Die Erinnerungskultur ist mittlerweile akzeptierter Bestandteil der urbanen und ländlichen Gesellschaft. Wenn auch der Begriff, so wie wir ihn heute benutzen, erst in den 1990er Jahren aufkam und Entwicklungen dazu nach 1945 teilweise zäh und in Wellenbewegungen und häufig erst in einer der nächsten Generation stattfanden, haben sich in Deutschland Städte, Gemeinden und Landkreise mit der regionalen und örtlichen Geschichte beschäftigt und die Verbrechen, menschenverachtenden Ideologien, Ausgrenzungen von Bürgern etc. thematisiert.
Von den Anfängen des Chauvinismus, des Antisemitismus und der nationalen Verblendung, die weit vor 1933 zu finden sind bis zur Shoa, dem systematischen Völkermord, dem Verbrechen an der Menschheit, musste ein jahrzehntelanger Weg zurückgelegt werden – und muss es noch immer – um das zu begreifen, was nie wieder passieren darf.
Die Stadt Aschaffenburg am nördlichen Zipfel des Bundeslands Bayern, in Unterfranken, hat einen außergewöhnlich frühen Beginn seiner öffentlichen und offiziellen Erinnerung zu verzeichnen. Memoriert wird das jüdische Leben in der Stadt, die jüdische Gemeinde und Mitbürger und die Pogromnacht am 9. November 1938 als die Synagogen brannten – und das bereits ab dem Jahr 1946.
Es gab eine Initiative des Stadtrates unter dem damaligen Oberbürgermeisters Dr. Vinzenz Schwind – also eine, die von Nicht-Juden ausging: Der Stadtrat beschloss Anfang 1946 das Grundstück der jüdischen Gemeinde um den Synagogenplatz (Entengasse) zu einem Gedenkort zu machen und stellte Ende des Jahres ein Synagogen-Mahnmal am nunmehr umbenannten Wolfsthalplatz auf, eine Widmung an den Aschaffenburger Mäzen und jüdischen Bankier Otto Wolfsthal (1872–1942), der sich zusammen mit anderen Juden der Stadt vor deren Deportation, 1942 das Leben nahm.
Orte der Erinnerung in Aschaffenburg. Foto: Claus Friede
Warum in Aschaffenburg so früh der Grundstein zu einer Erinnerungskultur gelegt wurde, lässt sich heute aus den Dokumenten nicht mehr vollständig aufklären, jedoch ist ein parteiübergreifender Konsens des damaligen Stadtrats nachweisbar.
Nur wenige Orte, beispielsweise in Würzburg, wo man bereits am 11. November 1945 einen Gedenkstein am jüdischen Friedhof aufstellte – haben sich der Verantwortung und somit dem Erinnern so früh gestellt. Schaut man in die bundesdeutsche Gedenkkultur, so sind in den meisten Städten erst ab den 1980er Jahren der Opfer gedacht worden und dies häufig nicht ohne Auseinandersetzungen. Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts am 27. Januar – dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz – wurde in Deutschland erst 1996 eingeführt, der „International Holocaust Remembrance Day“ wurde im Jahr 2005 erstmals und danach jährlich von den Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust und den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau begangen.
Die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Verfolgung, die verschiedenen Auschwitz-Prozesse in Polen (1947), Deutschland (1963–65) und Österreich (1972) und die vierteilige US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ (1978) sorgten für ein allgemeines öffentliches Interesse und, wie es der Historiker Dr. Holger Köhn für Aschaffenburg formulierte, eine „Geschichte von unten“ geschaffen wurde, „bei der die (Verlust-)Geschichte der Opfer in den Mittelpunkt gestellt wurde“.
