Literatur
Buchumschlag. Lea De Gregorio. Foto: privat. © Lea De Gregorio

Lea De Gregorio (geb. 1992) ist in Hessen aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Sie hat Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaften studiert, schloss einen Master in Europäischer Ethnologie und einen zweiten in Philosophie ab.

 

Sie volontierte bei Amnesty International und war anschließend dort als Redakteurin für Gesellschaftsthemen zuständig. Seit dem Studium schreibt sie auch für überregionale Medien wie „Die Zeit“, „Deutschlandfunk Kultur“ und die „taz“.

 

Jetzt hat Lea De Gregorio mit „Unter Verrückten sagt man du“ ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Es ist zweifellos ein spannendes Buch, das ganz bewusst keinem Genre zugeordnet ist. Es enthält sowohl Autobiografisches als auch Geschichtliches und Wissenschaftliches. Über dieses Buch und seine Entstehungsgeschichte sprach die Autorin Lea De Gregorio mit Marion Hinz, Literaturressortleiterin von KulturPort.De.

 

Marion Hinz (MH): Was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben?

 

Lea De Gregorio (LDG): Anstoß waren meine eigenen Psychiatrieerfahrungen, das Schweigen in der Gesellschaft über Missstände in den Institutionen, die fehlende Auseinandersetzung mit der Diskriminierung von Verrückten. Ich habe eine Sprache gesucht, um von Erfahrungen zu erzählen, über die kaum gesprochen wird. Nicht mal in Therapien geht es unbedingt um das Erleben während der Verrückungen und auch selten um die teils sehr belastenden Erfahrungen, die Menschen auf psychiatrischen Akutstationen machen. Es wird viel verdrängt, und mit dem Buch habe ich angefangen zu sprechen, ich wollte einen Diskurs anregen. Und ich wollte zeigen, dass die Psychiatrie ein gesamtgesellschaftliches Thema ist.

 

MH: Wie sind Sie auf den Titel gekommen?

 

LDG: Der Titel „Unter Verrückten sagt man du“ ist von einer Begegnung mit der Autorin und Bildhauerin Dorothea Buck inspiriert, die ich in dem Buch schildere. Ich habe sie als junge Journalistin für die taz porträtiert, inzwischen ist sie gestorben, damals war sie schon über 100. Nach dem Interview habe ich ihr erzählt, dass ich ähnliche psychische Zustände erlebt habe wie sie. Daraufhin hat sie mir gesagt, dass sie sich darüber freue, mir das „Du“ angeboten und erklärt: „Alle Verrückten sagen du“. Und es ist tatsächlich so, in gruppentherapeutischen Settings zum Beispiel. Der Therapeut wird hingegen gesiezt. Der Titel illustriert nicht nur das Menschliche an psychischen Ausnahmezuständen, sondern auch ein Machtgefälle, das ich in dem Buch kritisiere.

 

MH: Was bedeutet für Sie der Begriff „verrückt“?

 

LDG: Ich benutze den Begriff als Reclaiming zur Bezeichnung von Zuständen, die im medizinischen Sinne als Manie oder Psychose bezeichnet werden, auch um einen Biologismus zu kritisieren. Bei einem Reclaiming geht es darum, sich einen Begriff, der als Fremdbezeichnung diskriminierend ist, selbstbestimmt zu eigen zu machen, ihn positiv zu konnotieren. Ich habe den Begriff in der Betroffenenbewegung öfter gefunden, manchmal wird er auch mit Bindestrich geschrieben also „ver-rückt“, im Englischen ist der Begriff „Mad“ verbreitet. Ich mag im Deutschen auch die Idee, dass etwas ver-rückt, wie wenn man ein Objekt ver-rückt. Der Begriff beschreibt die Verrückung der Wahrnehmung, das Wegrücken von der Norm und auch das gedankliche oder tatsächliche ver-rückt werden an den gesellschaftlichen Rand.

 

MH: Das Buch ist keinem Genre zugeordnet? Warum ist das so?

