Literatur
Ida Dehmel im Nietzsche-Archiv (Detail), 1905. Quelle: Das geistige Weimar um 1900, Leipzig: Lehmstedt, S. 37 ISBN: 978-3957970152. Gemeinfrei

Dem Arbeitskreis Jüdisches Bingen und den Autoren Hans-Joachim Hoffmann und Francois Van Menxel ist zu verdanken, dass „Daija“ – der einzige Roman, den Ida Dehmel (1870–1942) je geschrieben hat – nun in gedruckter Form vorliegt.

Und das in allen drei Fassungen: „Urschrift“, „Zwischenfassung“ und „Letzte Fassung“! Mehr als achtzig Jahre ruhten die Manuskripte. Ihre dauerhafte Aufbewahrung fanden sie im Dehmel-Archiv der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek.

 

Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern dienten diese Unterlagen für Recherchen zu Ida und Richard Dehmel (1863–1920). Jetzt können sich auch andere interessierte Leser in die unterschiedlichen Ausgaben vertiefen – noch dazu mit weiteren erhellenden Quellen.

 

Dalia Ida Dehmel COVERDie jetzt erfolgte Veröffentlichung der Monografie Ida Dehmels in Buchform, angereichert mit kenntnisreichen Studien und Anmerkungen, ist das Ergebnis einer Mammutarbeit, die sich das Herausgeberduo Hoffmann und Menxel gestellt hat. Es bietet tiefe Einblicke in die Kindheit und Jugend der Jüdin Ida Dehmel, die als Ida Coblenz am 14. Januar 1870 in Bingen geboren wurde und sich am 29. September 1942 in Hamburg-Blankenese wohl das Leben nahm (Anm.1) . Dazwischen liegt ein reichhaltiges, eigenwilliges, den gesellschaftlichen Normen letztendlich nicht angepasstes Leben.

 

Am 22. Oktober 1901 hatte Ida in London in zweiter Ehe den damals berühmten Dichter Richard Dehmel geheiratet. Damit wurde zwischen „Zwei Menschen“ (so der Titel eines Gedichtbandes, den Richard für Ida schrieb) die Liebe besiegelt, die 1895 ihren Anfang genommen hatte.

 

Im Juli 1901 begann Ida mit der Niederschrift ihrer Biografie, an der sie bis ca. 1920 arbeitete. Nach der Beschreibung von Kindheit und Jugend brach die Schilderung kurz vor der ersten Heirat mit ihrem ersten Ehemann Leopold Auerbach in der „Urschrift“ ab. Ab 1925 befasste sich Ida mit der Überarbeitung ihrer Autobiographie und entwickelte diese zu einem autofiktionalen Roman. Immer wieder wurde die Arbeit unterbrochen. Erst kurz vor ihrem Tod im September 1942 fand die redaktionelle Arbeit ihren Abschluss in der „Letzte(n) Fassung“. Hier wurden die Fäden weitergeführt als in der Urschrift, reichten die Erinnerungen über das Scheitern der ersten Ehe hinaus bis hin zur Eheschließung mit Richard. Ergänzt wird diese letzte Fassung mit Auszügen aus Daijas (Idas) Tagebüchern und einem zusammenfassenden Rückblick, den Ida 1942 anfügt.

Während in der „Urschrift“ noch eine pädagogische Absicht zu erkennen war (Ida wollte junge Mädchen vor unüberlegten, erzwungenen Ehen bewahren), so steht in der „Letzten Fassung“ die beispielhafte Erkenntnis im Vordergrund, dass sie durch die Heirat mit Richard glücklich geworden ist, ihre Lebensaufgabe gefunden hat und ihr Leben „als bis zum Rand gefüllt“ ansah. Dazwischen liegt eine nicht datierte „Zwischenfassung“. Der hierfür gewählte Titel „Daija. Ein biographischer Roman von Ida Dehmel“ kennzeichnet die damalige Intention: Ida wollte in dieser Version den autofiktionalen Charakter ihres literarischen Werkes unterstreichen. Ein breites Publikum hat dieses Werk nicht erreicht: Es gab nur ein paar Kopien für nahe Verwandte und Freunde.

