Literatur
Zhao Jie - Kleiner Phoenix

Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ stellte in ihrer Gesamtheit vor allem eine große Tragödie für das chinesische Volk dar, die bis heute nachwirkt.
Für jene Menschen, die zur Zeit der chinesischen Kampagnen der 1950er- und 60er-Jahre aufwuchsen, bedeutete dies ihre Kindheit und Jugend unter permanenten starkem politischen und propagandistischem Druck verbracht zu haben. Doch die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Land der Mitte gehen unaufhaltsam voran und ändern auch Bewusstsein. Es dauerte für viele der Generation der Kulturrevolution sehr lange, sich aus der Ideologie und den Prägungen befreien zu können – wenn sie dies überhaupt schafften. Die Nachwirkungen sind jedenfalls bis heute in allen gesellschaftlichen Bereichen spürbar.

Die Erlebnisse, Ereignisse und Zusammenhänge aus der Rückschau zu erzählen, das haben so einige chinesische Autoren getan. Alle zusammengenommen ergeben ein kompletteres Bild jener Zeit unter Mao, als uns das die kanonische geprägte Geschichte vermitteln kann.
Die Autorin und Übersetzerin Zhao Jie hat uns mit Ihrem ersten und neuen Roman „Kleiner Phönix – eine Kindheit unter Mao“ ein derartig detailliertes Bild offeriert, dass wir bis in die Kapillargefäße ihrer Kindheit und Jugend vordringen können. Es nimmt uns mit in eine Welt von Emotionen, Angst, glücklichen Momenten und überzeugter Aufopferung. Das Buch packt jeden, denn es schafft es mitfühlen zu lassen, zu hinterfragen und Prozesse des sich Entwickelns nachzuvollziehen. Es erinnert aber auch an unsere eigene Geschichte, an ideologische Verbohrtheit und Wahn, an Massenhysterie und Ausgrenzung der vermeintlich anderen.

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Zum Inhalt heißt es vom Verlag: „Ihre Eltern waren Schauspieler im Dienste der Armee und nie zu Hause. So wuchs die kleine Zhao Jie, genannt Cui, in den frühen 60er-Jahren mit ihrer Großmutter und den Nachbarn in einem engen Hof in unmittelbarer Nachbarschaft zum Platz des Himmlischen Friedens auf. Das Zentrum des Riesenreiches ist ihr Spielplatz, hier lernt sie Fahrrad fahren und schwenkt Papierblumen für die Revolution. Mao wird für das Mädchen zur unerreichbaren Vaterfigur, der sie wie Millionen andere Kinder ihrer Generation gläubig folgt. Ihre Großmutter schenkt ihr die Liebe, Mao ein Lebensideal. Mit neun Jahren trägt sie die ordensgeschmückte Uniform der Rotgardisten. Mit dreizehn marschiert sie bis zum Zusammenbruch. Erst als sie fern von daheim als Erntehelferin in einem armen Bauerdorf lebt, wird ihr klar, dass sie ihre Kindheit einer Lüge geopfert hat.

Zhao Jies erstaunliche Erinnerungen eröffnen einen großartigen und nie gesehenen persönlichen Blick in ein bis heute rätselhaftes Land. Zhao Jies Lebensgeschichte ist ein Dokument des Optimismus und Lebensmutes. Sie erzählt von der Befreiung aus der Unmündigkeit und von kindlicher Liebe, Freundschaft und Kraft, die kein Staat brechen kann.“

Längst lebt die Autorin in Berlin und hat im April diesen Roman veröffentlicht. Claus Friede traf Zhao Jie in Hamburg und sprach mit ihr über das Buch, ihre Kindeheit, die Kulturrevolution und über die Folgen.

Claus Friede (CF): Warum haben Sie Ihren Roman erst heute geschrieben, nach so langer Zeit?

