Kultur, Geschichte & Management
Ruth Peggy Sophie Parnass (1927–2025. Foto: Udo Grimberg. CC BY-SA 3.0 de. Hintergrund bearbeitet.

Dieser Mund, dieser leuchtende korallrote Mund! Wenn ich an Peggy Parnass denke, an die allseits geliebte und verehrte „Königin von St. Georg“, die am 12. März 2025 im Alter von 97 Jahren starb, sehe ich zuerst diesen großen, roten Mund vor mir, der sich, flankiert von einem liebevollem Blick, zu einem strahlenden Lächeln öffnete, sobald wir uns sahen: „Du – wie schön!“

 

Es waren keine häufigen Begegnungen, früher eher beruflich bedingte, dann meist zufällige, doch seit der Wiedereröffnung des Hansa-Theaters 2009 hatten wir eine Verabredung, die wir über Jahre hielten und die uns einen diebischen Spaß brachte – zu dritt, mit unserer gemeinsamen Freundin, der brasilianischen Künstlerin und Wahlhamburgerin Tita do Rego Silva, trafen wir uns in den Premieren-Pausen in den bezaubernden historischen Waschräumen des Hansa-Theaters und machten Selfies. (Selbstverständlich mussten vorher nochmal die Lippen nachgezogen und die Wuschelhaare geordnet werden). Wir alberten und gackerten vor den großen Spiegeln des Boudoirs herum wie die Teenager und mussten aufpassen, das Läuten zur zweiten Halbzeit nicht zu verpassen.

Es waren wunderbare, unvergessene Momente. Momente, die ich in die Rubrik „kleine funkelnde Sterne“ in die Schatzkiste meiner Memoiren einordne. (Sorry, das klingt echt kitschig, ist aber so!).

 

Heute findet die Trauerfeier für Peggy Parnass auf dem jüdischen Friedhof Ohlsdorf statt und es werden sicher viel, viel mehr Meschen kommen, um sich von der vielfach ausgezeichneten Publizistin und Schauspielerin zu verabschieden, als die kleine Kapelle zu fassen vermag.

 

Zur Erinnerung an Hamburgs einzigartige „Mutter Courage“ veröffentlichen wir hier noch einmal das Interview zu ihrem Buch „Kindheit“ von 2012, ein gemeinsames Projekt mit Tita do Rego Silva, das die Künstlerin, langjährige Nachbarin und enge Vertraute von Peggy, mit hinreißenden Holzschnitten bebilderte und gestaltete.

 

Tschüss, liebe Peggy, Du unerhört starke, verletzliche, streitbare, zarte, durchsetzungsfähige, rundherum einnehmende, manchmal auch anstrengende, liebenswürdige und warmherzige Frau. Als Gerichtsreporterin hast Du Geschichte geschrieben, als Mensch hast Du unsere Herzen berührt.

 

Isabelle Hofmann (IH): „Kindheit“, Dein Buchprojekt mit Deiner Freundin, der brasilianischen Künstlerin Tita do Re^go Silva, die es mit großartigen Originalholzschnitten illustrierte, ist eines der schönsten Künstlerbücher dieses Herbstes. Deine Erinnerungen an diese Zeit jedoch sind grauenvoll. Die Nazis haben Deine Eltern und Großeltern umgebracht. Bis auf eine Tante in Belgien, einen Onkel in London und Deinem kleinen Bruder, mit dem Deine Mutter Euch 1939 nach Schweden schickte, wurde Deine gesamte Familie ausgelöscht. Hattest Du nicht gesagt, dass Du nie über Deine Kindheit sprechen wolltest?

 

Peggy Parnass (PP): Das habe ich auch nicht. Alles, was ich zu sagen habe, habe ich aufgeschrieben. Das war schlimm genug!

 

IH: Hast Du Deiner Freundin Tita do Rego Silva nichts über Deine Kindheit erzählt?

 

PP: Nein. Tita hat mein Buch „Unter die Haut“ vor Jahren gelesen und mir viel später vorgeschlagen, das erste Kapitel über die Kindheit zu illustrieren.

 

IH: Eine schöne Idee – die aber sicher auch alte Wunden aufgerissen hat. Warum tust Du Dir das an?

 

PP: Es ist eine Hymne an meine Eltern. Sie haben keinen Grabstein, sie haben jetzt das Buch. Und in „Unter die Haut“ ist auch ein Fehler. 1983 hatte ich noch gedacht, dass meine Eltern in Auschwitz vergast worden wären. In Yad Vashem habe ich später erfahren, dass sie in Treblinka ermordet wurden.

 

IH: Gleich zu Anfang steht, dass Du Dich nie als Kind gefühlt hast.

 

PP: Weil ich denken konnte. Ich wollte immer alles genau wissen, und ich habe es auch alles erfahren. Ich bin mit der Panik meiner Eltern großgeworden.

