Literatur
Die große „Kleine Mutter“ aus Somalia - ein Interview mit Cristina Ubax Ali Farah

Die italo-somalische Schriftstellerin Cristina Ubax Ali Farah gilt als weibliche Schlüsselfigur literarischer Migrationserfahrung aus dem ehemaligen italienischen Kolonialstaat Somaliland.
1973 in Verona/Italien als Tochter einer italienischen Mutter und eines somalischen Vaters geboren, verbringt sie ihre Kindheit in Mogadischu bis dort 1991 der Bürgerkrieg ausbricht. Seitdem erregt Somalia nicht nur durch seine dramatische politische Lage, sondern auch durch einen radikalen Islamismus und durch Piratenübergriffe vor der afrikanischen Küste sowie, als eine der Ursachen, die Hungerkatastrophen, internationales Aufsehen. Noch im gleichen Jahr flüchtet Ali Farah mit ihrem kleinen Sohn über Ungarn nach Verona. Schließlich lässt sie sich 1996 in Rom nieder, wo sie zwei weitere Kinder auf die Welt bringt und ein Literaturwissenschaftsstudium an der römischen Universität abschließt.

2006 gewinnt sie einen italienischen Literaturwettbewerb und veröffentlicht 2007 ihren ersten, auf Italienisch verfassten Roman, "Madre piccola" (dt. Kleine Mutter), der als "Little Mother" dieses Jahr auch in der englischsprachigen Übersetzung erschienen ist. Dieses subtile Portrait der somalischen Diaspora wurde 2008 mit dem Literaturpreis Premio Elio Vittorini ausgezeichnet. Derzeit vollendet die Autorin ihren zweiten Roman, der in Kürze in Italien erscheint. Zu diesem Anlass trafen sich die Gastautorinnen Aline Wetzelaer und Ineke Minuscoli mit Cristina Ubax Ali Farah in Rom um über Migrationsliteratur und die Rolle und Position der Frau und das neue Buch zu sprechen.


Aline Wetzelaer (AW): Welchen Stand hat die Migrationsliteratur in Italien?

Cristina Ali Farah (CAF): Nun, in den Neunziger Jahren erschienen einiger Bücher der sogenannten Gründungsväter der in Italien als Migrationsliteratur bezeichneten Literaturströmung, u.a. von Pap Khouma und Salah Methnani. Das waren ursprünglich autobiographische Romane, die die Migrationserfahrung der Autoren in der Ich-Form wiedergaben und meist zu vier Händen, mit einem Co-Autor verfasst worden waren. Was folgte, war ein langes Schweigen: Anfangs zeigten die Verlage reges Interesse, doch dann wandten sie sich wieder völlig ab. Italien realisierte plötzlich, dass es kein Emigrationsland mehr, sondern Immigrationsland geworden war! Noch Jahre lang dominierte die Diskussion, ob Migrationsautoren überhaupt als Schriftsteller anzusehen seien oder ihre Texte nicht eher soziologischen, d.h. keinen literarischen Wert hätten, und die Verlage beachteten uns nicht mehr.
Ende der Neunziger Jahre fand ich mich dann auf einer Tagung hier in Rom wieder, aus der eine Anthologie (Voci migranti; dt. Stimmen der Migration) hervorging. Darin waren Autoren wie Pap Khouma und Komla Ebri vertreten. Damals schloss ich meine ersten Kontakte, aus denen sich die Gründung der Online-Zeitschrift El-Ghibli ergab. Da wurden u.a. sämtliche Events der Migrationsautoren angekündigt, gemischt mit denen italienischer Schriftsteller, anderweitiger Migrationsautoren usw. Die Zeitschrift ist vorrangig aus dem Bedürfnis entstanden, sich selbst zu organisieren, die eigene Stimme zu erheben und nicht mehr auf eine Initiative der Verlage, d.h. von außen, zu warten. Das war der springende Punkt. Verglichen mit den anderen Schriftstellern befand ich mich in einer besonderen Lage: Pap Khouma und die anderen waren an die zwanzig Jahre älter als ich, außerdem war Italienisch meine Muttersprache. In Somalia ist Italienisch noch heute die Sprache der kulturell gebildeten Elite, und ich habe seit meiner Kindheit mit dieser Sprache zu tun gehabt.
Viele glauben, dass das Schreiben ein einsames Geschäft sei, aber in Wirklichkeit ist ein Schriftsteller immer Teil einer Gemeinschaft. Er formt sich innerhalb eines kulturellen und politischen Kontexts. Viele Leute sagen zwar: „Ich will ein Buch schreiben“, aber ich finde, das Schreiben kommt der Übernahme einer Rolle gleich, die ein Autor innerhalb einer Gemeinschaft ausfüllt. In diesem Sinn ist mir eine besondere Rolle zugefallen.
Ich glaube nicht, dass die italienische Gesellschaft die Stimmen ihrer Einwanderer überhört: Im gegenwärtigen historischen Moment sind die Migrationsfrage und die Frage nach Akzeptanz und Gastlichkeit die wichtigsten Fragen überhaupt. In der Politik wird darüber sehr intensiv diskutiert und wir werden von den Medien oft nach unserer Meinung gefragt. Aber ein Schriftsteller hat nicht notwendigerweise zu allem eine Meinung. Er beschäftigt sich vor allem mit Literatur.