Anfang der 1960er bat die Stadtverwaltung den überlebenden jüdischen Bürger und Kaufmann Paul Levy (1898–1965) eine Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde zu verfassen. Das Dokument konnte leider durch das Versterben Levys nicht zu Ende geführt werden. 1978, als erstmals offiziell ehemalige jüdische Bürger ihre Heimatstadt Aschaffenburg besuchten, führte die Erkenntnis dazu, dass es an ausreichendem Wissen um die dunkle Epoche der NS-Zeit mangelte, was wiederum zu einer Erinnerungsstätte leitete: Die Gründung des Förderkreis Haus Wolfsthalplatz e.V. Anfang der 1980er Jahre und die Eröffnung des jüdischen Dokumentationszentrums, 1985 als Grundlagenforschung im ehemaligen Schul- und Rabbinatshaus. Diese Anfänge fundierten schließlich im Jahr 2007 ebendort das heutige Museum Jüdischer Geschichte und Kultur einzurichten, welches in die Hände der Verwaltung der Museen der Stadt Aschaffenburg gelegt wurde, was zu einer stärkeren musealen Ausrichtung führte. Außerdem gibt es zwei jüdische Friedhöfe, Gedenktafeln am Omnibusbahnhof und daneben ist die Verlegung von „Stolpersteinen“ in der Stadt seit 2007 zu erwähnen sowie die Umbenennung von Straßen und Plätzen, die Teil der bürgerlichen und städtischen Erinnerungskultur darstellen. Aktuell gibt es einen Schüleraustausch zwischen israelischen Schülerinnen und Schülern und dem Karl-Theodor-von-Dalberg-Gymnasium in Aschaffenburg. Diese Begegnungen sind gelebter Bestandteil der heutigen Stadtgesellschaft.
Wie an vielen anderen Stellen auch sind es Einzelpersonen, die konsequent, nachhaltig, ehrenamtlich oder im öffentlichen Auftrag das Gedenken aufrechterhalten –, so auch in Aschaffenburg.
Dem Museum Jüdischer Geschichte und Kultur kommt dabei eine besondere Aufgabe zu, denn hier zeigt sich nicht nur eine rückwärtsgewandte Erinnerung, an das, was einmal war und geschehen oder nicht geschehen ist, sondern auch unser heutiger und zukünftiger Umgang mit Geschichte, Ausgrenzung, Diskriminierung, Entrechtung, Integration und Nationalismus. Der Gedenkort und das Museum und die dort enthaltene Erinnerungskultur stellt nämlich jeden einzelnen Tag neu die Frage, in welcher Gesellschaft wir gemeinsam leben möchten! Dies auch vor den Hintergrund der Messerattacke eines Afghanen im Januar und den anschließenden Demonstrationen Rechter Gruppen in Aschaffenburg im Februar 2025.
Das kleine Museum mit seinen Schautafeln, Vitrinen, Modellen und Erzählungen ist ein Kleinod, ein Ort der sensiblen Annäherung an die jüdische Geschichte der Stadt, mit pädagogischen, informativen und integrativen Schwerpunkten. Es ist Veranschaulichung von Erinnern.
Das Modell der ehemaligen Synagoge, die der Pogromnacht im November 1938 zum Opfer fiel, zeigt eine orientalisch inspirierte Architektur mit Damaszenermuster und drei großen Kuppeln. Ein „Haus der Versammlung“ gab es bereits im Spätmittelalter (13. Jhd.). Die neue Synagoge wurde auf Grund der wachsenden Zahl von Juden in Aschaffenburg (600 Mitglieder der Gemeinde) 1893 fertiggestellt und eingeweiht.
Historische, kolorierte Ansicht der Synagoge Aschaffenburg, 1900. Quelle: Bernhard Purin: Die Welt der jüdischen Postkarten. 2001 S. 55 (gemeinfrei)
Dort wo sie einst stand, ist der Platz mit einem Platanenhain und einer weiteren Gedenktafel und später einer Kunst-im-öffentlichen-Raum-Skulptur als Gedenkort versehen worden.
Anja Lippert, Aschaffenburgs Sachgebietsleiterin Stadtgeschichte ist nicht nur eine Kennerin der jüdischen Stadtgeschichte, sondern auch jemand, die sehr engagiert Geschichten, Dokumenten und kultischen Objekten nachgeht und forscht. Neben Museumführungen sind u.a. eine Reihe der Gegenstände in den Vitrinen auf ihr Auffinden zurückzuführen, ob es sich um ein Emaille-Schild, um einen Kleiderbügel des Modehauses Löwenthal handelt oder um unterschiedlich und individuell gestaltete Torah-Wimpel (Mappa), die als Beschneidungs-Torah-Band oder schlicht Tuch bezeichnet werden – als textiles Gedächtnis. Diese Torah-Wimpel und viele andere Judaika-Objekte geben Auskunft über jüdisches Leben der Stadt. Eine kleine Sammlung von Chanukka-Leuchtern (jüdisches Lichterfest), eine Torah-Rolle (hebräische Bibel), Kiddush-Becher (Kiddush heißt der Segen über den Wein, der feiertags gesprochen wird), Halef- oder Schächtmesser (zum rituellen, kosheren Schlachten), aber auch Fotografien, Zeitungsberichte und Briefe sind ausgestellt. Eine Vitrine zeigt einen originalen Rucksack, den eine jüdische Bürgerin Aschaffenburgs zur Deportation mitnahm. Dieser ist vor einem Foto ausgestellt, das illegal im April 1942 von einem unbekannten Fotografen am Bahnhof in Würzburg-Aumühle geschossen wurde und den Abtransport in osteuropäische Vernichtungslager zeigt. Aufgestapeltes Gepäck, zusammengerolltes Bettzeug säumt die Mitte des Bildraums. Würzburg war die Sammelstelle für Juden aus Unterfranken.