Zhao Jie (ZJ): Den Gedanken, ein Buch über meine Familie zu schreiben, habe ich schon immer gehabt. Deswegen habe ich in der Vergangenheit immer wieder meine Großmutter, meine Eltern und meine Tante befragt. Mein Vater – er starb 1997 – hatte sogar seine Erinnerungen über seine Familie und seine Jugend für mich aufgeschrieben. Das zweijährige Leben in dem kleinen Dorf nahe dem heiligen Ort der Revolution, Yan’an (Provinz Shaanxi), künstlerisch zu einem Roman zu verdichten, ist ebenfalls ein ewiger, nicht wegzutreibender Wusch von mir gewesen. Mitte der Neunzigerjahre habe ich einen Teil der Kindheitserinnerungen auf Chinesisch geschrieben, dann aber beiseite gelegt; 2002 habe ich den Yan’an-Teil auf Deutsch geschrieben. Zwischendurch habe ich immer wieder daran gearbeitet, wenn ich Zeit hatte. Da mein Hauptberuf Übersetzerin ist und ein Auftrag kam, musste ich übersetzen. Anfang 2011 habe ich mir dann aber fest vorgenommen, das Buch, das ich als meine Mission betrachte, endlich zu Ende zu bringen. Ich zog mich für drei Monate an die Ostsee nach Ahrenshoop zurück und schrieb Teil eins auf Deutsch zu Ende und bearbeitete Teil zwei.

Dass ich erst jetzt fertig geworden bin, erkläre ich mir damit, dass ich einen Reifungsprozess durchgemacht habe: Reifung meiner Persönlichkeit und Reifung meiner Sprache. Anfang der Neunzigerjahre, als ich geheiratet und meine Tochter bekommen hatte, musste ich nicht arbeiten. Ich hätte schreiben können. Ich wollte es ja auch. Ich wurde permanent von einer inneren Unruhe getrieben. Ich war unzufrieden mit mir, mit dem Leben. Aber ich konnte dieses Buch noch nicht schreiben, weil ich nicht reif genug war. Obwohl ich Deutsch bereits vier Jahre in China studiert hatte und in Berlin noch mal vier Jahre Germanistik, wäre ich damals trotzdem nicht in der Lage gewesen, dieses Buch auf Deutsch zu schreiben. Erst durch meine Übersetzertätigkeit und durch den langjährigen Prozess der Integration in die deutsche Kultur und Sprache, in das deutsche Leben überhaupt erreichte ich die nötige Reife. Die Verschmelzung mit der westlichen Kultur half mir übrigens auch, über die Vergangenheit Chinas und meine eigene genauer zu reflektieren.

CF: In welcher Sprache denken und schreiben Sie?

ZJ: Vorwiegend Deutsch. Nur wenn ich Tagebuch schreibe, bevorzuge ich Chinesisch.

CF: Haben Sie alles aus der Erinnerung abrufen können oder Tagebuch geführt und somit die Erinnerung vor dem Verschwimmen gerettet?

ZJ: In Yan’an habe ich ein Tagebuch geführt, aber es war nicht ausführlich, eher schemenhaft und voller ideologischer Spuren der Zeit. Zum großen Teil handelt es sich um Erinnerungen. Die Erinnerungen sind immer präsent: Ich sehe meine Großmutter und alle anderen Menschen, die ich beschreibe, vor Augen; ich höre sie reden, lachen, weinen; ich rieche die Gerüche aus der Alte-Türvorhang-Gasse neun in Beijing; ich spüre die Last, die ich im Kleinen Tal in Shaanxi getragen hatte, auf meinem Rücken, auf meiner Schulter; ich schmecke die Köstlichkeiten auf der Zunge, die die Bauern beim Frühlingsfest aus ihren knappen Nahrungsmitteln hervorzauberten. Ich habe all die Jahre in und mit meiner Vergangenheit gelebt. Anders ausgedrückt: Weil ich schon immer dieses Buch schreiben wollte, haben die Erinnerungen mich nie losgelassen. Aber es gibt auch Dichtungen. Das Buch ist sowohl Dichtung als auch Wahrheit.

CF: Was bedeutet Ihnen die Institution Familie – insbesondere das Verhältnis von Enkelin zu Großeltern? Denn Ihre Eltern waren lange in nicht zuhause, sondern lebten woanders.

ZJ: Bis ich mit 13 Jahren mit Großmutter zu meinen Eltern ins Luftwaffen-Ensemble zog, war Großmutter meine erste Bezugsperson. Die Alte-Türvorhang-Gasse war mein Zuhause. Aber das war für meine Generation keine Ausnahme. Viele Kinder wuchsen bei den Großeltern auf, weil ihre Eltern beim Aufbau des Sozialismus anpacken mussten.

CF: War die Familie ein Rückzugsraum vom Alltag und vor der Politik?