AW: Wird die italophone Migrationsliteratur zu einem immer weiblicheren Genre?

CAF: Stimmt, anfangs lagen Bücher von Männern vor – so wie auch die Migration anfangs ein vorrangig männliches Phänomen war. Das ist sehr interessant: Sie wird weiblicher und es betreten auch sogenannte postkoloniale Schriftstellerinnen das Feld. Wir sind alles Frauen: Igiaba Scego, Gabriella Ghermandi… auffallend!

AW: Was verstehen Sie denn unter Weiblichkeit?

CAF: Die Entwicklungen, die mich geformt haben. Als ich die Schule beendet hatte, habe ich angefangen, als Mediatorin zu arbeiten und zwar hauptsächlich mit Kindern. Ich habe z.B. Werkstätten in kleineren Schulen oder in Form von Sommerkursen, wenn die Schulen geschlossen waren, organisiert. Ich habe mit dem Verein Kel ’Lam zusammengearbeitet, für den vor allem afrikanische Mediatoren tätig waren, die am Stadtrand arbeiteten. Als die Gemeinde den Verein darum bat, die Geschichten von Einwanderinnen zu sammeln, habe ich begonnen, Frauen unterschiedlicher Herkunft zu interviewen. Es ist toll, Nicht-Muttersprachlerinnen zuzuhören: weniger wegen der kleinen Fehler, die sie machen, sondern wegen des Tonfalls, der Art und Weise, wie sie sprechen, welche Wörter sie wählen und welche Syntax. Wie sich die Muttersprache hinter der Fremdsprache verbirgt, erschien mir sehr persönlich und sehr poetisch.
Ihren Stimmen zu lauschen, war für mich eine großartige Schreibübung, als ob ich eine neue Sprache erfand. Mein Roman Madre piccola (2007 erschienen; dt. Kleine Mutter; Anm. d. R.) beleuchtet das Frausein in seiner zentralen Bedeutung: Der Titel „kleine Mutter“ stammt von dem somalischen Wort „habaryar“ ab, was „Tante“ oder „kleine Frau“ heißt und die Schwester der Mutter, die weibliche Tante bezeichnet. Eine der zentralen Romanfiguren ist die Hebamme Barni: Sie ist keine Mutter, aber bringt die Kinder zur Welt. Die Idee der Mütterlichkeit beinhaltet für mich nicht in erster Linie die biologische Geburt, sondern dass man für jemanden sorgt.

Ineke Minuscoli (IM): ...und zwar auch für nahestehende Erwachsene, oder? Das heißt, dass man die Möglichkeit ausschöpft, sich nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen Menschen und der Gemeinschaft zu beschäftigen. Bedeutet denn die Verpflichtung, sich zu kümmern, eine Einschränkung oder ist das ein natürliches Gefühl bei uns Frauen?

CAF: Ja, genau: Einerseits ist es eine Begrenzung, weil du dich verpflichtet fühlst. Aber in Madre piccola war meine Frage eine andere: Was passiert, wenn das Universum, das dich umgibt, explodiert und du keinerlei Koordinaten mehr hast, um dich zu orientieren? Solche Leute orientieren sich nur noch an ihrer Fähigkeit, Bezüge herzustellen. Sich um jemanden zu kümmern, kann einen negativen Beigeschmack bekommen, aber für mich ist es wichtig, ständig Beziehungen mit Kindern und Erwachsenen herzustellen und zu pflegen. Beziehungen aufzubauen, ist der einzige Weg für die Menschheit, zu überleben.

AW: Welchen Zweck verfolgt Ihre Literatur in Hinblick auf Ihr Zuhause bzw. Ihre persönliche Verortung auf dieser Welt?

