Was für ein großartiges Buch, was für ein wichtiger Roman ist „Nichts wächst im Mondschein“ (Originaltitel: Av måneskinn gror det ingenting). Dieser erste Roman von Torborg Nedreaas (1906–1987), deren Bücher zu den großen Werken der norwegischen Literatur gehören, erschien 1947 und wurde nun von Gabriele Haefs neu ins Deutsche übersetzt.
Das Buch wird weltweit gerade wiederentdeckt und soll in dreizehn Sprachen erscheinen. In Norwegen hat es längst Kultstatus erlangt. Es gilt in der Darstellung weiblicher sexueller Begierde und der Schilderung sozialer Probleme der damaligen Zeit als bahnbrechendes Werk.
Die traurige Geschichte einer tragischen Liebe
Fürwahr, es ist ein schonungsloses Buch, das ein verhängnisvolles Schicksal offenbart und in seinen Details auch für uns Lesern oft nur schwer zu ertragen ist. Nicht nur die Ausgangslage der Protagonistin, deren Namen wir nicht erfahren, ist erschütternd, sondern deren gesamte Lebenssituation. Das betrifft die Vergangenheit ebenso wie leider auch die Zukunft dieser namenlosen Frau. Es ist eine traurige, ja, tragische Geschichte, die uns Torborg Nedreaas erzählt. Das Buch beginnt recht harmlos. Es zieht uns dennoch gleich zu Beginn in Bann: Ich suche und suche nach jemandem. Seit dreizehn Tagen suche ich diesen Menschen nun schon. Kreuz und quer ist der Ich-Erzählter durch die Stadt gelaufen und hat überall Ausschau gehalten nach einer bestimmten Person, einer Frau. Er will vielleicht nur noch einmal, für einen Moment, diese Gesichtszüge sehen, sie erkennen. […]Will in die Tiefe eines Menschenschicksal blicken, das mir eines Nachts von zwei zitternden Händen gereicht wurde.
Wir werden sofort mitgerissen in den unglückseligen Strudel dieser gnadenlosen Erzählung, in der ein gutes, geschweige denn ein schönes Leben unmöglich geworden ist. Der Ich-Erzähler hat hier lediglich eine übermittelnde Position. Die eigentlich Handelnden sind die namenlose Frau und ihr geliebter Johannes. Die beiden verbindet eine ungesunde, unglückliche Liebe, die tragischerweise ausschließlich als Affäre gelebt wird. Dies allerdings immer wieder über viele Jahre hinweg, vielleicht sogar über Jahrzehnte. Das alles geschieht in einem kleinen norwegischen Küstenort in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Hier nahm für die beiden Protagonisten alles seinen Anfang, das Glück, das Unglück, das Verderben. Die ganze Geschichte dieser vertrackten Liaison erzählt die Frau einem Fremden, dem Ich-Erzähler, in einer einzigen Nacht. Die beiden begegnen sich zufällig in der Bahnhofshalle. Die Frau trägt einen roten Koffer. Nach einem längeren Spaziergang durch die Stadt folgt sie ihm freiwillig in seine Wohnung. Der Ich-Erzähler fühlt sich wie magisch angezogen von dieser Frau, die nicht einmal schön zu nennen ist, wie er später bemerkt. Ich war erstaunt von der Tatsache, dass ich sie nicht begehrte. Aber mein Herz schlug flatternd, ihre Schritte flüsterten mir zu, und ihre Nähe kam mir vor wie eine beunruhigende Berührung. Das ist schön formuliert, macht neugierig auf mehr…
Später erzählt die Frau ihm (und uns) von einem morgendlichen Spaziergang in der Natur nach einer Liebesnacht mit Johannes: Und dann watete ich durch den Tau der Wiese, das tiefgrüne Gras war in einem glitzernden Schleier aus Tau gebadet, es war ein brennender Film aus Millionen von Diamanten, die zischten und funkelten und blaue und gelbe und lila und rote Blitze aufstieben ließen, und ich sah ihre Splitter unter meinen Schuhen. Und niemals war das Gras so frisch geboren und so übermäßig grün gewesen, wie hier auf dieser Wiese in meinen Spuren, und Johannes war in meiner Haut und meiner Seele, aber ich war einsam und konnte dieses Erlebnis nicht mit ihm teilen. Es sind Sätze wie diese, die uns in ihrer Schönheit gefangen nehmen. So sehr, dass wir letztendlich auch all die grausamen Details dieses unschönen Schicksals ertragen können.