Titas Bilder treffen jeden Moment ganz genau. Ihre Kunst ist lebendig, herzlich, sprühend, überwiegend heiter. In unserem Buch hat sie aber auch das Bestialische eingefangen.

 

IH: Als Kind hast Du davon geträumt, Dich an den Nazis und ihren Mitläufern zu rächen, wenn Du erwachsen bist. Zum Beispiel an der Milchfrau in Eimsbüttel, die Deine Mutter geschlagen hat. Als Du nach dem Krieg nach Hamburg zurückkehrtest, konntes Du es nicht.

 

PP: Weil sie schwächer waren, zu einem Nichts geschrumpft waren. Gegen solche Menschen konnte ich nicht angehen. Konnte nur angeekelt wieder weggehen. Es ist ein unausgelebter Hass.

 

IH: Du hast ihnen nichts vergeben?

 

PP: Ich vergebe gar nichts! Die Erinnerungen klingen auch nicht ab, wie manche glauben. Es wird nichts schwächer, im Gegenteil, die Erinnerungen sind stärker geworden. Aber wenn sich die Medien hier auf jemanden wie Günter Grass einschießen, weil der bei der SS war, finde ich das einfach nur lächerlich. Der hat den Faschismus doch mit der Muttermilch aufgesogen. So jemanden an den Pranger zu stellen, stellvertretend für die Millionen Arschlöcher, das ist absurd.

Grass war damals noch ein Kind.

 

IH: Und die Milchfrau?

 

PP: War eine erwachsene Frau und hat meine Mutter verprügelt, weil sie für Ihre Kinder Milch geholt hat.

 

IH: Wie hast Du auf das Grass-Gedicht über Israel reagiert?

 

PP: Gar nicht. Überhaupt nicht. Ich habe keine Lust, mich an der Diskussion zu beteiligen, das ist mir zu unwichtig.

 

IH: Und was ist mit dem Eklat in Bayreuth in diesem Sommer (2012 Anm. d. Red.) um den russischen Bassbariton und seine Nazi-Tatoos? Er musste seine Rolle kurzfristig absagen.

 

PP: Absolut lächerlich! Mit solchen Symbolen macht man hier Trara, wegen tatsächlicher Handlungen gar nicht.

 

IH: Was meinst Du?

 

PP: Die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Es gab nicht nur zehn Tote in zehn Jahren, es gab viel mehr.

Wir haben Pause, es gibt uns ja auch nicht mehr zu so vielen.

 

IH: Warum bist Du nach dem Krieg überhaupt nach Hamburg zurückgekehrt?

 

PP: Ich bin nicht zurückgekehrt, ich bin hängen gebelieben. Ich wollte meine Cousine Urselchen besuchen, bin mit ihr an die Uni gegangen und traf dort lauter dufte Leute, alles Linke und Antifaschisten. Mit Peter Rühmkorf, Klaus Rainer Röhl und Dick Busse habe ich dann in einer Wohngemeinschaft gewohnt, eine Bühne gegründet und politisches Kabarett gemacht.

 

IH: Du hast auch eine ganze Reihe von Widerstandskämpfern kennengelernt.

 

PP: Hätte ich diese Widerstandkämpfer nicht kennengelernt, hätte ich hier nicht leben können. In unserer Gegend, Eimsbüttel, gab es Arbeiter, die von Anfang an im Widerstand waren und die blieben es auch gegen alles, was Übel ist. In diesem Land aber werden nicht sie gefeiert und prämiiert, sondern jene, denen es viel zu kurz vor Kriegsende einfiel, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war.

 

IH: Du meinst die Gruppe um Graf Stauffenberg.

 

PP: Die haben jahrelang klaglos hingenommen, dass Leute auf der Straße verprügelt und verschleppt wurden.

 

IH: Nach dem Krieg hieß es oft: „Wir wussten ja nicht…“ Hast Du irgend jemandem geglaubt?

 

PP: Wer sagt, er hat nichts gewusst, der lügt. Als wir im Viehwagen abtransportiert wurden, sind die Leute hinterhergegangen. Sie wussten vielleicht nicht, wohin es ging, ich halte es für möglich, dass dieser industriell betriebene Massenmord nicht allgemein bekannt war, aber sie haben den Abtransport gesehen und viele haben sich gefreut: Wenn wieder ein Platz frei war, war es leichter Karriere zu machen.

 

IH: Dabei fühlten sich sehr viele Juden als Deutsche. Dein Vater hat bei seiner Verhaftung noch die Orden aus dem Ersten Weltkrieg vorgezeigt.

 

PP: Er hatte an zahllose Länder Anträge zur Ausreise gestellt. Alle wurden abgelehnt, weil er invalide geworden war. Ich habe als Kind gedacht, wenn man Deutschland platt machen würde, wäre die Welt in Ordnung. Als ich in anderen Ländern gelebt habe, habe ich sehen können, wie viele aus anderen Ländern mitgemacht haben. Als ich per Brief mitgeteilt bekam, dass meine Eltern tot waren, war es ein Schwede, der mir sagte: Freu dich doch, zwei Juden weniger.