CAF: Migrantenfamilien sind wie Perlenketten, die durchschnitten wurden: Die Perlen sind abgesprungen und haben sich in alle Richtungen verteilt. Die Perlen sind die Diaspora. Sie sind wie all die Geschichten für mich, die ich am Telefon gehört habe, die sich über die Jahre angesammelt haben. Die Idee des Erzählens ist die, einen Verbindungsfaden herzustellen, der diesen verstreuten Perlen einen Sinn zuschreibt. Das ist eine im wahrsten Sinn des Wortes wertvolle Metapher: Jede Perle ist wertvoll!

AW: In Ihrem Roman geht es u.a. um Domenica, die im Alter von neun Jahren nach Italien ausgewandert ist und daraufhin versucht, ihre somalische Identität auszulöschen. Welche Beziehung haben Sie heute zu den beiden Kulturen und wie kann man das italo-somalische Identitätsdilemma der Domenica lösen? Ist es überhaupt zu lösen?

CAF: Ich glaube, jeder löst es auf seine Weise. Eine gemischte Identität zu haben, ist ein riesiger Reichtum. Wenn man etwas Wertvolles besitzt, ist dieses Wertvolle auch sehr gefährlich: Du musst lernen, damit umzugehen, denn es kann dich gewissermaßen auch zerstören. Italien und Somalia sind zwei völlig getrennte Welten – ein katholisches und ein islamisches Umfeld - und doch durch die koloniale Vergangenheit miteinander verbunden. Eigentlich stellt man sich selbst gar nicht unbedingt die Identitätsfrage, sondern die anderen verleihen dir eine gewisse Identität. Du musst dich dadurch selbst definieren, du musst äußern, wer und was du bist, und erst dann beginnt man auch damit, Identitätsprobleme zu entwickeln, z.B. wenn deine Andersartigkeit sichtbar ist. Aber auch, wenn sie nicht sichtbar ist, kann man Identitätsprobleme bekommen...
Die Sprache und die Kultur können dir da weiterhelfen, sie können deine Identität retten. Geschichten zu hören, erfüllt doch unser Leben, oder? Die somalische Kultur ist eine vornehmlich orale Kultur, vornehmlich poetisch, auch sehr männlich geprägt und patriarchalisch. Die Stellung der Mutter ist nicht gerade positiv und der Krieg allgegenwärtig. Das wirkt in der Diaspora noch deutlich nach: Es fehlt dir der Boden unter den Füßen und das rührt von der Kriegserfahrung her.

AW: Welche Schriftsteller sind für Sie wichtig? Dem Roman Madre piccola haben Sie u.a. ein Zitat von Toni Morrison aus Beloved vorangestellt...

CAF: Ja, die liebe ich sehr. Während ich Madre piccola schrieb, habe ich auch viele andere italienische Autoren des 20. Jahrhunderts gelesen. Neben Toni Morrison bewundere ich den brasilianischen Schriftsteller João Guimarães Rosa. Ich habe portugiesische und brasilianische Literatur studiert, und insbesondere die Brasilianer hinterfragen die Identität mittels der Literatur – und das so nachdrücklich wie kaum eine andere postkoloniale Schriftstellergruppe. Sprache und Identität ist in der brasilianischen Literatur ein ganz wichtiges Thema. Als drittes literarisches Vorbild galt mir Nuruddin Farah, der sich im Non-fiction-Bereich mit dem Flüchtlingsthema auseinandergesetzt hat.

AW: Was kommt als nächstes?

CAF: Ich arbeite gerade an einem neuen Roman, einem Bildungsroman über einen jungen Mann, eine männliche Stimme also. Die Geschichte handelt von einem Jungen, der ausschließlich in Italien aufgewachsen ist und von seiner Suche nach Identität. Sie ist am Fluss, dem Tiber, angesiedelt, und ich bin auf ein somalisches Märchen gestoßen, das „Der Steuermann des Flusses“ heißt. Es ist nicht ganz leicht, weil es ein „männlicher“ Roman wird und ich die Sprechweise eines Achtzehnjährigen treffen muss. Mich erfüllt es sehr, mich mit Sprache und Stimme zu beschäftigen. Hoffentlich gelingt es! Noch vor Ende des Sommers soll das Buch fertig sein.


Englische Ausgabe: "Little Mother" (Global African Voices)
Cristina Ali Farah (Autor), Giovanna Bellesia-Contuzzi (Übersetzer), Victoria Offredi Poletto (Übersetzer)

Italienische Ausgabe: "Madre piccola" (Frassinell)
Cristina Ali Farah (Autor)

Fotonachweis:
Header: Cristina Ali Farah, 2008, www.casaculture.it
Ghostwriting und wissenschaftliche Beratung: Dagmar Reichardt

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