Bildende Kunst
Detail aus Anne Collier (*1970): Woman Crying (Comic) #8, 2019, C-Print, 126x150cm. Courtesy of the artist; Anton Kern Gallery, New York; Galerie Neu, Berlin; Gladstone Gallery, Brussels; and The Modern Institute / Toby Webster Ltd., Glasgow. © Anne Collier

„Aus aktuellem Anlass“ heißt es immer so schön in den Nachrichten. Aus aktuellem Anlass ist die Ausstellung „Trauern“ in der Hamburger Kunsthalle die Schau der Stunde.
Eine Aktualität, die niemand erahnt und die niemand gewünscht hat. Denn seit der Corona-Virus die Welt fest im Griff hat, sind die Ängste vor Verlust und Veränderung, Trennung und Tod allgegenwärtig. Die von Brigitte Kölle kuratierte Schau mit Werken von 28 Künstler*innen könnte dem einen oder anderen vielleicht helfen, das Corona-Trauma zu verarbeiten. Ab dem 7. Mai 2020 zeigt die opulente Themenausstellung nun wieder, wie unterschiedlich persönliche und kollektive Trauer je nach Kultur und Religion empfunden wird und, dass sie nicht zuletzt auch humorvolle, ja groteske Aspekte bieten kann.


Nein, es ist kein Ausschnitt aus Roy Lichtensteins „Crying Girl“. Das monumentale, stark gerasterte, tränende Auge einer Frau (Woman Crying Comic), das schon von weitem die Aufmerksamkeit auf sich zieht, stammt von Anne Collier, einer US-amerikanischen Künstlerin, die der Appropriation-Art (dt.: Aneignungs-Kunst) zuzuordnen ist. Im Kontrast mit Andy Warhols Schwarz-Weiß-Ikone „Jackie“ (1964), der gefasst und still trauernden Kennedy-Witwe, die den Trauerreigen über zwei Stockwerke eröffnet, transportiert „Woman Crying“ nur hohlen, sentimentalen Kitsch und ein überkommenes Rollenklischee. Das Zitat eines Zitats eines Zitats – echte Trauer sieht anders aus!

Galerie - Bitte Bild klicken

Wie, das zeigen vor allem die Arbeiten kollektiver Trauer von Paul Fusco, Rein Jelle Terpstra und Philippe Parreno. Alle drei bereiten die letzte Reise von Robert F. Kennedy auf, der am 6. Juni 1968, nur zwei Monate nach Martin Luther King, ermordet wurde. Paul Fusco selbst fuhr damals auf dem „RFK Funeral Train“ mit, der am 8. Juni 1968 den Leichnam des Hoffnungsträgers von New York City nach Washington D.C. überführte. Er fotografierte die weinenden, winkenden, salutierenden, starr vor Kummer stehenden Menschen entlang der Gleise, die ihrem Bobby die letzte Ehre erwiesen. Terpstra wiederum lässt in seinem Werk „The People’s View“ die Menschen selbst zu Wort kommen. Seine Augenzeugenberichte, die er bis heute sammelt, treiben einem die Tränen in die Augen. Parreno schließlich stellt in seinem atmosphärisch-dichten Film die Zugfahrt nach, mitsamt der Menschen am Wegesrand. Das alles ist so intensiv und authentisch, dass man die Trauer einer ganzen Nation mit den Händen zu greifen vermeint und selbst unwillkürlich in Melancholie verfällt.

Aber ist Mitleid, ist das Aufwallen eigener Emotionen ein Qualitätsmerkmal dieser Schau? „Wenn uns ein Verlust nicht berührt, sind wir auch nicht liebesfähig“, sagt Kuratorin Kölle. Das mag grundsätzlich stimmen, doch viele der hier gezeigten Arbeiten wirken so grotesk und spielerisch-experimentell, dass man eher belustigt als bekümmert zuschaut. Zu nennen ist da das Hollywood-reife Auftreten des Isländers Ragnar Kjartansson, der die Songzeile „Sorrow conquers happiness“ (dt.: Kummer bezwingt Glück) über 30 Minuten variiert. Oder Rosemarie Trockels Kurzfilm „Manu’s Spleen 1“, der eine junge Frau begleitet, die mit zwei Freunden über den Friedhof spaziert und sich plötzlich in ein offenes Grab, neben einen reglosen Mann legt. Eine Leiche? Oder doch nur ein Schauspieler? Die Frage bleibt offen, doch offene Fragen sind gerade das Spannende an dieser Trauer-Schau, die so viele Facetten und Kapitel umfasst. Angefangen bei der Klanginstallation von der britischen Turner-Prize-Trägerin Susan Philipsz im Lichthof, über die eindringlichen Schmerzbilder von Maria Lassnig nach dem Tod der Mutter, bis nach Afrika, zu den farben- und lebensfrohen, figürlichen Miniatursärgen der Ghanaer.

Jeder wird hier etwas anderes bewegend finden. Für die Autorin waren es – neben dem „Funeral Train“ und Christian Boltanskis immer wieder beeindruckender Porträt-Installation „Les Suisses Morts“ (aus der hauseigenen Sammlung) – vor allem die Bachelor-Arbeit von Greta Rauer und die bearbeiteten Internetfotografien des Syrers Khaled Barakeh. Die eine verarbeitet, sehr zurückhaltend und zart, in ausschnitthaften Pastellzeichnungen den Tod des Vaters. Der andere spiegelt den Wahnsinn der Welt. Barakehs „Untitled Images“ zeigen verzweifelte Männer mit leblosen kleinen Körpern in den Armen. Moderne Pieta-Darstellungen eines sinnlosen, grausamen Krieges. Der Künstler hat die Opfer mit dem Skalpell ausgeschnitten, sodass die Körper nur noch als weiße Schattenrisse erscheinen. Weiß, wie Totenhemden. Weiß, wie Geister. Weiß, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, da die Trauer keine Worte findet.


„Trauern – von Verlust und Veränderung“

ab 7. Mai und verlängert bis 2. August 2020
in der Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, Glockengießerwall.
Geöffnet: Di bis So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr
Booklet zur Ausstellung
Weitere Informationen

YouTube-Video:
- Ragnar Kjartansson: „Sorrow conquers happiness

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.