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Gala FFEN

Was haben Anna Maria Mühe und die „NSU“ (Nationalsozialistischer Untergrund), Rolf Becker und die Nazis, Christian Wulff und Norderney gemeinsam? – Antwort: Sie kommen auf dem 26. Internationalen Filmfest Emden Norderney zusammen, um über ihre Filmprojekte zu sprechen. Zum Teil machen sie in der historischen Landschaft Ostfrieslands gar gemeinsame Sache, und dabei geht es um Politik…

Jedes Jahr treffen sich bekannte Schauspieler, Branchenneulinge, Filmschaffende, Kritiker und Festivalgäste eine Woche lang in Deutschlands westlichster Seehafenstadt Emden. Beim beliebten „Film-Tee” oder, Friesisch ausgedrückt, „lecker Koppke Tee mit Kluntje und Rohm”, trank dieses Jahr Ehrengast Anna Maria Mühe – als frisch gekürte Preisträgerin des Emder Schauspielpreises 2015 – drei Tassen vom geblümten Rosenservice und plauderte dabei vor zahlreichen Zuschauern im Emder „Forum” mit Moderatorin Jenni Zylka über ihr neuestes, Aufsehen erregendes Filmprojekt.

Die junge Schauspielerin mit den großen blauen Augen spielt die Hauptrolle in einem ARD-Dreiteiler unter der Regie von Christian Schwochow („Der Turm”). Mühe ist darin als die Rechtsextremistin Beate Zschäpe im aktuellen NSU-Prozess zu sehen, der 2013 vor dem Oberlandesgericht München begonnen hat und voraussichtlich Anfang 2016 abgeschlossen sein wird. Geplanter Sendetermin in der ARD ist frühestens 2016. Die Rolle der 40-jährigen Zschäpe wird die bisher herausforderndste und politisch brisanteste Rolle in Mühes junger, bereits ebenso filmreicher wie preisgekrönter Karriere: Die Hauptangeklagte Zschäpe ist wegen Mittäterschaft an zehn zwischen 2000 und 2007 begangenen Morden, fünfzehn Raubüberfällen, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie besonders schwerer Brandstiftung mit versuchtem Mord in drei Fällen angeklagt. Nachdem die rechtsextreme Bande erst im November 2011 gefasst wurde, ist von den drei Neonazis nur noch Zschäpe am Leben, der derzeit in München der Prozess gemacht wird und deren Biographie, von der Jugend und Radikalisierung bis hin zur Mittäterschaft an den Morden der rechtsradikalen Terrorgruppe NSU, im Mittelpunkt der ARD-Verfilmung steht.

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Mühe berichtet, wie der erste Teil unter strengster Geheimhaltung in den vergangenen Wochen in Berlin und Thüringen abgedreht worden ist, bevor die „Bild”-Zeitung darüber schreiben durfte, und wie gut die Zusammenarbeit zwischen Christian Schwochow, selber erst 36-jährig, und ihr (29) harmoniert. Während Schwochow und Mühe das gesamt-europäisch – leider! – weiterhin aktuelle Thema rechtsextremer Terrorzellen filmisch und politisch aufzuarbeiten suchen, steht für „Señor Kaplan” weniger die logische Realität und historische Dokumentation im Vordergrund als vielmehr der absurde Aspekt von Geschichte und Gegenwart: Der 1976 in Montevideo, Uruguay geborene und seit 2000 in Madrid lebende Regisseur Álvaro Brechner erzählt in glühend-warmen Farben eine Komödie über offene Rechnungen mit der Geschichte und ungerade Bilanzierungen im Alter.

Rolf Becker spielt darin in nahezu perfekter Verkörperung einen ambivalenten Deutschen und vermeintlichen Ex-SS-Mann, der Gerüchten zufolge in Südamerika untergetaucht ist und sich seit Jahren an der Küste Uruguays in seiner Bar „Estrella” (dt. „Stern" – wie das Flüchtlingsschiff, mit dem er auf dem südamerikanischen Kontinent gelandet ist) verstecken soll. Der 76-jährige, mit seiner Familie in der jüdischen Gemeinde Montevideos lebende Jacob Kaplan macht es sich zur Lebensaufgabe, den Deutschen zu stellen, um ihn den israelischen Behörden zu überbringen und seiner gerechten Strafe zuzuführen. In einer an Quentin Tarantino erinnernden Strandszene stehen sich die beiden alternden Männer und der investigativ-tatkräftige Ex-Polizist Wilson, der Herrn Kaplan assistiert, endlich zu dritt gegenüber, bevor sich nach erfolgreicher Hetzjagd an Bord eines Kutters, der den Deutschen nach Israel schippern soll – welch Ironie des Schicksals – herausstellt, dass der Gefangene selber Jude, wenngleich Kollaborateur war und somit Kaplans angestrebte Heldentat wieder in weite Ferne rückt.