 

LDG: Ich würde sagen, dass man es keinem Genre eindeutig zuordnen kann. Man könnte es Memoire nennen, teilweise wird es als „Romanhafte Biografie“ bezeichnet. Aber es gibt auch viele analytische und essayistische Passagen, ich habe mit verschiedenen Menschen dafür gesprochen, viel recherchiert. Das Buch ist teilweise fast wissenschaftlich geschrieben, teilweise poetisch. Es gibt eine Ich-Erzählerin und eine Handlung. Ich finde, dass diese ungewöhnliche Form sehr gut zum Inhalt passt. Und letztlich ging es mir beim Schreiben ja gerade darum, Kategorien aufzubrechen. Darum muss ich schmunzeln, wenn Buchhändlerinnen sagen, sie wissen nicht, in welchem Regal sie das Buch einsortieren sollen.

 

MH: Welche Themenkreise behandeln Sie in Ihrem Buch?

 

LDG: Ich erzähle meine Erfahrungen, die ich als „Verrückte“ gemacht habe und diese sind Ausgangspunkt für unterschiedliche Themen, die mit der Psychiatrie zusammenhängen: Es geht um das Leib-Seele-Problem, um Sprache, um die Geschichte der Psychiatrie, insbesondere während der NS-Zeit, und um Erinnerungskultur, um Diskriminierung, Identität, auch um Feminismus, um Menschenrechte. Man kann sagen: Das Buch knüpft in Teilen an die Psychiatriekritik der 70er Jahre an und rückt sie in unsere Zeit, etwa indem das Buch an aktuelle Diskriminierungsdiskurse anschließt.

 

MH: Sie haben unglaublich viele Bücher gelesen für Ihre Recherche. Vieles davon ist in Ihr Werk „Unter Verrückten sagt man du“ eingeflossen. Das Ergebnis ist dort eindrucksvoll nachlesbar. Welche dieser Bücher haben Sie in diesem Zusammenhang insbesondere – möglicherweise auch nachhaltig – beeindruckt und beeinflusst?

 

LDG: Sicherlich Klassiker wie „Wahnsinn und Gesellschaft“ von Michel Foucault und die Bücher des Soziologen Erving Goffman. Außerdem „Feministische Psychiatriekritik“ der Kulturwissenschaftlerin Peet Thesing und das sehr aktuelle Buch „Die Vermessung der Psychiatrie“ des Psychiaters Stefan Weinmann. Dann philosophische Literatur zu Phänomenologie, darunter das Buch „Schizophrenie – eine philosophische Erkrankung?“ von Andrea Moldzio, auch die Arbeit des Journalisten Ernst Klee war sehr wichtig, er war einer der ersten, der über die sogenannten Euthanasie-Verbrechen des Nationalsozialismus geschrieben hat. Und besonders wichtig war die Biografie „Auf der Spur des Morgensterns“ von Dorothea Buck.

 

MH: Sie haben außerdem sehr viele Gespräche mit Professionellen, Betroffenen und Angehörigen geführt. Dabei taucht der Name Dorothea Buck immer wieder im Buch auf. Wer ist diese Frau und was bedeutet sie für Sie?

 

LDG: Dorothea Buck war Autorin, Bildhauerin und eine wichtige Psychiatriekritikerin, die sich für eine menschlichere Psychiatrie einsetze. Sie hat mich vor allem mit ihrem positiven Blick auf menschliche Zustände geprägt, die im medizinischen Sinne unter dem Begriff Psychose subsumiert werden. Dorothea Buck hat zu mir gesagt, dass sie sich freut, dass ich diese Erfahrungen gemacht habe und mich ermutigt, darüber zu schreiben. Und sie hat gesagt, dass die Psychosen für sie eine Bereicherung waren, eine Chance zur Selbstfindung. Zwischenzeitlich wollte ich das nicht glauben, weil ich überfordert war, keinen Sinn in diesen Erfahrungen sehen konnte, die Mediziner Manie oder Psychose nannten und die in der Gesellschaft als krank gelten sollten. Heute würde ich wieder sagen, Dorothea Buck hatte recht damit, dass man diesen Erfahrungen auch einen Sinn abgewinnen kann. Sie hat die Psychiatrie stark beeinflusst und stets an die NS-Psychiatrie erinnert, die sie selbst erlebt hat, sie wurde damals zwangssterilisiert.

 

MH: Sollten wir uns ebenfalls mit Dorothea Buck beschäftigen? Gibt es Bücher von ihr, die Sie uns empfehlen können?

 

LDG: Unbedingt. Ihre Biografie „Auf der Spur des Morgensterns“ ist sicher das Wichtigste. Aber sie hat auch ein Buch mit Ermutigungen veröffentlicht und einen Briefwechsel. Diese beiden Bücher sind besonders für Menschen mit eigenen Verrücktheitserfahrungen empfehlenswert.

