Film

Die poetisch skurrile Lovestory „Warten auf Bojangles" ist ein ästhetisch wahnwitziges Wunderwerk voller Esprit und Lebensfreude, überbordend an Kreativität – und unendlich traurig.

Regisseur Régis Roinsard zauderte anfangs, Olivier Bourdeauts Beststeller zu verfilmen. Diese Leidenschaft, schillernd, exaltiert, fern jeder Konvention, bezaubernd wie verstörend, er fragte sich: „Wie weit geht man für den Menschen, den man liebt?“ Und vor allem, wie würde seine Tochter auf den Film reagieren, wenn sie älter ist, was würde es über ihn als Vater sagen? 

 

Côte d’Azur 1958, eine Cocktail-Party reicher Langweiler unter strahlend blauem Himmel. Georges (Roman Duris) rastloses Lächeln entlarvt ihn für uns als ungebetenen Gast, er schwindelt sich von einem Drink zum nächsten, versucht sich aus purem Vergnügen als Hochstapler, wechselt zwischen Gesprächspartnern, Identitäten und Akzenten, gibt sich als rumänischer Prinz aus, und Minuten später als Sohn eines amerikanischen Autoherstellers, seine Fabulierlust kennt keine Grenzen. Da taucht die Frau auf, die von nun an sein Leben bestimmt: Sie heißt Camille (überragend Virginie Efira), tanzt hinreißend und möchte an diesem Tag lieber Antoinette genannt werden. Georges' Schwindeleien fliegen auf, gemeinsam retten sich beide mit einem Sprung ins Meer. Es ist der Beginn ihrer Amour fou inklusive Sex auf dem Altar einer abgelegenen Kapelle. Neun Monate später sind sie zu dritt, unzertrennlich im ständigen Glückstaumel einer bizarren Welt, die sie selbst kreieren, immer bedacht darauf, die bürgerlichen Regeln zu brechen.

 

Galerie - Bitte Bild klicken
1968, Sohn Gary (Solàn Machado-Graner) bezieht von den Mitschülern Prügel für seine angeblich spinnerten Lügen: Jeden Abend Parties daheim mit 300 Gästen, das gibt es doch nur bei Filmstars. Eltern, die nie ihre Post lesen. Wer soll das glauben? Und doch reicht wirklich der gigantische Berg ungeöffneter Briefe fast bis unter die Decke. Camille verdrängt die Realität mit ihren phantastischen Einfällen und Geschichten, verzaubert alle, besonders ihren Sohn, den sie zu siezen pflegt und der seine exzentrische Maman vergöttert. Nur Georges spürt irgendwann hinter der Obsession für Feste, Musik und herrlich absurden Selbstinszenierungen den Abgrund, die Depression. Noch tanzt das Paar täglich zu den Klängen von „Mr. Bojangles“, schwelgt in seiner raffiniert poetischen Kunstsprache bis der Wahnsinn das Terrain der Luftschlösser erobert. Voller Angst beobachtet der neunjährige Gary die gespenstische Veränderung. Zum engeren Kreis der Familie gehört Mademoiselle Superfétatoire, ein exotischer Reiher, so wie der väterliche Freund und Beschützer, genannt Ordure (großartig Grégory Gadeboi), ein wohlhabender korpulenter Industrieller, immer mit einer Zigarre im Mund, die er gegen Ende des Films zum ersten Mal anzündet.

 

In Georges erkennt Camille bei der ersten Begegnung jenen preußischen Kavalleristen eines Ölgemäldes wieder, in den sie seit ihrer Kindheit unsterblich verliebt ist. Von da ab phantasiert sich der Auserwählte die verrücktesten historischen Auftritte zusammen, durchaus spannender als rumänische Prinzen oder Söhne reicher Automobilhersteller. Auf Automobile versteht sich Georges übrigens, notgedrungen verdingt er sich als Gebrauchtwagenhändler. Nur kann Camille seine Abwesenheit  bald nicht mehr ertragen, den altklugen  Sohn hat sie schon aus der Grundschule genommen, Schriftsteller zu werden scheint für einen wie ihn den Proust-Leser die einzige Option. Wir haben uns nur zu gern von dem Lachen, der Musik, dem Übermaß an Romantik und Witz täuschen lassen. Schon in der ersten Nacht schwor der verspielte Hochstapler allen Frauen Treue, in die sich Camille verwandeln würde. Das ist eigentlich die Schlüsselszene des Dramas, deren Bedeutung uns erst viel später bewusst wird. Diese Liebe hat ihre eigene widerspenstige Logik, das Chaos ist vorprogrammiert. Irgendwann müssen die Steuern gezahlt werden, droht der wirtschaftliche Untergang, ihre Wohnung, die Hochburg der Träume, muss verkauft werden. 

 

Regisseur Régis Roinsard („Mademoiselle Populaire“, 2012) gelingt das schwer Vorstellbare, die Lyrik Olivier Bourdeauts in Bilder umzusetzen (Kamera: Guillaume Schiffmann). Der Film folgt inhaltlich meist zwar dem Roman, verändert aber die Perspektive. Ursprünglich erlebten die Leser jene Szenen einer Ehe aus der kindlich verklärten Sicht des Sohnes, auf der Leinwand wird Georges zum Erzähler, der Ton ernster. Auch wenn die Utopie zerbricht, die Bedingungslosigkeit seiner Liebe nicht, der charmante Aufschneider verwandelt sich in einen selbstlosen Ehemann und Beschützer. Die vor Einfällen übersprudelnde Camille dagegen stellt Ansprüche, wahrscheinlich ohne dass es ihr bewusst wird, mit jedem Tag unerbittlicher. Das Spielerische verschwindet, karikiert sich selbst. Nach der ersten gemeinsamen Nacht auf dem Altar war sie damals plötzlich verschwunden, ließ sich suchen, verweigerte die alles überwältigende ersehnte Zweisamkeit, ahnte sie, was sie den Menschen um sich herum antun würde? Vielleicht wollte sie den Geliebten schützen, lieber flüchten als ihn mit in den Abgrund hinabreißen. Bald schon streckte sie die Waffen, gab den Widerstand auf, wer kann schon einer solchen Liebe entsagen.

