Film

„Bones and All“ ist die hinreißende Coming-of-Age Story zweier jugendlicher AußenseiterInnen in Reagans Amerika der Achtzigerjahre. Jene leicht verschrobene Kannibalen-Romanze voller Tragik, Zärtlichkeit, trockenem Humor und gelegentlich zersplitternden Knochen rührt zu Tränen, manche Zuschauer flüchten. 

 

Der italienische Regisseur Luca Guadagnino entledigt sich mit frappierender Nonchalance den Zwängen des blutigen Horror-Genres, erzählt ästhetisch virtuos von der Suche nach Identität, von Begierden, Sucht und Liebe am Rande der Gesellschaft. Schauspielerisch umwerfend: Taylor Russell und Timothée Chalamet. 

 

Heimlich klettert die 17jährige Maren (Taylor Russell) nachts aus dem Fenster des Trailer Homes, das sie zusammen mit ihrem Vater bewohnt. Der schließt abends die Tür ihres Schlafzimmers von außen ab, verriegelt alles mit Brettern, warum sperrt er sie ein? Krankhafte Strenge? Hält er die Tochter wie eine Gefangene? Was für Gründe stecken dahinter? Der Vater, Afroamerikaner (André Holland) wirkt zurückhaltend, sympathisch, etwas distanziert, trotzdem sofort rotieren beim Zuschauer Spekulationen und Vermutungen. Völlig zu Unrecht. Mit Unbehagen registrieren wir während des Films immer wieder, in welchem Ausmaß gängige Vorurteile und postmoderne Leinwand-Klischees unser Urteilsvermögen verzerrt haben. „Bones and All“ konfrontiert das Publikum mit einem Amerika der Ausgegrenzten, geprägt von Armut, Entbehrung und Ausbeutung, doch mit ganz eigenen verborgenen Herausforderungen und emotionalen Überlebensstrategien, voller Melancholie aber manchmal auch schmerzhafter Ernüchterung.

 

Seit „Call Me By Your Name“ (2017) wissen wir, kaum jemand ist fähig, die uns widersprüchlich scheinenden Emotionen eines Heranwachsenden so wundervoll in einer einzigen Geste verschmelzen lassen wie Luca Guadagnino. Die Pyjamaparty von Marens Mitschülerinnen ist in vollem Gange, man probiert die neusten Nagellack-Farben aneinander aus. Die 17jährige kuschelt sich im Bett an die Freundin, nimmt, eher unerwartet, deren Finger in den Mund, ein zärtlich erotischer Übergriff? Nein, es knackt, ein entsetzliches Geräusch, gellende Schmerzensschreie, der abgenagte blutige Finger löst Hysterie aus, Tumult, Schrecken. Maren flüchtet, der Vater packt in aller Eile das Nötigste zusammen, und wieder werden sie untertauchen müssen, weil seine Tochter ihre Lust auf Menschenfleisch nicht unterdrücken konnte. Dann, eines Tages, liegt auf dem Küchentisch ihre Geburtsurkunde, etwas Geld und eine selbst aufgenommene Kassette. Maren ist inzwischen volljährig, der Vater verlässt sie, wird nie zurückkehren, er hat aufgegeben. Misslungen der Versuch, sie zu beschützen und die Umwelt von ihr. Auf der Kassette schildert er die blutigen Zwischenfälle der vergangenen 15 Jahren seit ihrer ersten Attacke auf den Babysitter als Dreijährige, mit acht fiel ein Junge im Feriencamp ihr zum Opfer.  Allein, auf sich selbst gestellt, will Maren nur eins, die Mutter ausfindig machen, erfahren, ob es jemanden gibt auf diesem Planeten, der ihr ähnelt oder sie vielleicht wenigstens verstehen kann.

 

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Luca Guadagnino fühlt sich hingezogen zu denen, die am Rande der Gesellschaft leben. Sie sind es, die ihn innerlich berühren, schreibt er in seinem Director’s Statement. „All meine Film sind über Ausgestoßene", ihnen fühlt er sich verbunden wie den Figuren in „Bones and All“. Dieses existenzielle Gefühl der Verbundenheit liegt auch in seiner Biographie begründet, in Palermo geboren, wuchs er zeitweise in Äthiopien auf, dann kehrte die Familie zurück nach Italien, ein Umzug folgte dem nächsten. Nichtzugehörigkeit wurde ein Teil seiner Identität, der Ausgangspunkt seines künstlerischen Schaffens. Der Film sei eine emotionale Reise, erklärt Guadagnino und fordert sein Publikum auf, die Protagonisten zu begleiten. Wo ist die Möglichkeit in der Unmöglichkeit für sie? Es gilt zu entdecken, wer sie sind. Warum sie so handeln, wie sie es tun. Was lernen sie, und was lernen wir dabei über uns selbst? Der Regisseur erwartet von uns eine Antwort auf seine Fragen, ansonsten lässt er Raum für jede Art der Interpretation. 