 

MH: Sie sprechen an einer Stelle im Buch von der „Wirklichkeit des Wahnsinns“. Was ist darunter zu verstehen?

 

LDG: Das, was wir Wirklichkeit oder Realität nennen, ist ja immer gesellschaftlich gemacht. Ich fand die Theorien der beiden Soziologen Alfred Schütz und Thomas Luckmann sehr hilfreich, um zu verstehen, was unsere alltägliche Wirklichkeit von der Wirklichkeit des Wahnsinns unterscheidet. Die beiden prägen den Begriff der alltäglichen Lebenswelt, unter der sie einen, wie sie schreiben, „Wirklichkeitsbereich“ meinen, der fraglos gegeben ist, „den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstands als schlicht gegeben vorfindet“. Wir hinterfragen nicht, warum es zum Beispiel um vier Uhr vier Uhr ist. Vieles tun wir einfach, ohne darüber nachzudenken. Und in der Verrückung habe ich alles fundamental hinterfragt. Man rückt sozusagen aus dem gewohnten kulturellen Kontext heraus, und liest die Welt nicht mehr auf eine gemeinsame, sondern eine sehr individuelle Weise.

 

MH: Was sind mögliche Verursachungen für eine „Verrückung“, wie Sie es nennen?

 

LDG: Auch hier helfen die beiden Soziologen. Schütz und Luckmann schreiben, dass ein Gefühl des „Und-so-weiter“ und „Ich-kann-immer-wieder“ unsere alltägliche Lebenswelt prägt. Und Verrückungen treten oft in Umbruchsituationen auf – wenn dieses Gefühl durcheinander gerät. Traumatische Erfahrungen gelten etwa als Ursache. Bei der sogenannten „SuSi“-Studie „zum subjektiven Sinn von Psychosen“ kam heraus, dass fast 90 Prozent diese Zustände im Kontext der eigenen Biografie und Person verstehen, auch wenn Drogen oder die Annahme genetischer Faktoren als Mehrfachnennungen möglich waren, ebenso wie Schlafentzug. Aber auch der kann mit biografischen Erfahrungen zusammenhängen, wenn man wachliegt und darüber nachdenkt, und im Zusammenhang von Drogenkonsum sprechen manche von „Selbstmedikation“. Auch Kommunikationsprobleme in Beziehungen sollen diese Zustände bedingen. Es ist schwer, eine einzige Ursache festzumachen. Ich würde von einer Lebenskrise sprechen. Leider werden biografische und soziale Faktoren zu wenig berücksichtigt, die Biologie steht oft im Vordergrund.

 

MH: Welche Erfahrungen haben Sie in der Zeit Ihrer Verrückung gemacht?

 

unter verrueckten sagt man du COVERLDG: Ich hatte das Gefühl, dass alles mit allem zusammenhängt, habe Zufälle hinterfragt, mich gefragt, ob es so etwas wie Schicksal gibt, mich viel mit Fragen befasst, die man der Metaphysik zurechnen würde. Das sind ja Erfahrungen, die Menschen auch in spirituellen Kontexten machen – ebenso wie ein symbolisches Erleben, auch dieses Erleben aus Verrückungen findet sich sonst in religiösen Kontexten oder auch in der Kunst. Der Unterschied bei der Verrückung ist, dass man aus dem Zustand alleine nicht unbedingt wieder herauskommt. Ich habe außerdem vor und während der Zustände mehrere Nächte nicht geschlafen, war sehr kreativ. Alles war intuitiv, ich habe sehr schnell gesprochen und geschrieben, und dachte, das Schreiben sei meine „Mission“. Mein Körpergefühl war verändert. Mir kam die Gesellschaft seltsam vor und ich hatte phasenweise Angst, in der letzten Verrückung vor paar Jahren vor Nazis, was ich darauf zurückführte, dass die AfD bei einer Wahl viele Stimmen gewonnen hatte. Ich war aber auch begeistert, etwa von der Natur, und die Welt erinnerte mich immer wieder an ein Theater.

 

MH: Was sind die größten Herausforderungen für Menschen mit psychischen Störungen während einer Verrückung?