 

IH: Was gab Dir die Kraft weiterzuleben?

 

PP: Meine Wut. Meine Liebesfähigkeit. Ich habe immer wieder Menschen geliebt. Freundschaft ist für mich das Allergrößte. Freundschaft ist ja auch Liebe. Etwas, wo ich mich reinkuscheln kann.

 

IH: Verstehst Du die Haltung Israels heute?

 

PP: Israelische Politik kritisiere ich in Israel, nicht in Deutschland. Ich verstehe die Haltung der Friedensbewegung Israels. Wie in allen anderen Ländern auch, solidarisiere ich mich mit denen, die versuchen, die Welt ein wenig besser zu machen. Ich will nirgends mit Leuten zu tun haben, die auf andere herabsehen und sie als minderwertig behandeln. Inzwischen schäme ich mich überhaupt Mensch zu sein – und das ist kein schöner Gedanke!

 

IH: Du hast einmal gesagt, dass Du Dich in Israel wie eine Palästinenserin gefühlt hättest.

 

PP: Solange die Palästinenser die Underdogs sind und so schlecht behandelt werden, haben sie meine Sympathie. Ich kann mir aber vorstellen, dass, sollten sie zu Kräften kommen und zu Macht, dass sie dann wahrscheinlich noch rigoroser sein würden als jetzt die Israelis. Ich habe da überhaupt keine Illusionen.

 

IH: Viele Deutsche haben ungeheure Angst, die Politik Israels zu kritisieren, weil sie befürchten, gleich wieder als Antisemiten dazustehen.

 

PP: Dazu fällt mir meine Rede ein, die ich neulich spontan auf der Demo in St. Georg hielt.

 

IH: In St. Georg, dem Hamburger Stadtteil, in dem Du lebst, protestierst Du derzeit mit anderen andere engagierte Bürger gegen den Mietwucher, der zwei Traditionsgeschäfte in der Langen Reihe bedroht. Auf der Demo hast Du dem jüdischen Immobilienmakler und Grundeigentümer Frank Jendrusch geantwortet, der von „antisemitischer Propaganda“ sprach.

 

PP: Hier, meine Rede, lies mal! Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe!

 

IH: „Lieber Frank Jendrusch, Du denkst, dass wir über Dich empört sind, weil Du Buddhist bist. Oder nein – weil Du Katholik bist. Nein, ich weiß, weil Du Jude bist. Ach nein, weil Du Mohammedaner bist. Nein, weil Du Christ bist. Oder weil Du Atheist bist. Oder weil du schwul bist? Nein, weil Du hetero bist? ……

Ach, Quatsch, all das kann es nicht sein. ….

Warum empören wir uns? Weil Du ein „Halsabschneider“ bist!“

 

PP: So ist es!

 

IH: Du hast Dich immer zu Wort gemeldet und für die Schwachen gekämpft. Für die Rechte der Frauen, für die Rechte der Schwulen…

 

PP: Für mich fängt Unrecht nicht dort an, wo es meine Person betrifft. Das macht das Leben sehr anstrengend.

 

IH: Spielt Religion eine Rolle für Dich?

 

PP: An unserem höchsten Feiertag, Jom Kippur, bin ich in die Synagoge gegangen. An diesem Tag soll jeder mit sich selbst ins Gericht gehen und überlegen, wo er etwas falsch gemacht hat und diejenigen um Verzeihung bitten, denen er wehgetan hat. Und er soll, wenn er kann, denen vergeben, die ihm im Laufe des Jahres wehgetan haben. Diese Idee finde ich grandios, das ist hohe Moral! Ich bin nicht gläubig, aber eine Moralistin bin ich schon.

 

IH: Hast Du jemals überlegt, hier wegzugehen und irgendwo anders zu leben?

 

PP: Ja, wohin denn? Ich habe überall drum herum gewohnt. Wir sind zurzeit - gerade, weil die Deutschen noch ein bisschen unter Schock stehen – ganz gut dran. Mir fällt da die Geschichte vom Juden im Reisebüro ein. Man schlägt ihm ein Land nach dem anderen vor und er kann sich einfach nicht entscheiden. Zum Schluss setzt ihm der ungeduldige Reiseberater den Globus vor die Nase und sagt, suchen Sie sich was aus. Und der Jude guckt sich den Globus an und sagt dann: Haben Sie nichts Besseres?


Peggy Parnass

„Kindheit“ mit Originalholzschnitten von Tita do Rego Silva, Verlag Schwarze Kunst, Hamburg.

 

Heute um 11 Uhr findet auf dem jüdischen Friedhof von Hamburg-Ohlsdorf die Trauerfeier für Peggy Parnass statt.

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