Ausstellungsansicht. Foto: Claus Friede
Zur Erinnerungskultur der Stadt tragen zudem auch weitere Projekte bei: Die Museen und das Stadt- und Stiftsarchiv der Stadt Aschaffenburg helfen bei den Recherchen nach Vorfahren zur Familiengeschichte. Betreut werden weltweit Personen, die auf der Suche nach dem letzten Wohnort oder den Gräbern ihrer Eltern, Großeltern und Vorfahren sind.
Eine umfangreiche biographische Datenbank „Jüdisches Unterfranken", eine Kooperation mit der Universität Würzburg, liefert dazu zahlreiche Informationen und Recherchemöglichkeiten.
Das Projekt „Erinnern. Immer“ fand im Februar und März 2022 über drei Wochen hinweg statt. Via WhatsApp-Nachrichten wurde der Lebensweg des jüdischen Kaufhausbesitzers Max Hamburger (1881–1942) in literarischer Form erzählt – so als würde der einstige Aschaffenburger selbst die Nachrichten schicken.
Und schließlich werden über das Jahr hinweg Führungen zu jüdischen Themen angeboten, beispielsweise zu den beiden jüdischen Friedhöfen: Jüdischer Friedhof am Erbig (1735–1942) in Schweinheim und zum Jüdischen Altstadtfriedhof (seit 1890) und dem im Jahr 1900 fertiggestellten jüdische Leichenhaus (Tahara-Haus) im neugotischen Stil.
Das Zitat aus Friedrich Hölderins „Hyperion“, das auf dem Synagogen-Mahnmal von 1946 eingemeißelt wurde […] „töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut“ […] führt uns noch heute, indem uns die Vergangenheit immer wieder präsent in unser Gedächtnis gerufen wird.
ברוכים הבאים לאשפנבורג (dt.: Willkommen in Aschaffenburg)
Erinnerungskultur in Aschaffenburg
Museum Jüdischer Geschichte und Kultur, Treibgasse 20 in 63739 Aschaffenburg.
Öffnungszeiten: Sa. + So. (Feiertage) 10-16 Uhr; Sonderöffnungen möglich. Eintritt frei
Weitere Informationen (Museen der Stadt Aschaffenburg)
Zur Datenbank „Jüdisches Unterfranken"
Weitere Informationen (Einnern. Immer)
Kommende Führungen:
Jüdisches Leben in der Stadt – Stolpersteine
Gesellschaft und Schicksale im 20. Jh.
März: Sonntag, 23.3., 11–12:30 Uhr
Treffpunkt: Altstadtfriedhof, Tahara-Haus,
Spuren jüdischer Vergangenheit
Jüdischer Friedhof am Erbig – Geschichte und Riten
Bitte beachten: Auf den jüdischen Friedhöfen sind männliche Besucher aufgefordert, eine Kopfbedeckung (Kippah) zu tragen.
April: Sonntag, 6.4., 11–12:30 Uhr
Treffpunkt: Jüdischer Friedhof am Erbig, Ortsteil Schweinheim, nur zu Fuß erreichbar; Anmeldung bei der Tourist-Information erforderlich!
Vom Thoraschrein zum Rucksack
Museumsführung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Aschaffenburg
März: Samstag, 29.3., 14–15:30 Uhr
April: Samstag, 26.4., 14–15:30 Uhr
Treffpunkt: Museum Jüdische Geschichte & Kultur.
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