 

Das hat sich nun nach acht Jahrzehnten endlich geändert! Wir verdanken dem Arbeitskreis Jüdisches Bingen und den beiden Autoren Hoffmann und Menxel mit dem Druck von „Daija“ samt all den weiteren wichtigen Beiträgen im Buch ein hervorragendes Zeitzeugnis! Und „Daija“ selbst ist als autofiktionaler Roman gut lesbar. Es gibt dort berührende Szenen und Sätze, z.B. nach dem Tod der Mutter, die kurz vor Ostern 1878 stirbt. Da ist Ida gerade 7 Jahre alt. Der Engel der Traurigkeit nahm Daijas junge Seele an sein Herz, heißt es in Idas Roman. Dieser Engel der Traurigkeit – so scheint es – lässt Ida erst wieder los, als Richard Dehmel in ihr Leben tritt. So schreibt sie in der „Urschrift“: Seit Du bei mir bist, bin ich wieder geworden, was ich bis zum Tod meiner Mutter war: Glücklich, und, das darf ich wohl sagen: gut und wahrhaftig. Heut früh noch hast Du zu mir gesagt: „Du glückliches Kind! Und dann: Du Benedeite! Und ich sagte: Wenn ich 20 Jahre lang unglücklich und gottlos gelebt habe, so waren die Menschen schuld daran, die mich „erzogen“ haben.

 

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Ein weiteres Beispiel für starke Momente im Buch: Als junges Mädchen muss Ida alias Daija ein Mädchenpensionat in Brüssel besuchen. Von einer Abordnung der Mit-Pensionärinnen wird sie gefragt: „Welcher Religion gehören Sie an?“ Ruhig und deutlich erwiderte Daija: „Ich bin Jüdin.“ Die Deputation drehte sich schweigend um und ging davon. Von nun an war Daija in Acht und Bann getan. Die stumme Ablehnung führt dazu, Daija wurde eine Andere, äusserlich und innerlich. Die letzte kindliche Weichheit verschwand aus ihren Zügen. […] „Ich mache mein Herz kalt“, dachte sie, „dann schmerzt es nicht mehr. Wo soll ich Liebe zu den Menschen hernehmen? Es ist besser, die Flamme verlischt.“

 

Trotz allem hat Ida Dehmel die Flamme, ihre Flamme, weitergetragen. Sie engagierte sich für Künstlerinnen, für das Frauenstimmrecht, war Wegbereiterin für die (immer noch nicht gegebene) Gleichstellung von Mann und Frau. 1926 gründete sie die GEDOK (Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen; heute: Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstfördernden), die im kommenden Jahr ihren 100. Geburtstag feiert. Idas Anliegen war die Förderung künstlerischer Talente von Frauen, ein auch heute noch wichtiges Engagement.

 

Die Forschungsgeschichte zu Ida Dehmel ist noch recht kurz. Sie begann 1967. Damals veröffentlichte Elisabeth Höpker-Herberg einen Aufsatz unter dem Titel „Frau Isi. Materialien zur Biographie Ida Dehmels“. Damit holte sie erstmals Ida aus dem Schatten ihres Ehemannes. Die nun endlich stattgefundene Veröffentlichung der autofiktionalen Lebenserinnerungen Ida Dehmels wird verstärkt dazu beitragen, Ida auch als eigenständige Person in den Fokus zu nehmen und nicht nur als Ehefrau des einst berühmten Dichters Richard Dehmel und als zeitweilige Wegbegleiterin Stefan Georges. Dafür ist dem Arbeitskreis Jüdisches Leben Bingen und dem Herausgeberteam besonders zu danken! In den letzten Jahren ist dies auch durch andere Veröffentlichungen schon geschehen. Beispielsweise durch das hervorragende Buch „Aber die Liebe“ von Matthias Wegner (Claasen Verlag) und das Lebensbild „Ida Dehmel – Ein Leben für die Kunst“ von Therese Chromik (Husum Verlag) sowie diverse Publikationen zu Ida und Richard Dehmel von Carolin Vogel, Leiterin des Dehmel-Hauses in Hamburg-Blankenese. In dem 1912 vom Architekten Walther Baedeker errichteten Künstlerhaus waren u.a. Max Liebermann, Karl Schmidt-Rottluff, Thomas Mann, Gerhart Hauptmann und Richard Strauss zu Gast. Das Haus wurde vor einigen Jahren von der „Hermann Reemtsma Stiftung“ aufwändig saniert und ist nach vorheriger Terminabsprache zu besichtigen.