ZJ: Nur bedingt. Die Kulturrevolution und die kommunistische Ideologie drangen in jeden Winkel der Gesellschaft und ins tiefste Innere eines Menschen ein. Die Revolution wurde oft auch in der Familie weitergeführt. Viele Kinder und Jugendliche denunzierten ihre Eltern; Eheleute verrieten sich gegenseitig, um zu überleben. Ein sehr krasses Beispiel habe ich neuerlich in der Süddeutschen Zeitung gelesen: Ein heute 59-jähriger Rechtsanwalt namens Zhang Hongbing hatte mit 15 Jahren – zusammen mit seinem Vater – seine Mutter verraten und zweimal ausgeliefert (einmal gelang ihr die Flucht), weil sie in einer familiären Debatte die Kulturrevolution und Mao kritisiert und die Rehabilitation vom Staatspräsidenten Liu Shaoqi verlangt hatte. Daraufhin wurde die Mutter öffentlich hingerichtet. Er leidet heute die größte Seelenqual, die man sich nur vorstellen kann, und führt öffentlich einen Feldzug gegen sich selbst und gegen das Vergessen.

CF: Was bedeutet Familie heute in China?

ZJ: In der Tradition ist das Familienleben in China sehr wichtig, ich glaube, viel wichtiger als hier im Westen. Dass drei, sogar vier Generationen unter einem Dach zusammenlebten, war keine Seltenheit. In den heutigen Großstädten ist die Familienbande, soweit ich weiß, nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Die Familie wird kleiner. Aber es ist immer noch üblich, dass sich die Großeltern intensiv um ihre Enkelkinder kümmern, weil beide Elternteile arbeiten. Gelegentlich höre ich noch, dass Eheleute aus beruflichem Grund getrennt leben. Aber die Trennung ist sicherlich nicht mehr so schlimm wie damals, weil sich die Menschen heute im Gegensatz zu meiner Zeit selbst entscheiden können, wo sie leben wollen.

CF: „Angst lähmt die Seele“ haben Sie geschrieben in Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Alte-Türvorhang-Gasse in Beijing, wo sie als Kind wohnten. Hat diese Angst bei Ihnen schon im Kindesalter etwas bewirkt?

ZJ: Ich denke schon. Ich hatte diese Angst gespürt. Wenn die Nachbarn sich umbrachten oder blutig geschlagen wurden, bekam man als Kind Angst, auch wenn ich selbst nicht direkt betroffen war. Was mich persönlich betrifft, hatte ich als ein kleines Mädchen eine andere Art Angst, nämlich Angst vor einer Schar frecher Jungen aus der Gasse, die mich permanent schikanierten. Das habe ich im Kapitel 10 des ersten Teils im Buch genau beschrieben. Sie schikanierten nicht jedes Mädchen. Ich glaube, das taten sie mir an, weil ich berühmt war, anders als die Durchschnittskinder. Ich wurde über Nacht in der Schule berühmt, nachdem ich als Jüngste, also als Zehnjährige, eine Kritikrede gegen die liebe Rektorin gehalten hatte. Ich beschrieb dieses Gefühl im Buch: „Heute kann ich mich nicht mehr entsinnen, ob ich stolz auf mich war, auf meine Berühmtheit in der Schule und meine besondere Position. Aber an eines kann ich mich gut erinnern, nämlich, dass ich permanent das Gefühl hatte, das Leben sei voller Gefahr und böser Überraschungen.“ Dieses Gefühl hat mich lange begleitet, auch später in der Mittelschule aufgrund des Skandals meines Vaters.

CF: Es tauchen an verschiedenen Stellen Individuen und Familien in Ihrer Geschichte auf, von denen sie etwas später schreiben: Im Hof vergaß man sie schnell. Tilgte Alltag und Angst die Erinnerung an diese Menschen?

ZJ: Möglich. Eines müssen Sie bedenken, im damaligen China legte man sowieso keinen großen Wert auf ein Individuum. Es gab – damals auch schon – so viele Menschen. Die Menschen kamen und gingen, auch die Nachbarn. Wenn sie weg waren, wurden sie schnell vergessen. Ich habe meine Freundin Lili nicht vergessen. Aber aus verschiedenen Gründen hatten wir nach ihrem Auszug aus unserem Hof keinen Kontakt mehr gehabt. Es war damals ganz anders als heute. Die Kinder von heute verabreden sich, werden von ihren Eltern überall hin chauffiert, sie können bei Freunden oder Freundinnen übernachten, usw. Zu meiner Zeit war das alles nicht möglich. Freunde bzw. Freundinnen waren meistens in der Reichweite.