Aufgewachsen in einer Bergarbeiterfamilie, ist die Hauptperson geradezu angeekelt von der Welt, in der sie leben muss. Ich habe mich immer nach Schönheit gesehnt. Aber es ist irgendwie so – das, was ich Schönheit nenne, das wollte nichts von mir wissen. Und das ist mein Gefängnis, erzählt sie dem Fremden, der ihr die ganze Nacht zuhört und alles aus ihrem Leben, von allen wichtigen Ereignissen und Nicht-Ereignissen erfährt. Aufgewachsen ist sie zwischen Arbeitern, die auf dem Heimweg von der Schicht husten und spucken und rote Flecken im Schnee hinterlassen und deren Frauen, die ihre eigenen blutigen Spuren ziehen von Geburten, Abtreibungen und Gewalt. An diesem Ort scheint niemand glücklich zu sein und nur die Hoffnung auf Flucht hält alle und alles am Leben. So mag es zu dieser unglückseligen Leidenschaft gekommen sein, zu dieser verhängnisvollen Liebe zwischen zwei Menschen, die so unglücklich endet. Es ist eine Liebe, die von Verliebtheit einerseits zu Besessenheit andererseits führt. Eine Liebe, die keine andere gute Beziehung zulässt und die nur wenige glückliche Momente in der Erinnerung zurücklässt.
Gewiss, einige schöne Erinnerungen gibt es; manch eine hat ihren Ursprung in der Natur. So sind denn auch die Naturbeschreibungen in diesem Buch von besonders schöner Art, wie auch das folgende Beispiel zeigen mag: Ich ging über die Wiese und zog schwarze Schienen durch den grauen Schleier von Tau. Kein Vogel war zu hören. […]und alle Häuser schliefen mit offenen Augen, die Gärten und die Bäume träumten in dem grauen Licht, und hinter dem Postamt lag das Dorf und streckte die Arme nach den Bergen und den Himmel aus, und es gibt Berge, die aussehen, als wären sie mit einem Zauber gebannt worden und in einem wilden Tanz erstarrt, es gibt Berge mit kühnem Profil und heftigem Rhythmus, es ist die schönste Gegend hier im Westen. Es übrigens die schönste Gegend in Norwegen. Die schönste auf der Welt. Wie gerne wäre die Frau in dieser schönsten Gegend der Welt glücklich geworden. Doch davon ist sie auch hier und jetzt weit entfernt.
Wir erfahren, dass ihr die Schule gefiel, dass sie viel lernen wollte und alles las, was es in der Bücherei gab. Aus ihr hätte also etwas werden können. Wir erfahren von der unglücklichen Schwester, die in der Konservenfabrik arbeitet und einen Mann heiratet, den sie nicht liebt, von dem sie aber ein Kind erwartet. Von der Mutter, die von der Frau gehasst wird, wenn sie daran denkt, dass sie im Gesicht verhärmt und in der Brust hohl wurde vom (Wassereimer-) Schleppen. […]Ich hasste sie, weil sie es schwer hatte. Wir lesen vom kranken Vater, für den die Frau Zärtlichkeit hat, weil er Geld für Tabak ausgab und deshalb ein schlechtes Gewissen hatte. […]Meine Eltern waren fertig miteinander. […]Die beiden empfanden Bitterkeit füreinander, wenn gestreikt wurde, war es besonders schlimm. Dann steckte ein böses Schweigen in den Wänden, von gehässigen Worten, die nicht verschwinden wollten, […] Wir lesen von den wenigen Menschen, die es gut mit der namenlosen Frau meinten und von all den anderen. Wir erfahren von den erbarmungslosen Urteilen der Bergarbeitergesellschaft. Wir lesen vom Pastor, der unserer Protagonistin keinen Trost spenden kann und von tröstlicher, berauschender Orgelmusik. Wir lernen einen Organisten kennen, der mit seinem Mitgefühl und mit der Musik von Bach die Frau immerhin für kurze Zeit trösten kann, selbst aber untröstlich ist. Ein Glück von Dauer gibt es hier für niemanden…
Torborg Nedreaas. Foto: Aschehou, Norwegen (Detail)
Wir wissen nicht, wie alt die Frau jetzt ist, als sie dem Fremden ihr Leben erzählt. Möglicherweise ist sie erst Mitte zwanzig, vielleicht aber auch schon Mitte dreißig. Johannes war ihr Lehrer, erfahren wir. Sie war siebzehn, als er sie das erste Mal hatte. Er war damals schon verlobt, aber das wusste ich nicht. Sie war achtzehn, als er eine andere Frau heiratete. Das Feuer, das die beiden von Anfang an versehrt hat, flackert immer wieder neu auf. Unter der Sonne und im Mondschein, in dem nichts wächst, nichts wachsen kann, auch keine Liebe. Wir sehnen uns nach der Sonne, aber wir fühlen uns am sichersten im Mondschein. Das verstehst du vielleicht nicht. Aber vielleicht wirst du es verstehen, wenn diese Nacht vergangen ist. Auch wir erinnern uns an eine Nacht mit Johannes, als der Morgen schon graute und die Gipfel leuchteten mit einer kranken Glut aus Morgensonne, als wir schlafen gingen. […] Der Mondschein ist nur eine kalte Reflexion der Sonne. Ja, wir haben verstanden. Auch wenn das keine schöne Geschichte ist, die wir hier und jetzt zu Ende gelesen haben, so ist sie doch schön erzählt und daher von Anfang an wärmstens ans Herz zu legen.
Torborg Nedreaas: „Nichts wächst im Mondschein“
Ins Deutsche übersetzt von Gabriele Haefs
Luchterhand Literaturverlag
Roman
Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten
ISBN: 978-3-630-87803-4
Weitere Informationen (Verlag)
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