 

LDG: Ich würde sagen: sich verständlich zu machen, anderen zu erklären, was man erlebt. Das ist vielleicht auch im Nachhinein das Überfordernde, auch für das Umfeld. Und dann ist es oft kaum möglich, den Alltag in diesem Zustand zu leben wie sonst. Und weil diese Zustände so intuitiv sind, tun manche Menschen Dinge, die ihnen später leidtun. Auch der Sinn, den ich in den Zuständen gesehen habe, hat mich zeitweise überfordert. Ich denke, man kann in diesen Zuständen nicht nur Erkenntnisse über sich selbst, sondern auch über unsere Gesellschaft gewinnen, und Verrückungen können Anlass für Veränderung sein, im eigenen Leben, auch Anlass für Kritik an der Gesellschaft oder Anstoß zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollen oder Beziehungen. Wenn man die Welt aus einer anderen Perspektive sieht, kann das bereichernd sein, es kann einem aber auch langfristig die Orientierung nehmen.

 

MH: Wie haben die Menschen in Ihrer Umgebung auf Ihre Verrückung reagiert?

 

LDG: Ganz unterschiedlich: fasziniert, ablehnend, beeindruckt, überfordert, verzweifelt, aggressiv, schweigend, verständnisvoll…

 

MH: Gibt es Menschen, Institutionen, die Ihnen in und durch diese Zeit besonders wichtig geworden sind?

 

LDG: Vor allem Menschen, die selbst schonmal verrückt waren.

 

MH: Sie waren in der Psychiatrie und auch in der Reha. Hat sich für Sie persönlich dadurch dauerhaft etwas zum Positiven verändert?

 

LDG: Nach meinen Psychiatrieaufenthalten ging es mir sehr schlecht, vor allem nach dem ersten. Nach dem zweiten und dem dritten habe ich schnell wieder im Alltag „funktioniert“ und das wollte ich auch, obwohl ich das heute durchaus auch kritisch sehe: diese Idee, dass man „gesund“ sei, wenn man arbeiten kann – und dass das höchste Gut sei. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die für Krisen und das Hinterfragen der „Normalität“ im Alltag wenig Lücken lässt. Die Psychiatrie, und dazu muss man sagen, dass ich auf Akutstationen war, hat für mich viele negative Spuren hinterlassen, ich würde die Aufenthalte als traumatisch beschreiben, ich habe vieles entwürdigend empfunden und eine sehr große Ohnmacht gespürt. Die Reha war eine ganz andere Erfahrung, daran habe ich vor allem gute Erinnerungen.

 

MH: Ist Verrücktsein eine genetische, also biologische Krankheit oder eine chemisch bedingte oder eine Geisteskrankheit oder ist es gar keine Krankheit, nichts von alldem, sondern etwas – vielleicht sogar ganz etwas - anderes?

 

LDG: Liebe und Scham sind auch nicht einfach bloß biochemische Vorgänge, und so ist es auch mit dem Verrückt-werden. Es gibt keine Theorie, die die konkreten Gedanken während dieser Phasen biologisch erklärt – sie hängen mit unserer Gesellschaft und der Biografie, unserem Umfeld zusammen. Es ist bis heute nicht klar, welche Rolle Gene spielen. Und die eugenischen Ideen von „guten“ und „schlechten“ Genen erinnern an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Ich benutze den Begriff „krank“ selten, ich finde nicht, dass er hilft, um die Phänomene zusammenzufassen – gerade, weil ich auch sehr viel Positives mit diesen Zuständen verbinde. Viele sehnen sich gar nach diesen Zuständen zurück, auch das wollte ich mit dem Schreiben verstehen. Es gibt Betroffene, die nutzen den Begriff „krank“, andere wehren sich dagegen, ich würde sagen, es ist ein veränderter Zustand des In-der-Welt-seins.

 

MH: Welche Rolle spielen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie und sind sie eher notwendig oder überflüssig?

 

LDG: Menschen können nun mal in Zustände geraten, in denen sie die geteilte alltägliche Lebenswelt aus dem Blick verlieren und sich darin nicht mehr zurechtfinden. Darum ist eine Begleitung in solchen Zuständen wichtig. Aber leider heißt das in unserer Gesellschaft oft, dass man auf Akutstationen oder beschönigend genannt „geschützten Stationen“ eingesperrt und dort in einem sehr sensiblen Zustand völlig allein gelassen werden kann. Ich denke, man müsste sich um mehr Alternativen zu Zwang bemühen und im Blick behalten, wie sehr Zwang Menschen traumatisieren kann. Es heißt oft Zwang sei das letzte Mittel, aber leider werden Menschen gerade in Zuständen, die als Psychosen diagnostiziert werden, oft gar keine anderen Wege angeboten als ein Aufenthalt auf einer Akutstation mit einer Tür, die man nicht eigenständig öffnen kann. Und das ist sehr beängstigend.