Mit einem Augenzwinkern deckt die deutsch-spanisch-uruguayanische Koproduktion – thematisch affin zum Emder britisch-amerikanischen Eröffnungsfilm „Mr. Holmes” (Regie: Bill Condon) – die Tücken des Alters, hier mittels der Figur des Señor Kaplan, auf und nutzt gleichzeitig, Roberto Benignis bahnbrechenden Kinoerfolg „Das Leben ist schön” (1997) weiter schreibend, humoreske Konnotationen, um unser kollektives Gedächtnis bezüglich des Holocausts zu bewahren und zu erweitern. In der anschließenden Kinosaal-Diskussion stellt sich überraschenderweise heraus, dass Brechner nicht nur Uruguayaner ist, sondern auch einen deutschen Pass besitzt, wenngleich er unserer Sprache nicht mächtig ist. Seine Großmutter ist Deutsche und feiert dieser Tage ihren 90. Geburtstag: ob sich das Publikum einmal vom Regisseur von der Bühne aus fotografieren lassen würde, um ihr anlässlich der Deutschlandpremiere seines Films einen Gruß zukommen zu lassen? – Der vollbesetzte Zuschauerraum brodelt begeistert, alles winkt freundlich einem winzigen iPhone zu und ruft scherzhaft dazwischen: „Hallo, Omi!“. So geht Völkerverständigung jenseits von Sprachbarrieren und über kontinentale Grenzen hinweg heute! Diese ganz reale Emder Szene bündelt alle offen gebliebenen Fragen zum Alter – übrigens ist der gesamten Filmcrew auf dem Fischerboot beim Drehen schlecht geworden, nur die beiden Grandseigneurs Rolf Becker (‚El Aleman’) und Héctor Noguera (‚Señor Kaplan’) wollten nach erfolgtem Dreh partout weiter vom Boot aus ins Meerwasser springen – und auch die zur Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs besser als viele Worte.

Die wiederum fand Christian Wulff auf einprägsame Weise beim „Dünentalk auf Norderney“. Im historischen Kurtheater wurden im Rahmen des Internationalen Filmfests erstmalig der „Filmpreis der Insel Norderney“ sowie, zum wiederholten Mal, der Sonderpreis „Ein Schreibtisch am Meer“ vergeben. Der mit 5.000 Euro dotierte und durch die „Norderneyer Filmpreis-Gruppe“ unter dem Vorsitz von Christian Wulff überreichte Filmpreis versteht sich als ein „Integrationspreis“ und zeichnet ein Werk aus, das sich in besonderer Weise für das Zusammenleben und die Aussöhnung von Menschen verschiedener Kulturen, Religionen, Lebenskonzepte oder politischen Systeme einsetzt. Als erster Preisträger geht der deutsch-australische Fernsehjournalist Eric Friedler in die Inselgeschichte ein, der als einer der renommiertesten politischen Dokumentaristen Deutschlands gilt und zahlreiche politisch bedeutende ARD-Dokumentarfilme gedreht hat (u.a. „The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan“, 2014).



(Rede von Christian Wulff) (ca. 17 Min.).

