Antonia Giacobbe ist im italienischen Scido (Kalabrien) geboren und lebt heute in Rom, wo sie ihr Studium der Klassischen Literaturwissenschaft abgeschlossen hat. Danach arbeitete sie lange und intensiv als Medizinische Technologin für Radiologie in der diagnostischen und therapeutischen Abteilung für bildgebende Verfahren an der Poliklinik Tor Vergata in Rom.
Heute schreibt sie Gedichte und pendelt im südeuropäischen Raum zwischen Italien (Rom) und dem Baskenland (Vitoria), wo sie im Rahmen eines dualen Promotionsstudiums an einem Forschungsprojekt zur Krankheit und sozialen Not im Werk des süditalienischen Schriftstellers Corrado Alvaro (1895–1956) und zu dessen Rezeption im spanischen Kontext arbeitet.
Antonia Giacobbes fachärztliche Spezialisierung auf die weibliche Brust führte dazu, dass sie ein besonderes Augenmerk auf die Besonderheiten der Prävention, des Pflegeaspekts sowie auf die tiefgreifenden und komplexen Dynamiken richtet, die das Erleben von Krankheit beeinflussen. Ausgehend von daraus entstehenden Ambivalenzen zwischen Körper und Seele entstand ihr erster, 2014 erschienene Band über die Zusammenhänge der weiblichen Brust und unserem kollektiven, imaginativen sowie symbolischen Wissen im Licht vom therapeutischen Wert des Erzählens und der Kunst, von und mit Bildern zu leben. Anschließend veröffentlichte sie die Gedichtsammlung Fino al cuore dell’ultimo seme. Poesie e immagini (Roma, Gangemi Editore, 2022) – wörtlich übersetzt etwa: „Bis ins Herz des letzten Samens. Gedichte und Bilder“ –, die 2022 den Minturnae Ornella Valerio Preis in der XLVI. Ausgabe erhielt.
Darin widmet sich die Dichterin Giacobbe einer dreifachen poetischen Identität: der als Mutter, als Ehefrau und als Tochter. In seinem Vorwort zur italienischen Ausgabe spürt der renommierte Italianist, Nordamerika-Spezialist und vielseitige Autor zahlreicher literarischer sowie Theater- und Film-Studien, Rino Caputo (Universität Tor Vergata, Rom), Giacobbes „Vogelflügen als Frau“ auf der Suche nach Freiheit und Frieden nach. Insbesondere hebt Caputo die synkretistische Sprache hervor, die Farben, Klänge und rhetorische Figuren zu einem ausdrucksstarken Porträt des Südens – das an Antonia Giacobbes italienische Heimatregion Kalabrien und deren Küsten und Meerlandschaften erinnert – vermischt.
Das im Buch enthaltene Nachwort des römischen Fotohistorikers Alberto Manodori Sagredo weist auf die Synergien zwischen Antonia Giacobbes Lyrik und den sie – Seite für Seite – begleitenden stimmungsvollen Fotografien ihres Bruders Giuseppe Giacobbe hin. Dessen Leidenschaft für die Fotografie verdankt er dem Einfluss seines Vaters, der ihm als Amateurfotograf schon in jungen Jahren seine Liebe zu Bildern und dem Licht vermittelt hat. So experimentierte Giuseppe Giacobbe als Autodidakt seit seiner Jugend mit analogen Entwicklungs- und Drucktechniken in der Dunkelkammer. Dabei hat er verschiedene Phasen in der Entwicklung einer eigenen Bildsprache vom Film über die Digitalfotografie bis hin zu innovativen Verfahren durchlaufen, ohne dabei je das Wesentliche der Fotografie aus den Augen zu verlieren – nämlich Geschichten mit Hilfe vom Licht und von Bildausschnitten zu erzählen.