 

MH: Ist eine Diagnose im Bereich der Psyche grundsätzlich hilfreich oder ist das individuell verschieden?

 

LDG: Diagnosen suggerieren, dass es Menschen gäbe, die „gestört“ seien und andere nicht – und zwar dauerhaft „gestört“. Ich würde sagen, Menschen sind verschieden, und sie reagieren unterschiedlich auf die Herausforderungen des Lebens. Der Mensch ist sehr fragil, manche sind sensibler als andere. Diagnosen können zum Beispiel helfen, Menschen zu treffen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Aber man sollte bedenken, dass sie in einer problematischen Tradition stehen, man denke nur an Emil Kraepelin: seine Schüler mordeten eifrig im Nationalsozialismus und doch prägt er das Diagnosesystem bis heute. Hinzu kommt, dass Diagnosen Konstrukte sind: Wer drei Psychiater fragt, kann drei verschiedene Diagnosen bekommen.

 

MH: Manche Therapeuten bezeichnen Psychosen als Lösungsversuche, schreiben Sie. Als Lösungsversuche wovon?

 

LDG: Beispielsweise als Lösungsversuch für einen inneren Konflikt oder ein Ausweg aus einer Welt, die Menschen überfordert. Sie können ein Zustand sein, wo Menschen sich hinein flüchten, wenn die Welt unerträglich wird. Das Problem ist, dass dem in Therapien oft nicht nachgegangen wird: also gefragt wird, was sich in diesem Zustand ausdrückt, welche unbewussten Inhalte darin zum Vorschein kamen. Vielmehr geht es häufig vor allem darum, sie möglichst zu verdrängen – beispielsweise mit hochdosierten Medikamenten. Selbst viele Psychoanalytiker, habe ich mir sagen lassen, beschäftigen sich in Therapien nicht mit den Inhalten dieser Zustände. Dabei könnten sie gerade für Psychoanalytikerinnen – ähnlich wie ein Traum – eine Fundgrube sein.

 

MH: Mir ist aufgefallen, Sie setzen das Wort „Professionelle“ stets in Anführungszeichen. Warum ist das so?

 

LDG: „Professionell“ heißt ja einfach, dass man in einem bestimmten Gebiet eine Ausbildung hat bzw. sich beruflich mit etwas beschäftigt. Ich habe den Begriff „Professionelle“ aber bisher in keinem anderen Gebiet so oft gehört, wie als Bezeichnung von Psychologen und Psychiatern. Und auch Menschen anderer Disziplinen können sich mit der Psychiatrie und verwandten Themen befassen. Gleichzeitig gibt es eine Bewegung dahin, dass die „Verrückten“ als Experten gelten für das, was sie erlebt haben. Denn die „Profis“ haben zwar viel über Kategorien und Theorien gelernt, aber sie haben die Erfahrungen aufgrund deren sie Menschen in diese Kategorien einsortieren selbst meistens gar nie gemacht. Ich finde es wichtig, das zu berücksichtigen. Und wenn man sich kritisch mit den Zuständen auf Akutstationen auseinandersetzt und den Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie, ist „Profi“ ein irritierendes Wort…

 

MH: Alltag wird von „Professionellen“ oft als „heilsam“ beschworen, schreiben Sie. Was daran ist nach Ihrer Erfahrung und Recherche hilfreich bei psychischen Störungen, bei psychischer Andersartigkeit, bei sogenannter Abnormität?