 

Beim nächtlichen Warten am Busbahnhof mitten im finsteren verregneten Niemandsland der Provinz taucht eine seltsam skurril kostümierte Gestalt auf, er stellt sich Maren als Sully (grandios Mark Rylance) vor, der alternde Tramp hat ihre Witterung aufgenommen, sie am Geruch als einen der ihren erkannt, einen sogenannten „Eater“, will heißen Menschenfresser. Sully schränkt ein, seinesgleichen verspeise er nicht, man respektiere sich. Maren mustert den Fremden misstrauisch, folgt ihm aber doch in das dunkle unheimliche Fachwerkhaus zu seiner neusten Beute, einer angeblich friedlich entschlafenen betagten Frau. Welch Festessen in holzgetäfelter Gediegenheit. Verschlungen wird alles inklusive der Knochen. Guadagino veranstaltet keine effektheischende Splatter-Orgie, es reicht der Anblick des sechzigjährigen Sully in blutbespritzter weißer Unterhose. Dies ist Marens erste Begegnung mit einem Wesen, der ihre zwanghaften Begierden teilt, und doch sind er und seine Anhänglichkeit ihr zutiefst unangenehm, weiter möchte sie jene Art der Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen und flieht hinaus in die Dunkelheit. 

 

Wenig später trifft sie auf Lee (Timothée Chalamet), ein ritterlich cooler Rebell der Straße, für den Menschenfleisch eine Droge ist wie jede andere auch. Seine Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Objekten der Begierde befremdet Maren vielleicht anfänglich noch. Es ist keine Liebe, die wie ein Blitz einschlägt, sondern eine schrittweise zögerliche Annäherung. Die beiden sind Seelenverwandte, Komplizen, die nur langsam Gefühle zulassen, immer etwas ängstlich, misstrauisch, ob diese neue Leidenschaft sie nicht plötzlich verschlingt wie ein Fressanfall. Und so drücken sie Emotionen differenzierter aus als ihre Altersgenossen. Gleichgültig, wie viel Blut sie vergießen, die Protagonisten umgibt eine Aura bizarrer Unschuld. „Bones and All“ versucht Nähe neu zu definieren. Ein Roadtrip quer durch die Staaten Amerikas beginnt, suggeriert Freiheit, auch wenn die Youngster sich nicht ihrem Schicksal entziehen können noch ihrer Vergangenheit. Sie entwickeln ihre eigenen Regeln, um den Schmerz für sich und andere zu limitieren, suchen Opfer, unverheiratet ohne Kinder, aber nicht immer funktioniert es. Wir sehen Lee, wie er den Schausteller eines Jahrmarkt anbaggert, sie verschwinden im Maisfeld, ein letzter Orgasmus, es folgt die Gier des Kannibalen. Aber ein Blick durchs fremde Fenster zeigt, der junge Mann hatte Frau und Kinder. Horror ist spürbar, allgegenwärtig, aber in erster Linie als Unbehagen gegenüber der Gesellschaft. 

 

Für Guadagnino geht es bei dem plötzlichen und bedrohlichen Hunger seiner Protagonisten nach Menschenfleisch nie um den Bruch von Tabus oder die Schockwirkung, sondern das Einfühlen in jene, die verloren sind, abgedrängt ins soziale Abseits, von der Gesellschaft verachtet, zurückgestoßen, nur akzeptiert voneinander.  „Bones and All“, so der Regisseur, handelt von einer unmöglichen Liebe, dem Traum ein Heim zu finden. Maren und Lee müssen entdecken, eigentlich existiert dergleichen nicht für Ausgestoßene wie sie, doch unbeirrt kämpfen die beiden um das scheinbar unerreichbare Anrecht auf Glück, versuchen sich selbst neu zu erfinden, sich zu wehren gegen das Schicksal als unentrinnbarer Fluch.  