 

Und umgekehrt, der Zauber von Camille ist unwiderstehlich, mehr Phantasiegebilde als reale Frau, einzigartig und fragil, eine Traumrolle für Virginie Efira. Sie sagt über die Vorgespräche zum Film: „Ich fürchtete, dass Camille überheblich wirkte, als würde sie einer höheren sozialen Klasse angehören. Ich gebe zu, dass ich sie, bevor ich sie spielte, auch ein wenig verurteilt habe: ihre Weigerung, die Realität zu akzeptieren, verärgerte mich. Daher erschien es mir wichtig, ihr auch eine Verletzlichkeit zu verleihen, damit man die Etappen ihrer Krankheit besser erkennen kann.

Régis Roinsard und Drehbuchautor Roman Compingt nahmen meine Fragen ernst. So ist aus Camille eine Frau geworden, die sich immer in der Defensive befindet, weil die Welt, der sie so gerne angehören würde, sie nicht so akzeptiert, wie sie ist. Sie verfügt nicht über die Zugangsdaten zu dieser Gesellschaft.“ Jede Etikettierung, manisch depressiv oder bipolare Störung wird vermieden, wir sehen nur, wie aus einem scheinbar unbeschwerten Lachen ein schreckliches Schreien wird. Wie Zuneigung während weniger Sekunden in Aggression umschlägt, die Gäste beim Dinner erstarren, sie sind verwöhnt mit Charme, Lachen, amüsanten überdrehten Anekdoten, Musik, Leichtigkeit und plötzlich ist alles fort. Die Schönheit nur noch eine armselige Staffage. Camille ist kein Mensch, dem es an Zuwendung oder Verständnis fehlte, nichts könnte Sohn und Ehemann mehr das Gefühl ihrer Hilflosigkeit spüren lassen wie eine solche psychische Verwandlung. Wenn Camille voller Selbstverständlichkeit nackt die Straße entlang geht, rennt ihr Georges nach, reißt sich die Kleider vom Leib, um die Szene zur gewollten Performance zu stilisieren, doch als die Wohnung in Flammen aufgeht, lässt sich eine Einweisung in die Psychiatrie nicht länger vermeiden. Und doch als Verkörperung des preußischen Kavalleristen hofft er noch immer, sie zu retten, sie zum Glücklich Sein zwingen zu können. 

 

Die rigiden medizinischen Behandlungsmethoden reduzieren die Patientin zur willenlosen Marionette. Vater und Sohn entführen Camille in einer bezaubernden Rettungsaktion. Sie fliehen mit dem Cabriolet Richtung Spanien im, dort wartet ihr bester Freund schon in einem Castell auf sie. Und wieder kehrt kurzfristig die scheinbare Leichtigkeit zurück, aber die Tragödie ist unabwendbar, das begreift Georges, als seine Frau von einem Bad aus dem Meer zurückkommt und sich von Mademoiselle Superfétat verhöhnt fühlt, zum Gewehr greift, abdrückt ab, der Reiher erhebt sich in die Lüfte, flüchtet in sichere Gefilde. Gary ist untröstlich, immer wieder hat sein Vater versucht ihn zu trösten, dieses Mal gelingt es ihm nicht. Und doch nimmt „Warten auf Bojangles“ am Ende dem Tod seinen Schrecken. Das Wissen, wir können mit Verlust leben. Es gilt zu lernen an Stelle der anderen zu tanzen, zu leben. Auch das ist eine Form der Treue und Loyalität. Gary und Ordure gelingt es, sie besitzen die Kraft, Camille und Georges nicht.

 

Wenn sie alt genug ist, wird die Tochter von Régis Roinsard den Film verstehen. Seine Frau hatte ihn damals beruhigt, sie würde die Eltern nicht mit den Protagonisten gleichsetzen. Und selbst wenn. Es ist eine Kindheit im Ausnahmezustand, er hat ihn geteilt den wahnwitzigen Glückstaumel, war Komplize und Beobachter zugleich. Er würde es gegen kein anderes Dasein tauschen wollen.

 

Datenschutzhinweis

Diese Webseite verwendet YouTube Videos. Um hier das Video zu sehen, stimmen Sie bitte zu, dass diese vom YouTube-Server geladen wird. Ggf. werden hierbei auch personenbezogene Daten an YouTube übermittelt. Weitere Informationen finden sie HIER

 


Originaltitel: En attendant Bojangles

Regie: Régis Roinsard

Drehbuch: Romain Compingt, Régis Roinsard nach dem Roman von Olivier Bourdot

Darsteller: Romain Duris, Virginie Efira, Solàn Machado-Graner, Grégory Gadeboi

Produktionsland: Frankreich, 2021

Länge: 125 Minuten

Kinostart: 4. August 2022

Verleih: StudioCanal GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright StudioCanal GmbH

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.