 

LDG: Man gilt ja dann als „gestört“, wenn man im Alltag nicht mehr „funktioniert“. Und sicherlich kann ein Alltag auch helfen, sich wieder in einer geteilten Alltagsrealität, in der alltäglichen Lebenswelt zurecht zu finden. Ich finde dieses ständige Festhalten an Strukturen, die andere Menschen bestimmen, aber auch problematisch. Ein Alltag kann eine Stütze sein, er kann aber auch etwas Totalitäres haben. Ich finde es wichtig, zu erkennen, dass „Andersartigkeit“ oder „Störung“ gesellschaftliche Konstrukte sind. Wer definiert denn, was normal ist? Und was heißt überhaupt Alltag? Alltag heißt leider oft, dass man in einer neuronormativen Welt funktionieren muss, in einem Alltag, der für Menschen, die vielleicht anders „ticken“ oder zeitweise in Krisen stecken, nicht unbedingt gemacht ist.

 

MH: Kann Philosophie die Psychologie unterstützen, um von „Verrückungen“ Betroffenen zu helfen?

 

LDG: Ich glaube, dass Menschen in verrückten Zuständen am ganzen Körper die großen, philosophischen Fragen erleben, die Immanuel Kant einmal formuliert hat: „Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was kann ich wissen? Was ist der Mensch?“. Die Ärztin und Philosophin Andrea Moldzio hat geschrieben, Psychiater müssen philosophieren. Und das denke ich auch, es sind ja existenzielle Fragen, die Menschen in diesen Zuständen umtreiben, Fragen nach dem guten Leben, Fragen über die Realität, das Dasein, die Gesellschaft. Aber leider ist die Psychologie heute wieder sehr naturwissenschaftlich geprägt.

 

MH: Was wäre außerdem hilfreich?

 

LDG: Sich mit den verrückten Gedanken auseinanderzusetzen, anstatt sie zu verdrängen und sie im Kontext der Gesellschaft und der individuellen Biografie zu verstehen. Auch für Angehörige kann das hilfreich sein. Ich erinnere mich an eine Person, die mir erzählte, dass sie durch die Auseinandersetzung mit der verrückten Gedankenwelt eines Angehörigen viel über die Dynamiken in ihrer Familie lernte. Leider ist es jedoch sehr schwierig, einen Therapeuten oder eine Therapeutin zu finden, die das tut. Es wäre außerdem wichtig, Menschen mit eigenen Psychiatrieerfahrungen mehr einzubinden, und zwar beispielsweise auch in Entscheidungspositionen, anstatt sie zu diskriminieren, wenn sie im psychiatrischen System arbeiten. Denn es ist sehr schwer, ver-rückte Zustände nachzuvollziehen, wenn man die Erfahrung nicht kennt.

 

MH: Ist die Psychose also auch eine Wahrnehmungsform, in der unsere Wirklichkeit anders „gelesen“ wird, wie Sie schreiben?

 

LDG: Ja, das ist sie. Es gibt kulturwissenschaftliche Theorien, in denen die Kultur als Text verstanden wird. Wir alle „lesen“ ja die Wirklichkeit, normalerweise ist es eine gemeinsame Lesart, in der Verrückung wird sie individueller. Es ist aber zugleich zu sagen, dass die Zustände, die unter die Begriffe „Psychose“ oder „Manie“ gefasst werden, sehr unterschiedlich sind.

 

MH: Welche Methode wäre im Akutfall einer psychischen Störung am hilfreichsten? Gibt es die schon oder muss sie erst noch erfunden werden?

 

LDG: Ich denke, das allerwichtigste wäre, einen Ort zu schaffen, an dem sich Menschen in Krisen wohl und sicher fühlen – gerade für Menschen, die in psychischen Ausnahmezuständen sind und vielleicht sowieso schon Angst haben.  Leider sind psychiatrische Akutstationen jedoch für viele Menschen sehr beängstigende Orte, an denen sie sich nicht wohlfühlen.

 

MH: Vorurteile wie „einmal krank, immer krank“ werden (nicht nur) von Ihnen als Problem gesehen. Was müsste sich gesellschaftlich verändern, damit Verrückte und andere Minderheiten gesellschaftlich nicht mehr stigmatisiert und diskriminiert werden?

 

LDG: Man sollte sie als Menschen ansehen, die menschliche Erfahrungen machen, oder in der Vergangenheit gemacht haben, ohne diese sofort zu kategorisieren und zu bewerten – wie das in der Psychiatrie leider passiert. Es gibt viele Menschen, die nur einmal eine Verrückung erleben, und manche Menschen, die bleibende „Symptome“ haben, schätzen diese gar als hilfreich ein. Und theoretisch kann diese Erfahrung jeder Mensch machen, auch wenn manche dafür vielleicht sensibler sind. Ich denke, dass mit der erhöhten Sensibilität für das Verrücktwerden  auch Fähigkeiten verbunden sind, etwa Kreativität, aber das wird oft nicht gesehen. Ich will die Zustände nicht romantisieren, aber die Erfahrungen bzw. eine erhöhte Sensibilität gelten in unserer Gesellschaft als etwas genuin Schlechtes und das ist meines Erachtens falsch.

