„Was ich von ihr weiß“ (Originaltitel: „Veiller sur elle“) von Jean-Baptiste Andrea ist ein faszinierender Roman. Für dieses Buch wurde Andrea 2023 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.
Jetzt ist der Roman auf Deutsch (Übersetzung: Thomas Brovot) im Luchterhand Literaturverlag erschienen. Wer das Buch zu lesen beginnt, kann, will und wird nicht aufhören, bis die letzte Seite gelesen ist. Was am Ende bleibt, ist die Erinnerung an ein grandioses Leseerlebnis und die Hoffnung auf eine Verfilmung. Vielleicht schreibt Autor und Filmemacher Jean-Baptiste Andrea ja auch das Drehbuch zum Film und führt selbst Regie. Das könnte uns Leser ein weiteres Mal glücklich machen.
„Was ich von ihr weiß“ ist Liebesgeschichte, Historienroman und Schelmenroman zugleich. Protagonist Michelangelo Vitaliani erinnert mich alsbald an Don Quichote, Tom Sawyer und Oliver Twist. Keine schlechten Voraussetzungen, schließlich sind sie allesamt Helden einiger meiner Leseepochen. Der mitreißende Sound wird gleich zu Beginn des Romans gesetzt. In tausend Jahren hat sich nichts geändert. Nicht das Abschüssige, nicht das Schwindelgefühl, heißt es hier. Ja, fürwahr, ein Schwindelgefühl ergreift auch uns Leser sofort und die Ahnung von Abschüssigem, vom Auf- und Niedergang eines Menschenleben. Denn: Der heute im Sterben liegt, ist nicht wie die anderen.
Der heute im Sterben liegt, ist nicht wie die anderen
Die anderen, das sind in dem bewegenden Auftaktsmoment einunddreißig Mönche, Bewohner der Abtei im Herbst 1986. Obwohl der 82jährige Sterbende als einziger unter ihnen kein Gelübde abgelegt hat, durfte er vierzig Jahre lang hier leben. Wer ist dieser Mann, welches Geheimnis umgibt ihn? Das fragen wir Leser uns von Anfang an und der Autor weiß genau, wie er uns dies und das zu erzählen hat, um unsere Neugierde, unser Interesse stets wachzuhalten und beständig zu erneuern. Wie schafft er das? Mit viel Humor, Poesie, Melancholie und Spannung. Mit viel Historischem und viel Erfundenem. Mit den vielfältigsten Mitteln seiner Kunst hat Jean-Baptiste Andrea Gedachtes und Erdachtes zu einem bunten Strauß gebunden, zu einem prächtigen Sittengemälde verarbeitet, zu einer wunderbaren Sinfonie komponiert, die in uns noch lange nachklingen wird.
Erzählt wird die Lebensgeschichte von Mimo, dem Steinbildhauer, der mit richtigem Namen Michelangelo Vitaliani heißt, der kleinwüchsig ist und allein schon deshalb anders ist als die meisten Menschen, denen er im Laufe der Jahrzehnte begegnen wird. 1904 in Armut in Frankreich geboren, wird Mimo als kleiner Junge zu einem ebenfalls armen Onkel nach Italien gegeben. Dieser Onkel Zio Alberto, ist - wie Mimos Vater, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist - von Beruf Steinbildhauer. Wie sich herausstellt, ist Alberto gar kein echter Verwandter und nutzt Mimo nach allen Regeln der Kunst aus. Dort, in einem ligurischen Dorf namens Pietra d`Alba, will und soll der Junge das tun, was ihm sein Vater vorgelebt hat: das Handwerk des Bildhauers erlernen. Dieser kleine Ort in der Toskana war ein schöner Ort mit seinem zart rosenroten Stein – tausendfach hatte sich das Morgenrot darin eingebettet. Hier befindet sich die Werkstatt von Alberto, hier steht auch die Villa der Orsinis, in deren Wappen Ab tenebris, ad lumina Fern der Finsternis, hin zum Licht geschrieben steht. Hier begegnet der dreizehnjährige Mimo der gleichaltrigen Viola, die zur angesehenen Adelsfamilie Orsini gehört.
Fern der Finsternis, hin zum Licht
Auch Viola ist anders als andere Menschen. Sie will „fliegen“, tatsächlich und im übertragenen Sinn: Viola will – anders als für Frauen ihres Standes vorgesehen – ausbrechen aus den Konventionen, will ihren eigenen Weg gehen. Viola war eine Seiltänzerin, die auf einer unscharfen, zwischen zwei Welten gespannten Grenze balancierte. Manche sagen, zwischen Wahn und Vernunft. […] Den Toten zuzuhören war ihr liebster Zeitvertreib. Deren Brüder Stefano und Francesco spielen mehr und mehr eine wichtige Rolle auch im Leben von Mimo, sie helfen ihm beim Aufstieg und gefährden ihn. Glück und Unglück, Schuld und Unschuld, Tragödie und Komödie, Traum und Wirklichkeit, Mystisches und Zauberhaftes spielen in diesem Buch eine übergreifende Rolle, gehen hier Hand in Hand, ergänzen einander, heben sich auf.