Friedler, dessen Filme sich u.a. den Themen Ökologie und Frieden in der Welt widmen, antwortete auf die Laudatio von Wulff, der als GEZ-Zahler bedauernd feststellen musste, dass in der ARD mehr Morde als Statements für Weltoffenheit und Toleranz über den Bildschirm flimmern, indem er hervorhob, dass die Erziehung zu einem friedlichen, nicht-diskriminierenden Miteinander sich beispielhaft an der Figur des Abie Nathan konkretisieren lasse, ganz im Sinne von Gandhis Forderung: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir von der Welt wünschst!“. Nachdem Friedler sein Plädoyer für „Integration statt Assimilation“ symbolisch mit einem „Gemischten Salat“ aus „Gurken, Paprika und Tomaten“ veranschaulichte – die Metapher der Konvivialität als sog. „Salad Bowl“ gilt in der Forschung als gängiges Bild – kündigte er vor der Filmvorführung im Norderneyer Conversationshaus an, er würde das Preisgeld der jüdischen Joseph-Carlebach-Schule in Hamburg (der ehemaligen Talmud-Tora-Schule im Grindelviertel) stiften, was ihm einen Sonderapplaus einbrachte.



(Rede von Eric Friedler) (ca. 6 Min.)

Einen in der deutschen Festivallandschaft wohl einzigartigen Sonderpreis gewann auf Norderney der junge norddeutsche Drehbuchautor, Produzent und Regisseur Ansgar Ahlers (1975 in Papenburg geboren) für sein Kinospielfilm-Debüt „Bach in Brazil“ – wie „Señor Kaplan“ eine deutsch-südamerikanische Feel-Good-Komödie, in diesem Fall zum Thema Musik und zweite Chancen. Für Ahlers ist damit auf der zweitgrößten Ostfriesischen Insel, die zu 85 Prozent zum seit 2009 als UNESCO-Weltnaturerbe geschützten „Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer“ gehört, ab sofort ein „Schreibtisch am Meer“ in der Absicht reserviert, die Entwicklung seines nächsten Filmprojekts zu unterstützen.

Eine Komödie anderer Art gab Anlass zum „Creative Europe Talk“, der in der Kunstgalerie Amuthon tags darauf in Emden stattfand: Unter der Gesprächsleitung von Professor Claus Friede (Lettische Kulturakademie Riga) diskutierten ein Filmverleiher (Torsten Frehse, CEO Neue Visionen Filmverleih) und ein Filmproduzent (Fabian Gasmia, CEO Detailfilm) unter Publikumsbeteiligung über mögliche Erfolgsrezepte à la „Monsieur Claude und seine Töchter“ (Philippe de Chauveron) – „die" französische Erfolgskomödie von 2014 und Prototyp eines europäischen Arthouse-Kassenschlagers. Wirklich vorhersehen, planen oder berechnen könne man solche Erfolge im Voraus freilich nicht – so eines der Gesprächsergebnisse – doch durch geschickte Marktanpassung lassen sie sich befördern: Im Fall von „Monsieur Claude“ wurde die französische Mainstream-Ebene im Originaltitel „Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?“ (frz. „Was haben wir dem lieben Gott angetan?“) relativiert, indem er vorangegangenen Erfolgen in Deutschland im Stil eines Films wie „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ (2004) angeglichen und somit auf eine bewährte Vermarktungsstrategie gesetzt wurde.

Blickt man auf die feierlichen Ehrungen im Rahmen der Preisverleihungsgala, die traditionell den finalen Höhepunkt des Internationalen Filmfest Emden darstellt, bräuchten wir uns um die Zukunft des deutschen Kinomarkts keine Sorgen zu machen: Abräumer des Jahres 2015 waren neben Ahlers’ „Bach in Brazil“ – der zusätzlich zum Sonderpreis „Ein Schreibtisch am Meer“ gleich auch noch den Bernhard Wicki Preis (10.000 Euro) und den NDR Filmpreis für den Nachwuchs (5.000 Euro) ex aequo gewann – auch das Erstlingskinowerk „About a Girl“ von Mark Monheim. Beide letztgenannten Preise teilen sich die zwei Filme: Das Festivalpublikum (Bernhard Wicki Preis) kürte „Bach in Brazil“ und „About a Girl“ durch gleich gute Bewertungen zu den Gewinnern. „About a Girl“ ist ein komödiantischer, abstrus-grotesker Coming-of-Age-Film über die Selbstzweifel, Lebensängste und Sinnkrise der fast sechzehnjährigen Charleen (gespielt von Shooting-Star Jasna Fritzi Bauer), die nach einem Selbstmordversuch von ihrer Mutter (sehr authentisch dargestellt von Heike Makatsch) zum Therapeuten geschickt wird (brillant-hintergründig interpretiert von Nikolaus Frei) und sich zum ersten Mal in einen Klassenkameraden, der auch in der Praxis gelandet ist, verliebt.

