Literatur

Die japanische Autorin Mieko Kawakami ist bei uns 2020 mit ihrem Roman „Brüste und Eier“, bekannt geworden.

Darin sinnieren drei Frauen über künstliche Befruchtung und andere heikle Themen. Jetzt hat der Verlag den Debütroman der 45jährigen Autorin aus dem Jahr 2009 von Katja Busson übersetzen lassen. Ein Glücksfall. „Heaven“ ist ein vielschichtiger, verstörender, fast schon philosophischer Roman zum Thema Mobbing. Es ist aber auch ein Roman über eine Trost und Wärme spendende Freundschaft, die trotz allem immer und überall möglich ist.

 

Erzählt wird aus Sicht des 14jährigen namenlosen Protagonisten, der ein recht einsames Leben mit seiner Stiefmutter und dem meist abwesenden Vater in einer unbenannten japanischen Stadt lebt. Seit seinen ersten Lebensjahren hat er ein schielendes Auge. „Das, was mein rechtes Auge mühevoll einfängt, legt sich über das linke, sodass ich praktisch alles doppelt sehe.“ Sein körperliches Handicap ist für seinen Klassenkameraden Ninomiya, bester Sportler des Jahrgangs, der dazu noch ausgezeichnete Noten hatte „und ein so ebenmäßiges Gesicht, das man nur als schön bezeichnen konnte“, Anlass genug, den Ich-Erzähler immer wieder aufs Neue gnadenlos zu quälen. Unterstützt wird Ninomiya von bewundernden Mitläufern. Für sein Opfer, den die Clique „Schielauge“ nennt und das sich wehrlos in die erzwungene Rolle fügt, ist der Schulbesuch längst zum alltäglichen Martyrium geworden. Er muss sogar als wortwörtlicher Spielball herhalten.

 

Eines Tages findet er in seinem Federmäppchen eine Nachricht vor: „Wir gehören zur selben Sorte.“ Absenderin ist seine Klassenkameradin Kojima, die wegen ihres Aussehens ebenfalls von Klassenkameradinnen gemobbt wird. Zunächst sind es kleine Botschaften auf postkartengroßen Zetteln, die zwischen den beiden hin und herwechseln. Doch schon bald wachsen diese zu Briefen an. Eine zarte Freundschaft beginnt zwischen den beiden Jugendlichen, von denen eine schmutzig ist und stinkt, der andere schielt. Das macht sie zu Aussätzigen und Verbündeten zugleich. Vor allem aber macht es sie zur Zielscheibe von Demütigungen aller Art.

 

Sie verabreden sich zu heimlichen Treffen, um nicht weitere peinigende Aufmerksamkeit zu erregen. „Kojima war klein, hatte einen etwas dunkleren Teint und war eine sehr stille Schülerin. Ihre Schuluniform war abgetragen, die Bluse nie gebügelt, und sie sah immer so aus, als hätte sie Schlagseite. Ihr volles schwarzes Haar stand wegen der vielen Wirbel darin in alle Richtungen ab. Ständig wurde über sie gelacht, weil sie etwas unter der Nase hätte, Dreck oder einen Bart, außerdem wurde sie von den anderen Mädchen in der Klasse gemobbt, weil sie arm und schmutzig sei.“

 

Kawakami Mieko Heaven COVERIm Zentrum des Romans stehen die Begegnungen und Gespräche zwischen dem Jungen und dem Mädchen. Über das Mobbing, das sie beide ertragen müssen, sprechen sie allerdings nicht. Stattdessen versuchen sie, sich eine kleine geschützte Welt zu schaffen, indem sie wie andere Kinder in ihrem Alter über alltägliche Dinge sprechen. Einmal, da besuchen sie auf Wunsch von Kojima ein Museum, um ein Bild zu betrachten, das den Titel „Heaven“ trägt. „Es ist ein Bild mit einem Zimmer, in dem ein Liebespaar Kuchen isst“, erzählt Kojima. „Diesem Paar ist etwas Schreckliches passiert. Etwas ganz furchtbar Trauriges. Aber – sie haben es überwinden können. Deshalb leben sie jetzt im Glück, in ihrem Glück. Dieses Zimmer, in das sie nach all dem, was ihnen widerfahren ist, angekommen sind, dieses nach nichts aussehende Zimmer, das ist Heaven.“ Es darf an dieser Stelle verraten werden, das reale Bild im Museum sehen die beiden nie. Ein Hinweis darauf, wie schwer bis unmöglich es ist, „Heaven“ jemals zu erreichen. Mit Sicherheit wird der Weg dorthin schwierig sein für diese beiden Jugendlichen, die aufgrund ihrer Erfahrungen zu „Experten des Erduldens“ (Deutschlandfunk) geworden sind. Einmal überlegen sie sogar, ob es nicht besser wäre, ein bloßes Ding zu sein.

 

Ein anderes Mal fragt Kojima ihren Freund: „Glaubst du an Gott?“ „Gott?“, fragte ich zurück. „Was für ein Gott.“ […] „Vielleicht gibt es ja einen Gott, der alles sieht, und irgendwann kommt der Tag, an dem man versteht, warum man leiden muss“, antwortet Kojima. Während das Mädchen mehr und mehr an Stärke gewinnt, zweifelt der Junge mehr und mehr an sich selbst. Er weiß: „Solange ich schielte, würde sich nichts ändern, auch nach der Schule nicht. Es würde sich womöglich nicht nur nichts ändern, es würde womöglich sogar noch schlimmer. […] Vielleicht würde auch ich mir irgendwann das Leben nehmen, vielleicht würde ich umgebracht, vielleicht war ich auch schon tot.“

 

„Die Welt ist voller Leute, die alles Mögliche können oder nicht können. Der eine kann dies, der andere das“, heißt es im Roman. Jeder habe so seine Vorlieben und handele dementsprechend. Ist das so? Sind wir so? Dieser Roman zwingt uns, über Themen wie Zufall und Schicksal, über Brutalität, Sadismus, Mobbing, Moral, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Schuld und Unschuld, Stärke und Schwäche, Feigheit und Mut, Fairness und Ungerechtigkeit nachzudenken. Das sind viele Themen, das sind große Themen. Das alles macht „Heaven“ wahrlich zu keiner leichten Lektüre, obwohl das Buch sich leicht liest. Der Roman verstört trotz oder gerade auch wegen seiner scheinbar unbeteiligten Sprache, die eher beiläufig von Strategien des Überlebens erzählt. Dieser Roman schmerzt, macht traurig und wütend und auch das recht versöhnliche Ende verschafft keine wirkliche Erleichterung. Ein Gewinn ist dieser Roman trotzdem für uns Leser.


Mieko Kawakami: Heaven

Originaltitel: Hevun, Roman
Aus dem Japanischen von Katja Busson
Dumont Verlag, Köln

ISBN 978-3-8321-8374-5

Gebunden, 192 Seiten

E-Book: ISBN 978-3-8321-7102-5

 

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