CDs JazzMe

Nein, es ist kein Schreibfehler! Das Album heißt in der Tat „Millenial“ und nicht „Millennial“ – warum auch immer. Mag sein, dass es der guten alten Tradition von jiddischen Revolutions- und Widerstandsliedern geschuldet ist und sich grundsätzlich schon im Titel gegen eine Art von Konformität und Übereinstimmung stellt.

Isabel Frey, die junge, aus Wien gebürtige Sängerin, die mit Gitarre im Gepäck reist, als Straßenmusikantin und auf kleinen Festivals ihre Spuren hinterlässt, war eine ganze Weile auf der Suche nach der eigenen jüdischen Identität. Ihr genügten nicht jene Gesänge aus Liturgie oder Volksliedern, die sie von klein auf kannte. Die Suche führte sie nach Israel in einen Kibbuz, nach Amsterdam zum Studium und wieder zurück nach Wien.

 

In der Diaspora stieß sie auf allerlei geistige, säkulare und politisierte Traditionen. Diese spürte sie auf, ging ihnen nach und bliebt dann vor allem bei einer sozialistischen Bewegung hängen, die bereits vor 100 Jahren von sich reden machte: beim „Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland“, der zwischen 1897 bis 1935 in mehreren osteuropäischen Ländern aktiv war. Oder auf jiddisch: אַלגעמײנער ייִדישער אַרבעטער־בונד אין ליטע, פּױלן און רוסלאַנד (gesporchen v.r.n.l.: algemeyner yidisher arbeterbund in lite, poyln un rusland).

 

Isabel Frey Millenium Bundist COVERDie Vertiefung im Studium eröffnete ihr Möglichkeiten und Freiheiten. Letztere nutzte Isabel Frey, indem sie nachdichtete, interpretierte, kritisch aktualisierte, die Lieder übersetzte, ins Deutsche und Englische. Beispielhaft steht dafür der Albumtitel fünf: „Daloy Politsey / Nieder mit HC“, welches sich aktuell gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung richtete und sich schnell als „Donnerstags-Hymne“ etablierte. Hier scheint die geschichtliche Entwicklung schneller zu sein als der Liedtext – oder doch nicht?
Auch der „Arbetlose Marsch“, (Nr. 12) ursprünglich von Mordechai Gebirtig (1877-1942) als Theaterlied 1937 komponiert gehört in diese von der Künstlerin veränderten Stücke. So holt Frey einen Teil der Lieder aus der Verstaubheit der Historie, trägt sie ins heute oder erinnert an Geschehnisse, die noch gar nicht so lange zurückliegen. „Ale vayber megn shtimen“ (Allen Frauen dürfen wählen) geht zwar auf das Jahr 1920 zurück, jedoch, wenn wir uns vor Augen halten wie die Situation der Frauen in den Gesellschaften ist, geht die Gleichberechtigung weit über das Wählen-Dürfen hinaus und die Benachteiligung des Nicht-Männlichen ist bis dato spür- und erlebbar.

 

Weitere Themenbereiche der sechzehn Titel umfassenden CD fokussieren die Wirklichkeit von Migration, Repression, Widerstand, Ausbeutung, Machtlosigkeit und dem gegenüber Gewalt.
Damit ist „Millenial Bundist“ keine Rückschau auf die Zeit vor 100 Jahren, sondern ein höchst poltisch-kultureller Blick auf die Entwicklung über einhundert Jahre hinweg.


Isabel Frey: Millenial Bundist

Isabel Frey (voc, git) | Vienna Klezmer Session Band
CD
Label: Beste! Unterhaltung
EAN: 4251329502188
VÖ: 25.09.2020


Weitere Informationen zu Isabel Frey

 

YouTube-Videos:
- Arbetlose Marsch /Arbeitsloser Marsch - Yiddish and German workers' song - Isabel Frey
- Shtil di Nakht - Yiddish partisan song - Isabel Frey
- Isabel Frey singt "Daloy Politsey/Nieder mit HC", Wien, 19. Sep. 2019

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.