 

Das Thema Kannibalismus empfand Guadagnino nie als Provokation, ihm war die Metapher aus der Religion, mit der er aufwuchs, vertraut, der Leib und das Blut Christi bei der Kommunion, verwandelt in Wein und Brot. Uns sieht er im Spannungsfeld zwischen Vernunft und Instinkt, das Handeln zum einen durch das soziale Umfeld bestimmt, zum anderen durch die Vorfahren. Kannibalismus ist der „ultimative Weg", wie ein menschliches Wesen ein anderes vernichtet, so der Regisseur, aber darum geht es ihm nicht. Der Film versteht sich als Meditation über das, was wir nicht kontrollieren können in uns selbst. Jenes beunruhigende Verlangen nach Menschenfleisch ist hier so natürlich wie das Bedürfnis nach Schlaf, nur löst es Schuldgefühle aus, Furcht, Trauer und Scham. Die jugendlichen Außenseiter leiden darunter, reduziert zu sein auf die zerstörerische Seite der menschlichen Existenz. Für Guagnino sind Maren und Lee real, Ekel und Liebe gleichberechtigt, untrennbar voneinander. Was er kategorisch ablehnte, war jede Form der Satire oder Sarkasmus, nur so konnte er den Protagonisten seine Loyalität beweisen, zärtlich behutsam nähert er sich ihnen, verletzt, verspottet, geächtet wurden sie oft genug in ihrem Leben. Der wohl grausamste Moment im Film, wenn Maren ihrer Mutter begegnet, sie war ursprünglich das Ziel der Reise. Chloë Sevigny spielt die Rolle, eine alte Frau, in der Psychiatrie für immer verstummt, leblos, die Armstümpfe in Bandagen, sie hat ihre eigenen Hände verspeist, das Verlangen nach Menschenfleisch war übermächtig, 

 

Es war für den 51jährigen italienischen Regisseur der erste Spielfilm, den er in Amerika drehte, eine Art Hommage an die Tradition des Roadtrips. David Kajganich („A Bigger Splash", „Suspiria“) schrieb das Drehbuch nach der Idee von Camille DeAngelis' 2015 erschienenem Young Adult Roman „Bones and All“. Früher genoss es Guadagnino als echter Cinephiler einzutauchen in das vertraute enzyklopädische Wissensterrain, um sich stilistisch von seinen Lieblingsfilmen inspirieren zu lassen. Aber nun ist es die Landschaft selbst, die Atmosphäre und Textur der Bilder bestimmt. Auf dem Treck durch den Mittleren Westen, absorbierte er die weiten offenen Horizonte, war fasziniert von dem Stolz der Menschen, ihrer Freundlichkeit und vor allem der Würde grade jener am Rande der Gesellschaft, ausgegrenzt, abgehängt, die aber nichtsdestotrotz in die moralischen Werte ihres Landes glauben. Es veränderte Guadagninos Perspektive, ließ ihn an seinen Vorurteilen über Amerika zweifeln, er begann die Widersprüche dieses Landes zu begreifen und re-kreierte die Achtziger, eine Ära des wirtschaftlichen Aufschwungs, in der aber viele in die Armut abrutschten. Regisseur und Crew nahmen denselben Weg wie ihre Protagonisten, von Maryland weiter nach Westen, Ohio, Nebraska, Indiana und Kentucky. Kameramann Arseni Khachaturan, geboren in Belarus, hat mit georgischen Regisseuren gearbeitet wie Rati Oneli und Dea Kulumbegashvili.  Der 29jährige bringt das Gespür mit für diese oft raue, abstoßende und zugleich wahnwitzig schöne Welt der Entrechteten, die ungeahnte neue Perspektiven eröffnet, vielleicht ihr einziges Privileg. 

 

„Denkst Du, ich bin ein schlechter Mensch?“, fragt Lee, Maren antwortet: „Ich denke nur daran, dass ich Dich liebe.“ Eine Lovestory unendlich zärtlich mit der Unerbittlichkeit eines Kriegsfilms und verlorener Schlachten, voller Sehnsucht und Hoffnung, dort wo sie längst gestorben sein müsste. Die beiden Akteure, sie haben sie so viel Grausames getan, erlebt, doch ihr Idealismus trotzt jeder Gewalt.  Der Sound von Trent Reznor und Atticus Ross trifft das Gefühl von Verlorenheit, während Indie Bands wie Joy Division und New Order das Lebensgefühl jener Zeit repräsentieren, es war nicht nur die Ära Reagans auch des Punk Rocks, aber die alles entscheidende Stimme ist Leonard Cohen und sein rauchiges „You want it darker... There's a lullaby for suffering And a paradox to blame. But it's written in the scriptures." Auf den Filmfestspielen in Venedig erhielt Luca Guadagnino den Silbernen Löwen für die Beste Regie, Taylor Russell wurde als beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet. 

 

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Bones and All 

Regie: Luca Guadagnino

Drehbuch: David Kajganich

Darsteller: Taylor Russell, Timothée Chalamet, Mark Rylance, Michael Stuhlbarg, André Holland, Chao Sevigny, Jessica Harper

Produktionsland: Italien, USA, 2022

Länge: 131 Minuten

Kinostart: 24. November 2022

Verleih: Warner Bros. Pictures Germany 

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright © 2022 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.

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