Im Laufe der Zeit hat sich Giuseppe Giacobbes Leidenschaft zu einer professionellen Tätigkeit entwickelt, die hauptsächlich mit Auftragsarbeiten verbunden war bis er, unterstützt von seiner Schwester Antonia, zur Autorenfotografie fand. Für KulturPort.De haben wir 7 der insgesamt 33 Gedichte aus dem Buch ausgewählt und ins Deutsche übersetzt. Zum Start in eine neue Woche begleiten sie den Leser Tag für Tag im atmosphärischen Crossover von Wort und Bild, symbolisch aufgeladen von der Strahlkraft jener luftig-leichten, mediterranen Meeresbrise und den häuslichen, naturnahen Impressionen, die die Fotografien von Giuseppe Giacobbe in der italienischen Originalausgabe auszeichnen: Einige davon sind in unserer Fotogalerie zu finden.
Geflüster
Hin und her Geflüster
liebliche Bilder.
In einer Ecke des Hauses
flüssiges Licht
streichelt weiche Kanten.
Die Sehnsucht schwebt,
Gewässer ohne Erinnerung
bringen Düfte zum Schmelzen.
Auf dem Oleanderzweig
die ewige Zeit.
Das Warten auf Sinn
Am Tag in aller Stille
stumme Worte sich entkleiden,
nackt schreiben sie das Leben,
rückwärts fliegen sie entblößt.
An der anderen Seite des Endes
Momentaufnahme eines Blicks
und Leere die nährt.
Eine Möwe im Wind
das Warten auf Sinn.
Nackte Natur
Schönheit
der Brüste
wo das Herz sein’ Durst stillt.
Offenbarung
der Hüften
wo die Meeresbrise spielt.
Nackte Natur neigte
ihr Haupt, hörte
Zuckungen im Morgenrot.
Dido stirbt
Es ist zum ersten Mal Tag
Heute.
Der Chor flüstert nicht mehr
Er verstummt.
Das Cello zerreißt keine Eingeweide
Es begleitet.
Schreckliche Erleichterung
das Rennen durch die Bäume.
Dort unten
süßes Schimmern des Meeres,
plötzlicher Blick auf silberne Dünen,
umhüllende Rückkehr eine weiche Wiege.
Dido stirbt,
(endlich!)
Einsam.
Möwenflüge
Schwappendes Wasser
Gemurmel
Leichter Wind durch gräserne Halme.
Foto: Pixabay
Ich hätte gerne deine Hände
Ich hätte gerne deine Hände
rau und duftig
wie Brot.
Brot und Wasser
nähren
die Unschuld meiner Augen.
Bewegungslose Wesen
linderten die Angst.
Das Nudelholz auf dem Tisch,
das Mehl im Backbrett,
der Lavendel in der Schublade,
der Stoffpuppe Geruch
nach Dingen,
und Zuhause.
Die Gesten der Hände
im unscheinbaren Gerät
vorsichtig und bedächtig
mich beschützend.
Verträumte Atemzüge
in verloschenem Herbstlicht
über mich wachend.
Eine ergreifende Süße
wenn Dinge zu Atem werden.
Im wirbelnden Raum
horchte auf
jedes kleine Ding.
Schwache geheime Lichter
perlige Körner
in schräger Scherbe,
täglich eine Sonne
da mich zu trösten.
Am Abend,
ein Korb aus geflochtenem Schilf
meine zitternde Seele.
Weiße Blumen auf
der schiefen Schwelle
die Hoffnung des Morgens.
Das Echo der Anlandung
Singsänge umschweben leicht
die Felsen
bedeckt mit Meeresfrüchten,
erheben sich
nicht mehr wissend,
entfliehen sie
den Eingeweiden des Meers.
Die Arme um Knie geschlungen
bewegen sie die Stille,
oszillieren im wirren Gefühlsfluss,
sich öffnend um zu schauen.
Schaukeln durchflutet den Traum,
dehnt Körper aus.
Sanft entschwindet das Echo der Anlandung.
Foto: Giacomo Ma/Pixabay
Wache über mich!
Das Licht blendet!
Wache über mich!
Wie beim Wiegen in alten Armen.
Rauchendes Schilf
die Sicht verschleiert auf den Pfad.
Leer der brennende Horizont
hinter der hohen Klippe.
Ohrenbetäubende Zikaden,
dehnen die Zeit.