CF: Was war die Aufgabe des Theaterensembles der Luftwaffe und für wen spielten ihre Eltern?

ZJ: Jeder Armeeteil, also egal ob Luftwaffe, Heer oder Marine hat ihre eigenen Kunstensembles: Theater-, Tanz- und Gesangsensemble. Ihre damalige Aufgabe bestand hauptsächlich darin, Agitationsprogramme (Sprechtheater, Tanztheater, Opern etc.) bei den Truppen in den verschiedenen Stützpunkten durchzuführen. Gleichzeitig führten sie auch in öffentlichen Theatern ihr Repertoire auf. Vor der Kulturrevolution hatte das Ensemble meiner Eltern pathetische, revolutionäre Stücke wie „Die junge Generation“, „Der junge Adler“ (von den eigenen Stückeschreibern geschrieben) und auch sowjetische Stücke wie „Im Namen der Revolution“ gespielt. In der Kulturrevolution hatten sie fast gar nichts mehr gespielt, wenn, dann nur die Adaption der „Acht revolutionären Modellopern“.

CF: Für uns in Deutschland ist die Mao-Verzückung nach den Erlebnissen der Drittes Reichs schwer nachvollziehbar: „Alles schien eine ehrenvolle und politische Aufgabe zu sein“, schreiben Sie. Wie waren Ihre Empfindungen zum „Großen Steuermann“ Mao?

ZJ: Der Vorsitzende Mao war für uns die nie untergehende Sonne, der große Erlöser Chinas. Ihre Worte waren heilig. Wir folgten ihm blind. Warum das so war? Ich möchte einen Absatz aus meinem Buch zitieren: „Auf Vorsitzenden Mao hören und ein gutes Kind des Vorsitzenden Mao sein“ war das oberste Gebot, das uns bereits im Kindergartenalter eingeimpft wurde. Von klein auf wurde uns wiederholt und permanent eingeflößt: Vorsitzender Mao sei der große Erlöser des chinesischen Volkes und der große Steuermann Chinas, und seine Bedeutung für die Menschheit sei unermesslich. Wir sahen überall sein Porträt; wir rezitierten jeden Tag seine Worte; wir lasen unentwegt über seine Verdienste; wir lernten seine Gedichte auswendig; wir besangen ihn; wir verglichen ihn mit der Sonne; seine Ideen waren unsere einzige geistige Nahrung; wir schworen ihm ewige Treue. Auf diese Weise verinnerlichten wir sein Bild in unserem Hirn. Diese Projektion nahm in uns eine unfassbare mentale und emotionale Dimension ein. Wir wurden bereits als Kinder von einem Virus infiziert: Personenkult. Das ist wohl die einzige Erklärung, warum wir zwölfjährige Kinder von der Existenz des Vorsitzenden Mao physisch und psychisch so überwältigt werden konnten.“ Ein anderes Stichwort lautet: Gehirnwäsche. Wir wurden einer systematischen Gehirnwäsche unterzogen.

CF: Wann fing es bei Ihnen an, dass sich die „Lebensfäden verknoteten“ und Sie merkten, dass Wirklichkeit und Propaganda auseinander klafften?

ZJ: Mein Erwachen begann in Yan’an, setzte sich nach meiner Rückkehr nach Beijing fort und endet, glaube ich, erst heute in Deutschland. Mao gab Ende 1968 folgende Anweisung: „Es ist sehr notwendig, dass Jugendliche, die eine Schulausbildung haben, aufs Land gehen und eine Neuerziehung durch die armen Bauern und die unteren Mittelbauern erhalten.“ Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Anweisung zum Gegenteil seines Ideals führte: Die aufs Land umgesiedelten Jugendlichen kehrten ihm und seiner Ideologie aufgrund ihrer Erfahrung auf dem Land den Rücken. Wie ich nämlich im zweiten Teil meines Buches beschreibe, haben wir auf dem Land die Realität kennengelernt und zu unserem großen Entsetzen festgestellt, dass die Theorie des Marxismus und Maoismus mit der Praxis nicht übereinstimmte. Erst mit der Öffnungspolitik und Liberalisierung in den Achtzigerjahren lernten wir die bis dahin uns verwehrte westliche Kultur und unser eigenes Ich kennen. Wir erkannten allmählich, dass unser Ideal eine Utopie war. Das entscheidende Datum in meinem Erwachsenwerden-Prozess ist zweifellos der 4. Juni 1989. Die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens haben das chinesische Volk mitten ins Herz getroffen. Auch mein Vater verlor an diesem Tag seinen Glauben an den Kommunismus!