 

Buchumschlaege Ida Dehmel

Diverse Buch-Cover

 

Arbeitskreis Jüdisches Bingen:

Seit dem 12. Jahrhundert bildeten Juden einen ganz selbstverständlichen Bestandteil der Binger Bevölkerung. Im Jahr 1900 zählte Bingen 720 jüdische Bürger. 1942 sank die Zahl der Binger Juden auf Null. Wer sich bis dahin nicht durch Ausreise oder Flucht gerettet hatte, wurde deportiert und von den Nazis ermordet. Die vielen Jahrhunderte jüdischen Lebens in Bingen hinterließen Spuren, die der Arbeitskreis Jüdisches Bingen (AKJB) bewahren und aufarbeiten will. Unter den Leitgedanken Erinnern – Gedenken – Verbinden und auch Mahnen gibt der AKJB Bücher zur Binger jüdischen Geschichte heraus. Sie sollen nicht nur das große kulturelle Erbe bewahren und verbreiten, sondern auch an die Nazi-Grausamkeiten, die vielen Morde, erinnern. Der Arbeitskreis Jüdisches Bingen bringt immer wieder neue Publikationen in Form von Büchern, Faltblättern oder sonstigen Texten heraus. Vorsitzender ist Hermann-Josef Gundlach.


Ida Dehmel: „Daija“ – Ein biographischer Roman aus Bingen

Textausgaben und Studien

Herausgeber: Arbeitskreis Jüdisches Bingen

Autoren: Hans-Joachim Hoffmann / Dr. Francois Menxel

Verlag Matthias Ess

360 Seiten, Softcover.

ISBN: 978-3-945676-95-0

- Weitere Informationen (Arbeitskreis Jüdisches Bingen)

- Weitere Informationen (Dehmel-Haus)

- Weitere Informationen (GEDOK)

 

(1) 

Anmerkung der Herausgeber Hans-Joachim Hoffmann & Dr. Francois Van Menzel:
Die Behauptung des Freitods „durchzieht alle Darstellungen, die sich mit dem Leben Ida Dehmels befassen. Diese Behauptung muss jedoch nach Kenntnisnahme des Briefwechsels Ida Dehmels mit dem Ehepaar Bolko und Marie Stern ernsthaft in Frage gestellt werden. Dieser Briefwechsel macht deutlich, dass Ida Dehmel von Käte Bub, einer befreundeten Goldschmiedin, am 18.09.1942 aus dem Krankenhaus auf eigenen Wunsch abgeholt und von Bub und einer weiteren Bekannten im Dehmelhaus betreut wurde, da eine Besserung oder gar Heilung nicht mehr zu erwarten war. Am 29.9.1942 schrieb Käte Bub an Marie Stern: Es ist überwunden. Unsere Isi ist heute Nacht, ohne wieder aufzuwachen, in die Ewigkeit gegangen."

 

Im Tectum-Verlag erschien:
„Ihr Leben war bis zum Rand erfüllt“
Die Familienkorrespondenz (1887–1942)
Von Ida Dehmel
Herausgegeben von Dr. François Van Menxel und Hans-Joachim Hoffmann
2024, 1.176 S., geb.
ISBN 978-3-68900-089-9
E-Book 978-3-68900-090-5

 

In Vorbereitung im Tectum Verlag:
Ida Dehmel, Ich hoffe lächelnd zu sterben." Die Briefe an Marie und Bolko Stern 1933–1942

 

 

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