Wie dünne Umrisse
landen Erinnerungen
auf Ginsterblüten.
Indigoblau
umträumt kahle Zweige.
Im halboff’nen Meeresauge
langsame Liebkosungen
sanftmütig
der Himmel träumt.
Zartes Vergessen
umhüllt
die Kindheit und ihr Erwarten.
Leichte Füße jagen Gedanken,
umspülen Kristallspalten.
Unbekannter Stachel
im schlafend kleinen Körper.
Über olivgrüner Haut
Lust und Begehren fluten.
Antonia Giacobbe: Fino al cuore dell’ultimo seme. Poesie e immagini
Zur Autorin:
Die Gedichte stammen aus dem Lyrikband von Antonia Giacobbe, der 2022 unter dem italienischen Originaltitel „Fino al cuore dell’ultimo seme. Poesie e immagini" erschienen ist (Rom, Gangemi Editore, 2022). Die Autorin hatte zuvor bereits ein Sachbuch veröffentlicht (Il seno e la conoscenza immaginativa e simbolica, Rom, Armando Curcio Editore, 2014) und absolviert derzeit ein Promotionsstudium in Italianistik an der Universität Roma Tor Vergata (Italien) und der Philologischen Fakultät der Universität País Vasco-Vitoria (Spanien).
Ihr Bruder Giuseppe Giacobbe wurde 1974 in Scido (Kalabrien) geboren, wo er noch heute lebt und im Gesundheitswesen sowie als freier Fotograf tätig ist. Seine 33 Fotografien illustrieren Antonia Giacobbes ebenso viele Gedichte im Band Fino al cuore dell’ultimo seme, dessen Titelbild ebenfalls eine Fotografie von Giuseppe Giacobbe zeigt.
Zum Buch:
Die hier auf Deutsch erstmals veröffentlichten 7 Gedichte von Antonia Giacobbe sind unter den folgenden (in runden Klammern vermerkten) italienischen Originaltiteln auf den jeweils angegebenen Seiten der o.g. Ausgabe von Fino al cuore dell’ultimo seme erschienen: „Geflüster“ (Sussurri, S. 17); „Das Warten auf Sinn“ (L’attesa del senso, S. 43); „Nackte Natur“ (La natura nuda, S. 61); „Dido stirbt“ (Didone muore, S. 25); „Ich hätte gerne deine Hände“ (Vorrei le tue mani, S. 3); „Das Echo der Anlandung“ (L’eco dell’approdo, S. 15); „Wache über mich!“ (Veglia su di me, S. 23).
Mehr ins Deutsche (und ins Englische) übersetzte Gedichte von Antonia Giacobbe, die deren bleibende Schönheit – neben den italienischen Originalversen abgedruckt – auch in andere Idiome mit unterschiedlichen Rhythmen, Klängen und musikalischen Effekten übertragen, sind in dem im Druck befindlichen Band Growing Together. The Multifaceted Connections between Medical Humanities, Posttraumatic Experiences, Literature, and Art Therapy, hrsg. von Dagmar Reichardt, Katharina Fürholzer und Julia Pröll, (Transcultural Studies – Interdisciplinary Literature and Humanities for Sustainable Societies), Berlin et al., Peter Lang, 2025 (im Druck), enthalten.
Weitere Informationen (Verlag, ital.)
Zu den Fotos der Galerie:
Die in der Galerie abgebildeten fünf Fotos stammen von Giuseppe Giacobbe und sind jeweils in der o.g. Ausgabe von Fino al cuore dell’ultimo seme auf den folgenden Seiten erschienen: Sussurri (dt.: „Geflüster“), S. 16; Negli occhi un bisogno (dt. etwa: „In den Augen eine Not“), S. 20; La paura (dt. etwa: „Angst“), S. 40; Autunno (dt. etwa: „Herbst“), S. 48; Fino al cuore dell’ultimo seme (dt.: „Bis ins Herz des letzten Samens“), S. 74. Wir danken dem Fotografen Giuseppe sowie der Autorin Antonia Giacobbe für die Überlassung der Abdruckrechte.
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