
Wer sich in Brooklyn in jene Gegend von Williamsburg verirrt, in der schwarz gekleidete Männer mit Schläfenlocken das Bild prägen, fühlt sich in ein osteuropäisches Schtetl zurückversetzt.
Die Gemeinde der Satmarer zählt zu den Hardlinern unter den ultraorthodoxen Gruppierungen der jüdischen Welt. Wer sich von ihnen lossagt, gilt als Verräter an Volk und Glauben. Bekommt man mit, in welcher Weise die Aussteigerin Deborah Feldman angegriffen und diffamiert wurde, könnte man meinen, ihr Debüt „Unorthodox“ sei eine gnadenlose Abrechnung. Aber ihre Schilderung einer radikalen Loslösung, die 2012 in den USA ein Megaseller war und es 2017 in Deutschland als Taschenbuch auf die Bestsellerliste Sachbuch des SPIEGEL gebracht hat, kommt ohne Denunziation aus.

Besonders fremd wirkt ein radikaler Grundgedanke der Satmarer, auf den nur verfallen konnte, wer angesichts des Holocausts sonst an seinem Glauben hätte (ver-)zweifeln müssen. Die Shoah wird als Strafe für die Abkehr assimilierter Juden von einem orthodoxen Leben verstanden, die ein weiteres Mal droht, falls man nicht das ganze Leben an strengen Ge- und Verboten ausrichtet und alles Leid als Chance betrachtet, für eine absurde Schuld zu büßen: dass man Auschwitz oder Theresienstadt überlebt hat.


Die Autorin will sich befreien von der „Falle der Vergangenheit“ und sucht doch gerade dort immer wieder – insbesondere auf den osteuropäischen Lebensspuren der Großmutter – ihre Identität. Ein ähnliches Wechselspiel ergibt sich konsequent bei Feldmans Schilderung von europäischen Städten wie Paris und insbesondere ihrem neuen Lebensmittelpunkt Berlin, das verklärt wird als geradezu paradiesisches Gegenbild zum „endlosen Wettkampf um Geld und Statussymbole“, eine „weit über ihrem eigenen Entwurf“ stehende Metropole des freien, philosemitischen Geistes, deren Bewohner „überall“ in Bücher vertieft sind. Solche Idealisierung kippt zwangsläufig um in ein umso bedrohlicheres Gegenbild vom Antisemitismus in einer Stadt, die nun mal kein Schmelztiegel wie New York ist, wobei der Antisemitismus andererseits auch wieder geächtet...
So glaubwürdig dieses Hin und Her zwischen von der Vergangenheit geprägtem und verzweifelt eine neue Heimat suchendem Blick wirkt, verlangt es dem Leser über etwas mehr als 700 Seiten hinweg Geduld ab beim Nachvollzug einer von immer neu in sich kreisenden Reflexionen überlagerten Darstellung, die oft das Schreiben als Selbsttherapie über das Bestreben stellt, Lesern den schwierigen Weg zu einer jüdischen Identität jenseits der Religion zu vermitteln.
So gesehen wäre es wünschenswert, wenn Deborah Feldman in München (das sich überraschend als Stadt ihrer Vorfahren mütterlicherseits erweist) nicht nur aus „Überbitten“ lesen würde. Aber erstens ist dies aus Sicht der Autorin das „tiefere“ Buch, zweitens aus Sicht des Buchmarktes das aktuellere – und drittens sind Lesungen in dieser Hinsicht selten unorthodox.
Deborah Feldmann: Unorthodox
Secession Verlag, 2016 / btb Random House (Taschenbuch)
ISBN 3905951800, 9783905951806
319 Seiten
Leseprobe
Deborah Feldmann: Überbitten
Secession Verlag, 2017
ISBN 978-3-906910-00-0, 978-3-906910-01-7 (e-book)
704 Seiten
Leseprobe
Bayerischer Rundfunk: Beitrag zu Überbitten in "nacht:sicht"
Deborah Feldmann: Exodus: A Memoir
Penguin, 2014
ISBN 1101603100, 9781101603109
304 Seiten
Leseprobe
Abbildungsnachweis:
Header: Die US-amerikanisch-deutsche Schriftstellerin Deborah Feldman auf dem forum:autoren des Literaturfests München 2017. Foto: Amrei Marie. Quelle Wikipedia Commons (CC)
Buchumschläge; Unorthodox (Deutsche Ausgabe, Secession Verlag, Random House Verlagsgruppe (Taschenbuch) und Exodus (US-Ausgabe, Penguin Verlag), Überbitten (Deutsche Ausgabe, Secession Verlag)
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