare Weise. Sie sind unabhängige Individuen und zugleich ein Wesen, der Hydra ähnlich, darin liegt ihre Kraft und auch Sinnlichkeit. Sonay, die Älteste, erreicht es, dass sie ihren Freund heiraten darf. Sie reagiert geschickt auf Drohgebärden mit Gegendruck. Der für sie bestimmte Mann wird an die Nächste weitergereicht. Lece kämpft verzweifelt gegen die Zwangsheirat an,  dafür ist ihr jedes Mittel Recht. Jener neugierige kindlich-altkluge Blickwinkel der Erzählerin stellt eine ungewöhnliche Nähe zum Geschehen her, lässt die Ereignisse selbst Missbrauch oder Selbstmord unwirklicher erscheinen als sie sind, ohne deshalb jemals etwas zu beschönigen. Die Jüngste ist die eigentliche Heldin, sie will nicht in die gleiche Falle tappen wie ihre Schwestern “Sie vereint alle jene Eigenschaften von denen ich immer nur geträumt habe,” sagt die Filmemacherin. Die Darstellerinnen der Schwestern spielen ohne Ausnahme grandios, ob es ans Rebellieren geht oder Sterben.

Das Thema Religion lässt die Regisseurin außen vor, es geht ihr um Selbstfindung und das betörende Geflecht von Beziehungen zwischen den Schwestern. Mut zahlt sich aus, das will “Mustang” vermitteln. Warum sie einen Film über die Türkei gedreht hat? “Die Türkei steckt im Umbruch, einfach alles verändert sich.”, erklärt Deniz Gamze Ergüven. Trotz der zunehmend konservativen reaktionären Kräfte, spürt sie dort “immer noch eine starke Energie, etwas Ungestümes. Man hat das Gefühl mitten in etwas drin zu stecken, was jeden Moment losgehen kann, ganz egal in welche Richtung.” Der ideale Nährboden für Geschichten. Nie zuvor stand dort die Rolle der Frau so stark im Zentrum der öffentlichen Debatte. Jedes Mal, wenn Ergüven in die Türkei zurückkehrt, empfindet sie das Land als “eine Art Korsett”, das sie einengt. “Alles, was mit Weiblichkeit in Verbindung steht, wird oft auf Sexualität reduziert... Es gibt Schulen, die Jungen und Mädchen verbieten, dieselbe Treppe zu benutzen. Manche Schulen bauen deshalb sogar neue Treppen. Das Absurde an dieser Art von Konservatismus ist,”so die 37jährige Regisseurin, “dass man permanent nur von Sexualität spricht. Frauen werden zu Maschinen degradiert. Sie sollen Kinder gebären und zuhause bleiben. Dabei war die Türkei eines der ersten Länder, das in den dreißiger Jahren das Wahlrecht für Frauen eingeführt hat. “

Fünf Mädchen, die eingesperrt werden wie in einen Käfig, erinnert viele automatisch an Sofia Coppolas schwermütig suggestives Werk  “The Virgin Suicides” (1999) aber “Mustang” hat damit nichts tun,” sagt Deniz Gamze Ergüven. Sie zählt eher “Die 120 Tage von Sodom” (1975) von Pier Paolo Pasolini zu ihren Einflüssen. Während sie am Drehbuch schrieb, ließ sie oft nebenbei die DVD laufen. Sie sah sich viele Klassiker zu dem Thema Flucht an wie Robert Bressons “Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen” (1956). Auch wenn “Mustang” in häuslicher Kulisse spielt, ist er für sie dramaturgisch ein Gefängnisfilm. Vor dem Dreh zeigte sie den Mädchen jeden Tag einen anderen Film: “Die Zeit mit Monika” (Ingmar Bergman, 1953), “Deutschland im Jahre Null” (Roberto Rossellini,1948), “Fish Tank” (Andrea Arnold, 2009) und “Das Kind” (2005) von den Brüdern Dardenne. Außerdem gab es für jede Rolle gewisse Vorgaben, Ilayda Akdogan, die Sonay, die Älteste spielte, musste auch “Wild at Heart” (1990) von David Lynch anschauen und viele Filme von Marilyn Monroe, die jenes Schwanken zwischen Unschuld und übertriebener Sexualisierung zeigen.

Während der Dreharbeiten war die Regisseurin schwanger. “Es war ziemlich hart”, erzählt sie. “Wir drehten zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Genau wie die Mädchen war ich in einer sehr zerbrechlichen Verfassung. Das war gar nicht so schlecht, so saßen wir alle im gleichen Boot. Drei Wochen vor der ersten Klappe, als alles startklar war, zog sich die ursprüngliche Produzentin vom Projekt zurück. Das ist, als würde sich der Pilot eines Flugzeugs während Fluges aus dem Staub machen. Es war ein ziemlicher Schock. Alles, wofür ich hart gearbeitet hatte, begann sich in Luft aufzulösen. Letztendlich haben wir noch rechtzeitig einen Produzenten gefunden. Aber dieses Gefühl, am seidenen Faden zu hängen, hat unseren Ehrgeiz nur noch mehr angestachelt.”

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Originaltitel: Mustang
Regie / Drehbuch: Deniz Gamze Ergüven
Darsteller: Güneş Nezihe Şensoy, Doğa Zeynep Doğuşlu, Elit İşcan, Ilayda Akdogan, Tugba Sunguroglu
Produktionsland: Türkei , Frankreich Deutschland, 2015
Länge: 93 Minuten
Verleih: Weltkino Filmverleih GmbH
Kinostart: 25. Februar 2016

Fotos & Trailer: Copyright Weltkino Filmverleih GmbH

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