CF: Was haben Sie in der Zeit auf dem Land im Dorf „Kleines Tal“ für Ihr Leben gelernt?

ZJ: Mit Entbehrungen und Einsamkeit fertig werden, durchzuhalten, das erreichen können, was man sich vornimmt, und überleben zu können, wenn man den Willen dazu hat.

CF: Was ist aus den Rotgardisten geworden, sind die irgendwann in der Masse aufgegangen, ohne weitere Spuren zu hinterlassen?

ZJ: Sie leben heute überall in China und auch im Übersee. Das war doch eine ganze Generation. Einige von ihnen sind ganz bestimmt auch in Führungspositionen sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft.
Gerne möchte ich eine Frage in diesem Zusammenhang zur Diskussion stellen: In einem Rechtsstaat spricht man bei der Schuldfrage von der Schuldfähigkeit. Psychopathen werden oft für schuldunfähig erklärt und in die geschlossene Anstalt eingewiesen, statt zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Meine Frage: Ist ein fünfzehnjähriger Rotgardist, der einer Gehirnwäsche unterzogen wurde, angesichts seiner Gewalttat schuldig oder nicht schuldig? Ist er schuldfähig bzw. zurechnungsfähig oder nicht? Wen sollte man zur Rechenschaft ziehen? Den, der die Gehirnwäsche durchgeführt hatte oder den, der aufgrund der Gehirnwäsche Täter wurde? Oder beide? Ist meine Aussage im Buch „unschuldig Schuldige“ vielleicht eine Antwort?

CF: Was ist als Erinnerung der Kulturrevolution bei Ihnen hängengeblieben?

ZJ: Von den negativen Erinnerungen müsste ich nun eigentlich nicht mehr reden. Es war einfach schrecklich: Zerstörung der Kultur, der Tradition, der Tugenden, der Moral, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Menschlichkeit, des Vertrauens der Menschen voneinander, des Glaubens an das Gute.
Das heißt aber nicht, dass meine ganze Kindheit schrecklich war. Für mich hatte ich eine ganze normale Kindheit gehabt, denn wir kannten ja keine andere. Es gab natürlich viele schöne, interessante Momente, Erlebnisse, Freundschaften, Liebe, lustige Spiele etc.
Das einzige Positive an dieser Epoche – für mich persönlich, wohl bemerkt – ist, dass ich nach dem Abitur nach Yan’an gegangen war. Das knapp zweijährige harte Leben im Dorf „Kleines Tal“ hat mich sehr geprägt. Wenn ich behaupten darf, ich bin zäh, ich habe einen starken Willen und ein Durchsetzungsvermögen, dann kommt es von dort aus jener Zeit.

CF: Die Frage der Berufswahl stand uns „als Individuum gar nicht zu“. Was ist aus Ihren damaligen Wegbegleitern geworden? Wissen sie das?

ZJ: Zunächst muss ich die damalige Situation ansprechen: In der Kulturrevolution mussten alle Abiturienten aufs Land gehen, um sich von den Bauern zum geeigneten Nachwuchs der Revolution umerziehen zu lassen. Das basierte auf einem Aufruf von Mao Zedong. Heute wissen wir, das war eine Notlösung der falschen Politik – Bildungs-, Wirtschafts-, Sozialpolitik. Es herrschte in diesen zehn Jahren doch totales Chaos. Von einer normalen Politik im Interesse des Volkes kann nicht die Rede sein.
Zu meinen Kameraden, die mit mir nach Yan’an gegangen sind – wir waren insgesamt neun Abiturienten in einem kleinen Dorf. Alle, bis auf Beiyan und Feng, haben in Beijing, Shanghai oder Xi’an studiert, die meisten später auch im Ausland. Beiyan, die älteste von uns, die Anfang 1969 dorthin verschickt wurde und Feng, eins von uns drei Mädchen, kehrten später nach Beijing zurück und hatten als Arbeiterinnen und Angestellte gearbeitet. Heute sind sie pensioniert. Von den Studierten leben heute drei in Deutschland, zwei in den USA. Jiayu, in den ich mich damals verliebt hatte, pendelt zwischen den USA und Beijing, weil er eine Greencard hat. Wir hatten Glück, dass wir gegen Ende der Kulturrevolution aufs Land gegangen waren und dass die Universitäten ab 1978 wieder für alle geöffnet wurden. Die meisten von den Abitur-Jahrgängen 1966, 67 und 68 konnten nicht studieren und hatten keine Ausbildung. Sie zählen zu den Verlierern der Reform. Man spricht von einer „Verlorenen Generation“.

