Der Germanist Manfred Koch deutet in seiner Biographie Leben und Dichtung Rainer Maria Rilkes.
Rilke gehört zu den ganz großen Namen der deutschen Lyrik. Robert Musil brachte seine Bedeutung auf den Punkt, als er wenige Wochen nach dem Tod des Dichters erklärte, Rilke habe nichts anderes getan, „als daß er das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht hat.“
Aber trotz aller Bewunderung durch Musil und andere große Geister musste sich Rilkes einsame Größe immer wieder anzweifeln lassen. Es fanden und finden sich ausreichend Lyriker, die ihn nicht mögen, und Literaturwissenschaftler, die ihn nur wenig schätzen. Mit unverhohlener Verachtung schauen Germanisten auf die „Äußerungen der besitz- und bildungsfrohen Rilke-Gemeinde der zwanziger bis vierziger Jahre“ hinab, und Bertold Brecht störte sich an Gedichten, deren „Inhalt aus hübschen Bildern und aromatischen Wörtern“ bestand.
Aber ein Genie war er, ob es diesen Leuten passte oder nicht. Und das Merkwürdige ist (werden Genies sonst nicht verkannt?): Wenn er nicht der populärste unter den großen Dichtern des 20. Jahrhunderts sein sollte, dann steht er doch ganz oben auf der Liste, und seine Verehrer kennen nicht nur vieles auswendig, sondern wissen auch so einiges über sein Leben. Er reiste viel herum und hielt sich mal in Russland auf und mal in Skandinavien, er war der Geliebte von Lou Andreas-Salome, in den Worten Kochs einer „Überfrau“, und hatte etwas mit Worpswede zu tun, auch gefiel es ihm in Venedig und in Paris ziemlich gut, und er lebte nicht selten in Schlössern. Nun, und er starb früh. Was bleibt einem Biographen anderes zu tun, als Reisestationen aufzuführen und Rilkes nicht ganz wenige Liebschaften aufzuzählen? Wer dieses umfangreiche Buch gelesen hat, weiß aber schon etwas mehr als diese Äußerlichkeiten. Vor allem können wir nach dieser Lektüre die Gedichte Rilkes wie seine Prosatexte besser verstehen. Worauf sonst kommt es an?
Koch deutet das Leben des als René Rilke getauften Dichters ganz aus der Kindheit, wobei er das schlechte Verhältnis des Dichters zu seiner Mutter in den Mittelpunkt stellt. Das dürfte auch außer Zweifel stehen, aber der vielleicht einzige wirklich nennenswerte schwache Punkt dieses Buches ist eine Spekulation, die aus dem zwanghaften Onanieren des bereits sterbenskranken Rilke auf einen sexuellen Missbrauch durch seine Mutter schließen will. Als Begründung weiß Koch aber nicht mehr als das Buch irgendeines Psychiaters anzuführen und noch dazu einige sehr interpretationsbedürftige Zeilen aus der Dritten Elegie. Das hätte nicht sein müssen.
Viel seriöser ist es, wenn der Autor zunächst auf autobiographische Zeugnisse zurückgreift, die er dann mit dem „Malte“, wie er ihn kurz nennt, also mit den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910) ergänzt. Bei dem „Malte“ handelt sich nicht um einen Roman im strengen Sinne, sondern um eine Sammlung von Prosatexten, von Skizzen, Erinnerungen und Reflexionen, die mit erschreckender Radikalität das Seelenleben eines sehr, sehr einsamen Menschen erfassen. Brecht zum Trotz kommen „aromatische Wörter“ nicht gar so häufig vor, wohl aber großes Leid, das, folgt man Koch, Rilke geradezu gesucht hat, weil es ihm half, der große Dichter zu werden, der er unbedingt zu sein wünschte.
Angesichts der Pariser Skizzen denkt man unwillkürlich an Dostojewskis Großstadtromane, denn Rilkes Figur erinnert an die verzweifelten Helden des Russen wie Dewuschkin oder Raskolnikow, die sich in den grau dahinlaufenden Straßen St. Petersburgs an den Wänden der Mietskasernen entlangdrücken. Aber die Sprache… Dieser Ton war etwas ganz anderes: „Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin.“ An anderer Stelle heißt es: „Das stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze.“ Wollen wir das wirklich aromatisch nennen?