Wie diese schwarze Komödie, zu der ein eigener „About a Girl“-Soundtrack erscheint, lebt auch „Nena – Viel mehr geht nicht“ (Regie: Saskia Diesing) von Musik (eigens für den Film von Paul Eisenach komponiert), Teenagergefühlen und der Selbstmordthematik. Diese deutsch-niederländische Koproduktion zeigt Uwe Ochsenknecht in einer untypischen, ebenso großartig gespielten Rolle wie die der jungen holländischen Hauptdarstellerin Abbey Hoes, die in den Niederlanden bereits mit dem begehrten Filmpreis „Gouden Kalf“ für die Rolle der sechzehnjährigen Nena ausgezeichnet wurde: Der durch Doris Dörries Komödie „Männer“ (1985) bekannt gewordene Ochsenknecht mimt in „Nena“ deren querschnittsgelähmten Vater Martin und nahm sich letztes Jahr während anderweitiger Dreharbeiten zwischendurch bewusst die Zeit, um diesen Film in der deutsch-niederländischen Grenzregion zu realisieren. Sein Zusammenspiel mit Hoes ist bewegend, dramatisch und mitreißend zugleich. Der Regisseurin Saskia Diesing war die 1992 in den Niederlanden aufgekommene Debatte um den assistierten Suizid aus autobiographischen Gründen (ihrem MS-kranken Vater blieb die Erfüllung dieses Wunsches noch verwehrt) eine Herzensangelegenheit. So drehte sie den 1989 zur Zeit der Grenzöffnung in Deutschland angesiedelten Film „Nena“ in Leer, Emden, der Pilsumer Kirche und ihrem niederländischen Geburtsort Winschoten, nicht zuletzt um einen Beitrag zur politisch heiklen Diskussion über die Sterbehilfe zu leisten, aber auch um die Absurditäten des (Teenager- und Erwachsenen-) Lebens zu illustrieren und dem von Christian Wulff in seiner „Dünen“-Rede auf Norderney beschworenen Mehrwert durch multikulturelle Standhaftigkeit, Empathie und Respekt vor dem Anderen Nachdruck zu verleihen.

Eine solch bodenständige, persönliche Filmhandschrift kennzeichnet den internationalen, nationalen und regionalen Charakter dieses „einzigen Filmfestes mit eigenem Strand“, wie sich der ehemalige Bundespräsident und niedersächsische Ministerpräsident a.D. Wulff – der sich selbst beeindruckend ehrlich, zugleich abgeklärt und zuversichtlich als „Steh-Auf-Männchen“ bezeichnete – ausdrückt, um anschließend die Wegweiser-Funktion des Leuchtturms, der als Symbol für den Filmpreis Norderney dient, „auch bei stürmischer See“, zu bekräftigen. In diesem Jahr beglückte die Filmfestteilnehmer aber sowohl auf Norderney als auch in Emden schönstes Sommerwetter. Insoweit wolkenfreie Sicht – zwischen Winschoten und Uruguay!

Mit Dank an Patrizia Batlle (Freie Journalistin) für die Tonaufnahmen.

26. Filmfest Emden-Norderney

Abbildungsnachweis:
Header: Galaabschluss des 26. Filmfest Emden-Norderney
Galerie:
01. Anna Maria Mühe beim "Filmtee-Talk". Foto: Filmfest Emden-Norderney
02. Anna Maria Mühe in Novemberkind, Regisseur: Christian Schwochow. Verleih Schwarz-Weiß Filmagentinnen
03. Senor Kaplan. Quelle: Neue Visionen Filmverleih
04. Bundespräsident a.D. Christian Wulff bei der Laudation. Foto: Ellen Sörries
05. Bundespräsident a.D. Christian Wulff übergibt den "Integartionspreis" an Eric Friedler
06. Preisträger Ansger Ahlers (links) "Bach in Brazil" und Marc Monheim "About a Girl". Foto: Filmfest Emden-Norderney
07. Creative Europe Filmtalk: Torsten Frehse (links), Fabian Gasmia und Claus Friede
. Foto: Filmfest Emden-Norderney
08. und 09. "About a Girl". Quelle: nfp Filmverleih
10. "Nena - Viel mehr geht nicht". Quelle: Coin Film

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