CF: Gab oder gibt es in China in bestimmten Kreisen, möglicherweise von den Betroffenen selbst eine Aufarbeitung jener Zeit? Sitzen viele noch auf ihren Vergangenheitsproblemen?

ZJ: Ende der 1970er-, Anfang der 80er-Jahre gab es in China eine Welle der so genannten „Literatur der Wunden“. Viele Schriftsteller und junge Autoren hatten ihre Erlebnisse in der Kulturrevolution zu Romanen oder Erzählungen verdichtet: „Die Wunde“ von Lu Xinhua, „Der Klassenlehrer“ von Liu Xinwu. Heute wird, glaube ich, nicht mehr viel über dieses Thema geschrieben oder diskutiert. Vor allem schweigen die „echten“ ehemaligen Rotgardisten. Das heißt, diejenigen, die zu Beginn der Kulturrevolution von Mao Zedong zur Rebellion, zu Gewaltexzessen angestiftet wurden, hüllen sich bis heute in Schweigen. In China wird eben nicht offen debattiert, wen man für die große Hungersnot von 1959 bis 1961, für die Kulturrevolution, für die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 zur Rechenschaft ziehen sollte.

CF: Warum Ihr Fortgang aus China? Und warum Deutschland als Ziel?

ZJ: Zwei Jahre nach meinem BA-Abschluss in Beijing – ich hatte Deutsch studiert – hatte ich das Glück, ein Stipendium der Friedrich-Naumann-Stiftung erhalten zu haben. So kam ich ins damalige West-Berlin..

CF: Wie reagieren Menschen aus dem Westen auf Ihr Schicksal?

ZJ: Staunen und Bewunderung. Von den Feedbacks über mein Buch, die ich bis jetzt erhalten habe, kann man so kurz zusammenfassen.

CF: Glauben Sie, dass Menschen, denen viel Ungerechtigkeit und Fremdbestimmtheit wiederfahren ist, einen sensibleren Gerechtigkeitssinn haben als jene ohne diese Erfahrungen?

ZJ: Vermutlich. Aber es heißt nicht, dass Menschen, die nicht in einem totalitären System gelebt haben, keinen Gerechtigkeitssinn haben. Es hängt mit vielem zusammen: Erziehung, sozialem Umfeld, Ethik und den moralischen Werten der Gesellschaft.

Zhao Jie: Kleiner Phönix - Eine Kindheit unter Mao

ISBN-10:3-89667-498-6
720 Seiten
Verlag: Karl Blessing Verlag

Anmerkung: Wie in Chinas üblich, wurde in diesem Text bei Namen zunächst der Familienname, danach der Vorname genannt. Ortsnamen sind in der internationalen Schreibweise verfasst.


Abbildungdnachweis:
Header: Zhao Jie (genannt Cui) mit Cousin Shitou vor dem Tor zur Verbotenen Stadt am Platz des Himmlischen Friedens, Beijing, um 1966
Galerie:
01. Buchcover
02. Cuis Mutter, Onkel und Großeltern, um 1954.
03. Cui mit ihren Großeltern in Beijing, 1960
04. Cui mit Schwester und Eltern, 1972
05. Cui am Yan-Fluss, Yan'an, Provinz Shaanxi (Zentralchina), 1976
06. Cui auf Handtraktor, Kleines Tal, 1977
07. Cui nach einer militärischen Übung, Kleines Tal, 1977
08. Cui und Beiyan vor ihrer Wohnhöhle, Kleines Tal, 1977
09. Cui und Hong in der Gedenkstätte Yangjialing vor einem Bild mit Mao und seinem Sohn Mao Anying, Yan'an 1977
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