Koch schreibt über „Schreckensmomente“, an die sich „sich Malte nicht durch gezielte Suche in seinem Gedächtnis“ erinnert, sondern die ihn überfallen, „unvorbereitet und deshalb mit ungeheurer Wucht. Der Auslöser sind die Schocks des Großstadtlebens.“ Bestimmend für die Atmosphäre des Buches war Rilkes erster und zumindest zeitweise alptraumhafter Aufenthalt in Paris, wo er Auguste Rodin kennen und bewundern lernte. Dort, angesichts der Plastiken des Meisters, erweiterte er sein Spektrum in entscheidender Weise mit dem Konzept der Dinggedichte – deren berühmtestes ist natürlich „Der Panther“. Und noch dazu: Nicht allein der „Malte“, sondern auch das „Stundenbuch“ war eine Frucht dieses Pariser Aufenthalts, so sehr, dass Koch dieses Buch „eine Abrechnung mit Paris“ nennen kann.
Trotz der unglaublichen Virtuosität ihres Autors: Im Vergleich zu der Prosa des „Malte“ wirken die Gedichte des „Stundenbuches“, die ja eine ganz ähnliche Thematik darstellen und ebenfalls das Paris einfangen, in dem der noch junge Rilke lebte, durch ihr gewaltiges Dahinströmen, ihre Melodik und ihren Klangreichtum viel glatter und konventioneller. Dabei orientieren sie sich nicht mehr, wie es Rilke von Rodin abgeschaut und im „Panther“ vorexerziert hatte, an einem einzelnen Gegenstand, sondern sie zielen mit ihrem biblischen Sound auf religiöse (Ver-) Tröstungen:
Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.
Rilke war ein durch und durch ruheloser Mensch – „ein Fluchttier“ nennt ihn sein Biograph –, und er lebte mal hier und mal dort, nicht selten als Gast begüterter oder sogar sehr reicher Menschen. Schon wegen der „Duineser Elegien“ bringen viele von uns ihn mit dem Schloss Duino in Verbindung. Wie kam Rilke dazu, wie gelang ihm dieses Luxusleben? Leicht sarkastisch spricht Koch von dem „so meisterhaft beherrschten Genre des Bittbriefs“, denn sehr, sehr oft hat Rilke seine zahlreichen Gönner um Hilfe angefleht. Aber nicht nur gelegentlich hat er auch bescheidener nächtigen müssen, wovon ja nicht zuletzt der „Malte“ zeugt.
Schloss Duino in Duino-Aurisina, Friaul-Julisch Venetien. Lizenz: CC BY-SA 3.0 (Wikipedia)
Titelgebend für das Buch und Leitmotiv der Deutung eines Dichterlebens ist die Angst, unter der Rilke gelitten hat. Dass er sich tatsächlich geängstigt hat, steht fest, und schon auf der allerersten Seite des „Malte“ wird sie angesprochen („Es roch […] nach Angst“); aber ist es sicher, dass dieses Thema sein Leben so sehr bestimmt hat, wie Koch suggeriert? Manches scheint eine Überinterpretation. Zum Beispiel zitiert der Autor aus dem Venedig-Gedicht die zweite Terzine, in der sich eine Armada „ruderschlagend“ nähert: ist es glaubwürdig, zu schreiben, diese Vorstellung mache ihm Angst? Für mich ist es ein Bild, eine ästhetische Vision. Auch widerspricht Rilkes Leichtsinn der Behauptung, das Leben des Dichters habe immer unter dem Stern der Angst gestanden – ein Mensch unter dem Bann der Angst wird sich doch nicht notorisch leichtsinnig verhalten! Allerdings kann der Autor auch überzeugende Belege vorlegen, insbesondere aus dem „Malte“. Von seiner Furcht vor dem Tod heißt es dort: „Sie überfiel mich in der vollen Stadt, mitten unter den Leuten, oft ganz ohne Grund.“ Ganz gewiss schildert das Buch das Erleben seines Autors auch an dieser Stelle.
Rilke ein Sympathieträger? Nicht unbedingt, und Koch versucht ihn auch nicht als einen solchen hinzustellen. Ganz stark gegen ihn muss uns die Geschichte seiner Ehe einnehmen. Von seiner Frau, der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff, trennte er sich schon bald und ließ sie allein mit dem gemeinsamen Kind. Nur gelegentlich sollte er ihr in den folgenden Jahren beistehen.