Wir lernen unvergessliche Typen kennen, werden an historische Figuren erinnert, an Politiker, an große Künstler, deren Namen uns heute noch Begriff sind. Natürlich erinnert schon der Name unseres Protagonisten an seinen berühmten Vorgänger, an Michelangelo Buonarroti. So wie dieser arbeitet Mimo seine Skulpturen aus dem Stein heraus, ist zugleich Schöpfer und Visionär. Und wie sein berühmter Vorgänger gelingt ihm mit seiner Kunst Großartiges, etwas, das die Menschen angesichts des Werks überwältigt und den Künstler aufsteigen lässt zu ungeahnten Höhen – bis in die höchsten Kreise und bis in den inneren Zirkel der Orsinis. Der Stein hat immer zu mir gesprochen, alle Steine, Kalksteine, metamorphe Gesteine, selbst Grabsteine, ebenjene, auf die ich mich legen sollte, um mir die Geschichten der dort Ruhenden anzuhören. Genau das tut der Heranwachsende mit Viola, die sich nachts aus diesem Grund heimlich auf den Friedhof begibt.
Von der ersten Begegnung an durchleben wir mit Viola und Mimo die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Aufstieg des Faschismus, die beiden Weltkriege. Aus dem ungewöhnlich kleinen Bildhauer wird ein gefeierter Künstler. Viola versucht, ihre Träume real zu machen, eine emanzipierte Frau zu werden. Die beiden sind sich nahe, entfernen sich voneinander, finden sich wieder. Mal aus Verbündete, mal als Gegner, über alle Unwägbarkeiten hinweg als Freunde, wenn auch mitunter viele Jahre und viele Probleme zwischen den Begegnungen liegen. Alles, was Mimo an Wissen erworben hat, hat er Viola zu verdanken. Sie versorgt ihn mit Büchern, die sie aus der Bibliothek des Vaters entwendet und an einem geheimen Ort für Mimo versteckt – trotz der Angst vor dem Vater, entdeckt zu werden. Der Strom der Bücher aber versiegte nicht. Und mit ihnen weitete sich die Welt. So wie Viola den Wunsch hat, fliegen zu können, wünscht sie etwas für Mimo: Ich habe große Träume für dich, Mimo. Ich möchte, dass du etwas Schönes machst wie Fra Angelo. Oder wie Michelangelo, schließlich heißt du wie er. Ich möchte, dass alle Welt deinen Namen kennt. Doch so weit ist es noch längst nicht. Wir begleiten Mimo derweil nach Florenz, nach Rom und immer wieder zurück nach Pietra d`Alba.
Gefangen im Leserausch
Immer dann, wenn die Geschichte besonders spannend wird, wechselt der Autor gemeinerweise die Zeit, das Personal, die Erzählperspektive. Und kaum hat man vergessen, dass dies ja so ist, kaum haben wir uns also gut eingerichtet in unserem eigenen Leserauschrhythmus, da passiert es erneut: die Zeit wechselt und somit auch das Personal und das Geschehen. Ein gemeiner Trick möchte man meinen, ein klasse Kunstgriff, dem Anerkennung gebührt, muss man zugeben. Auch wenn es uns Lesern in diesem Moment ganz und gar nicht gefällt, dass wir wieder einmal gestört werden im Lesefluss. Weil wir doch – und das die ganze Zeit - mittendrin sind in der rund 500 Seiten langen, an keiner Stelle langweiligen Geschichte. Wir haben uns vergessen. Wo waren wir noch gerade?
Vielleicht sind wir in diesem Moment in das Mysterium um den Ordner mit der Aufschrift Pietà Vitaliani, der sich im Tresorschrank von Padre Vincenzo befindet, versunken. Vielleicht bringt diese Lektüre Licht ins Dunkle, füllt Leerstellen, beantwortet Fragen. Oder wir lauschen vielleicht gerade den letzten Worten, die der Sterbende flüstert. Doch bis dessen Todesstunde da ist, geschieht viel Erstaunliches, Schönes, Tragisches im Leben von Mimo, was an dieser Stelle unbeschrieben bleiben muss. Nur so viel sei gesagt: Jean-Baptiste Andrea und seinem gleichermaßen bewundernswerten Übersetzer Thomas Brovot gelingt es, mit jedem Satz und jeder Zeile, jedem Seiten- und Zeitenwechsel, jedem Perspektiv- und Personalwechsel eine Spannung aufzubauen und beizubehalten, die uns Leser atemlos zurücklässt. Es gibt nichts Schöneres als ein Mysterium, wer wüsste das besser als er, Padre Vincenzo, schließlich hat er sein Leben dem größten von allen gewidmet. Lassen wir diesen Satz, der im Roman von Jean-Baptiste Andrea mittendrin platziert wurde, als fragendes Momentum am Ende dieses Textes stehen. Möge er seine Wirkung entfalten und dazu beitragen, geneigte Leser für dieses Buch gewinnen.
Jean-Baptiste Andrea: „Was ich von ihr weiß“
Luchterhand Literaturverlag
Roman
Übersetzt aus dem Französischen von Thomas Brovot
Gebunden, 512 Seiten
ISBN: 9783630878003
Weitere Informationen (Verlag)
Leseprobe als PDF
Auch als Hörbuch erhältlich:
Ungekürzte Lesung, Hörbuch Download, Hördauer: 15h 4min
Sprecher: Frank Arnold, Anton Guiseppe Arnold
Hörprobe (1:35 Min.)

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