Meinung
Filmfest Emden-Norderney: Die Kartographie

Seit zwei Tagen ist es Sommer, die Temperaturen, das Licht und der Himmel sind wie sie zu dieser Jahreszeit sein sollen.

Vor zwei Tagen begann das Filmfest Emden-Norderney, die Kinos sind dunkel und wenn man sich seine Filmliste festivalmäßig quantitativ (und natürlich qualitativ) zusammengestellt hat, so wie ich, genießt man vielleicht unter Umständen das schöne Wetter auf der Leinwand und stellt schließlich betrübt fest – es ist doch etwas anderes als draußen zu sein.

Klimatisch getröstet werde ich durch kleine Entdeckungstouren, cineastisch und städtisch, denn die lockere Festivalstimmung in einer Stadt wie Emden, scheint sich auch in den Kapillargefäßen des urbanen Raumes festgesetzt zu haben. Es wirkt familiär, man kommt ganz un-ostfriesisch schnell in Kontakt mit Leuten und spricht: über Filme, die Stadt und überhaupt über das Leben.

Apropos das Leben. Der deutsch-schweizerische Film „Marcello Marcello“, der in Deutscher Erstaufführung gezeigt wird, versetzt mich in den Sommer Italiens und baut eine schöne Brücke zwischen dem Filmort Amatrello und dem Filmfestort Emden.

Auf der italienischen Insel Amatrello hat sich ein archaischer Brauch erhalten. Die Väter entscheiden anhand von Geschenken, wer das erste Rendezvous mit ihren Töchtern erhält. Diese Tradition bestimmt seit Menschengedenken den Lauf der Liebe und des Hasses auf der Insel. Marcello, Sohn eines Fischers mit einem ungewöhnlichen Talent zum literarischen Erzählen, hält nichts von dieser ambivalenten Tradition und beteiligt sich nicht an den Geschenkaktionen. Bis Elena, die Tochter des Bürgermeisters, kurz vor ihrem 18. Geburtstag auf die Insel zurückkommt. Nun will Marcello Elenas Vater das perfekte Geschenk überreichen: den gehassten Hahn des Metzgers, der den Bürgermeister allmorgendlich aus dem Schlaf reißt. Doch der Metzger will sein Tier nur für einen anderen Gegenstand aus dem Besitz eines Anderen geben. Und plötzlich sieht Marcello sich in eine Reihe von Tauschgeschäften verstrickt. Irgendwie scheint jeder etwas vom anderen zu wollen und so entwickelt sich das Anfangsgeschäft zu einer Sysiphus-Aufgabe, durch welche die Vergangenheit des ganzen Dorfes aufgearbeitet werden muss.

Das eigentlich interessante Moment ist weder das einzelne Tauschgeschäft noch das Ergebnis, mit Elena ausgehen zu dürfen, sondern die Kartographie, das „Mapping“ der Beziehungen. Der Film erfasst die Netzwerke eines Raumes und kann als Instrument zum Begreifen von Landschaft und Ort verstanden werden. Das Inselstädtchen, die Landschaft und das Meer drum herum sind topografische und zugleich semiotische Räume, sie sind durch ihre Geschichte und Gesellschaft, Identität und Beziehungsgeflechte geprägt.

Ganz so erlebe ich nun den Festspielort Emden – zwar bin ich noch nicht bei den Tauschgeschäften angelangt, aber die Netzwerkbildung funktioniert schon prächtig und der kommunikative Reiz ist hoch und ausgeprägt.

Ihr Claus Friede

(Claus Friede ist Chefredakteur von Kultur-Port.De, Kulturjournalist, Moderator, Ausstellungs- und Filmreihenkurator. Er ist Mitgründer des Kulturklub Hamburg und leitet seit 20 Jahren die Kunstagentur Claus Friede*Contemporary Art)



Marcello Marcello. CH/D 2008. Regie: Denis Rabaglia. Buch: Mark David Hatwood nach seinem Roman „Marcello’s Date (Marcello und der Lauf der Dinge)“. Kamera: Filip Zumbrunn. Musik: Henning Lohner.
Mit: Francesco Mistichelli, Elena Cucci, Luigi Petrazzuolo, Renato Scarpa, Ivo Garrani, Mariano Rigillo u.a.
Farbe 97 Min. 35mm. Prod.: C-Films und zero fiction / Anne Walser. Verleih: Senator. DF/GermV.
Foto: Filmstill © C-Films
Filmfest Emden-Norderney 2. bis 9. Juni 2010
https://filmfest.icserver13.de/

Weitere Filme zum Thema Mapping von Beziehungen im o.g. Sinn: 
"andiamo!" von Thomas Crecelius (94 Min., D/I 2004, Venutura Film)

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