 

MH: Wie kann jeder einzelne von uns dazu beitragen, dauerhaft mehr Akzeptanz und weniger Stigmatisierung bipolarer, psychotischer und anderer seelischer Störungen, Andersartigkeiten und Krankheiten zu erreichen?

 

LDG: Ich denke, es wäre wichtig, dass man Verständnis aufbringt für Menschen, die in der Gesellschaft „verrückt“ werden. Georg Schomerus hat mit einem Forschungsteam herausgefunden, dass die Betonung von biologischen Faktoren zu Stigmatisierung beiträgt. Ich würde sagen, dass es helfen würde, den Menschen zu sehen und die gesellschaftlichen Faktoren zu beachten, die dazu führen, dass Menschen verrückt werden. Und es würde helfen, nicht so stark in Kategorien zu denken.

 

MH: Was hält uns Menschen aufrecht, wenn uns das Leben leer erscheint?

 

LDG: Mich persönlich am Ende doch so etwas wie ein Glaube, muss ich sagen, auch wenn das in unserer säkularen Welt eher seltsam aufgenommen wird. Und: der Versuch, den Erfahrungen einen Sinn zu geben, zu verstehen, dass psychische Zustände etwas mit unseren Erfahrungen und dem Umfeld, mit Bedürfnissen und Wünschen zu tun haben. Und: dass sich darin etwas ausdrückt, es Gründe gibt, warum Menschen Krisen erleben. Und: Hoffnung darauf, dass man etwas verändern kann, das Gefühl, dass es - auch wenn uns die Gesellschaft prägt - doch Dinge gibt, die wir gestalten können. Mir hat es geholfen, zu erkennen, dass ich meinen Gedankenschleifen nicht ausgeliefert bin, dabei unterstützt hat eine Verhaltenstherapie. Außerdem hat mir für meine persönliche Integrität sehr geholfen, mich mit struktureller Diskriminierung und Feminismus auseinanderzusetzen.

 

MH: Wie sehen Sie sich heute und was gibt Ihnen Halt in der Welt?

 

LDG: Es geht ja niemandem immer gleich gut oder gleich schlecht und ich finde es auch problematisch zu sagen, „jetzt ist man für immer ‚geheilt‘“. Aber ich würde sagen, dass ich mich insgesamt wieder relativ so fühle wie vor meiner ersten Krise. Ich würde sagen, dass ich sensibler bin, die Welt intensiver wahrnehme als viele andere Menschen. Und ich bin nach wie vor ein sehr nachdenklicher Mensch, vielleicht wäre ich nicht verrückt geworden, wenn ich nicht so viel nachdenken würde. Halt gibt mir auch die Erkenntnis, dass diese Erfahrungen oder Eigenschaften nicht unbedingt, oder nicht nur, schlecht sind und ich zugleich einen Umgang damit finden muss, mir Dinge dabei helfen, wie der Verzicht auf Drogen (auch Alkohol), Schlaf und im Notfall Medikamente. Halt geben mir außerdem Freundschaften mit anderen Verrückten.

 

MH: Was wünscht Sie sich für Menschen, die als Betroffene gelten, um deren Leiden zu lindern?

 

LDG: Ich würde mir wünschen, dass Menschen, die Verrückungen erleben oder erlebt haben, nicht diskriminiert werden und dass man versucht, ihre Erfahrungen zu verstehen und weniger in Kategorien denkt. Ich fände es dringen notwendig, sich mit Spuren des Nationalsozialismus zu befassen. Und ich würde mir wünschen, dass sich an dem Paternalismus in der Psychiatrie etwas änderte, dass es Orte gibt, an die sich Menschen in Krisen begeben können, ohne Angst zu bekommen. Und dass diese Orte von Menschen gestaltet werden können, die selbst Krisenerfahrungen gemacht haben.


Lea De Gregorio: „Unter Verrückten sagt man du“

Suhrkamp Verlag

297 Seiten

ISBN: 978-3-518-47430-3

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