Links: Porträt des Rainer Maria Rilke von Paula Modersohn-Becker, 1906 (Sammlung Ludwig Roselius). Rechts: Clara Rilke-Westhoff (Gemälde von Paula Modersohn-Becker, 1905. Gemeinfrei
Viele Leser des „Malte“ werden verunsichert durch den Titel – wie kommt es, dass ein Dichter aus Prag sich so ganz und gar in das Leben eines verarmten dänischen Adligen hineindenken konnte, den es nach Paris verschlagen hatte? Nun, eigentlich kommt es gar nicht auf Dänemark an, sondern auf die Schrecken einer Großstadt, die sich in 71 Prosaminiaturen geschildert sehen. Und der so dänisch anmutende Eigenname des Helden erinnert in Rhythmus und Vokalfolge sehr stark an den Namen seines Schöpfers. Auch deshalb steht es völlig außer Frage, dass der Autor über sich selbst spricht.
Am gelungensten scheint mir diese insgesamt sehr gelungene Biographie Kochs, wenn es um die „Duineser Elegien“ geht – und es geht oft um sie, denn mit dieser bedeutendsten seiner Dichtungen musste Rilke lange, lange kämpfen – mehr als ein Jahrzehnt. „Die menschlichen Gefühle“, so deutet Koch die Elegien, sind ihr eigentliches Thema. „Die Gedichte präsentieren ein rein inneres Geschehen, in dem verschiedenste Empfindungen als handelnde Personen auftreten. Vor dem Leser entfaltet sich ein regelrechtes Seelendrama mit mythischen Akteuren.“ Kochs ganz große Stärke sind seine vielen, oft feinen und sensiblen Beobachtungen zum Klang oder zur Motivik der Gedichte. „Überführbarkeit in Sprach-Musik“, schreibt er, „war das ausschlaggebende Kriterium dafür, was an Gegenständlichem, Weltlichem in seiner Lyrik erschien.“ Er ist sicherlich der richtige Interpret, was diese Qualitäten der Lyrik Rilkes angeht, und der Rezensent, der manche Stellen zuvor abwertend „Sprachgeklingel“ nannte, wird sich diese Bewertung doch noch einmal überlegen.
Die Biographie Kochs ist ein dickes Buch, in dem eine Vielzahl von teils sehr prominenten Personen auftritt (für das Namensregister ist der Leser dankbar!) und in dem eine Unzahl von Stationen an uns vorbeizieht. Aber trotz der insgesamt 29 Abbildungen in der Mitte des Buches und trotz der Fähigkeiten des Erzählers: vieles bleibt blass, vieles muss blass bleiben – vielleicht, weil sonst der Umfang dieser Biographie das Erträgliche übersteigen würde, aber manchmal wohl auch, weil über viele der Begegnungen nur wenig bekannt ist.
Fraglos ist dieses Buch als Anregung geeignet – es hilft, sich in der Literatur noch einmal umzuschauen. Ich zum Beispiel griff nach einem Buch Georg Simmels, nach „Philosophische Kultur“. Man darf vermuten, dass der Philosoph mit Rilke über Rodin gesprochen hat, und weil beide Autoren über den Bildhauer geschrieben haben, verglich ich ihre Überlegungen. Ich fand zwei großartige Essays, in denen sehr ähnliche Thesen vertreten werden und uns einerseits helfen, Gedichte wie das berühmte „Archaischer Torso Apollos“ zu verstehen (Koch gibt da wertvolle Hinweise), andererseits, Simmels Rembrandt-Buch mit ähnlichen Überlegungen zu einem ganz anderen Künstler zu ergänzen.
Vieles wird uns wohl immer verborgen bleiben. Denn worüber ging es in den Gesprächen mit Jakob von Uexküll? Das wüsste ich zu und zu gern! In den „Duineser Elegien“ finden sich Passagen, deren Thematik sehr gut in die aufkeimende philosophische Anthropologie passt, die von Uexküll wertvolle Anregungen erfuhr. Aber erst Jahre später erschienen Plessners und Schelers berühmte Bücher. Rilke also befand sich hier wie auch sonst sehr oft durchaus auf der Höhe der Zeit.
Das Buch ist die lesenswerte und anregende Biographie eines Menschen, der buchstäblich alles seiner Kunst geopfert hat – nicht zuletzt, vielleicht sogar zuerst sein eigenes Glück.
Manfred Koch: Rilke. Dichter der Angst. Eine Biographie.
C. H. Beck 2025
560 Seiten
ISBN: 978-3406821837
Weitere Informationen (Verlag)
Leseprobe (PDF-Download)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment