Meinung

Es ist eine ganz seltene Erfahrung, dass Soloinstrumentalisten sich selbst während ihres Spiels vergessen machen. In der Regel ist es ja vielmehr umgekehrt so, dass Solisten qua Solisten sich in den Vordergrund spielen, weil sie sich ohnehin genau dort von Berufs wegen befinden.

 

Aber um dieses an Äußerlichkeiten Maß nehmende Vergessen soll es im Folgenden gar nicht gehen. Es handelt sich vielmehr darum, dass Solisten in und während ihres Spiels quasi in ihrem Instrument verschwinden und in diesem Verschwinden sich an den ideellen Ort der Entstehung der jeweiligen Komposition begeben, die sie in statu nascendi zum Erklingen bringen.

Es entsteht der Schwindel erregende Eindruck, als würde die Violine, um die es hier geht, mit einem Eigenleben begabt, als würde der Solist sich selbst überflüssig machen, indem er sein Innerstes in das Instrument transferiert, das nun seinerseits das Innerste der Komposition zum Erklingen bringt.

 

Diesen Eindruck, der einen an seinen Sinnen und schlimmstenfalls an seinem Verstand zweifeln lässt, hatte ich, als ich von der Interpretation des Brahms`schen Violinkonzerts in D-Dur, op. 77 mit dem CityMusic Cleveland Chamber Orchestra unter der Leitung von Avner Dorman und der japanischen Solistin Sayaka Shoji aus dem Jahr 2015 mit tränenfeuchten Augen überwältigt wurde. Und dies noch nota bene: Diese YouTube-Einspielung ist von keinen lästigen und stets für Verärgerung sorgenden Werbeunterbrechungen zersplittert.

 

Die von Joseph Joachim stammende Kadenz Ende des ersten, Allegro non troppo überschriebenen, Satzes ist für mein Empfinden, aller selbstredend vorhandenen melodisch-harmonischen Bezüge zu dem fast 20-minütigen, exzessiv-emotionalen ‚Vorspiel‘ zum Trotz, ein kleines, nicht weniger gefühlshaft aufgeladenes Konzert innerhalb des großen. Der Moment aber, in dem das zunächst vom Fagott und dann von den Blechbläsern dominierte Orchester sich wieder hinzugesellt, ist in seiner tastenden Innigkeit des Zwiegesangs von einer unerhörten Eindringlichkeit, und zwar vor allem deswegen, weil diese Virtuosin sie ihr mit ihrem elfenhaft zarten, verschwebend-unwirklichen Spiel zu geben vermag. Von dem sich unverhofft einstellenden furiosen Sich-Aufbäumen, dieser dramatisch zugespitzten, berauschenden Gefühlsintensität des finalen Ausklangs ganz zu schweigen.

 

Und nun gar das einer Liebeserklärung Sprache gebende zarte Adagio des zweiten Satzes, dieser herzinnige, ungeheuer berührende Dialog zwischen der Oboe und der Solovioline ist in dieser Einspielung von einer betörenden Schönheit, die wiederum, nicht zuletzt und vor allem, dem gebannt in dieses sich hingebende Gefühl hineinhorchenden, sich darin verlierenden Spiel Sayaka Shojis geschuldet ist.

 

Das Allegro giocoso, ma non troppo vivace überschriebene Rondo, der sich wie toll gebärdende und sich in Kapriolen überschlagende und sich zweimal in exzessiv-schauerliche Dissonanzen hineinsteigernde Finalsatz mit seinem ungarischen Tanzthema ist in seiner Essenz mehr als bloß spielerisch-spaßhaft-fröhlich-lebendig. Weil er immer wieder – ein partieller danse macabre im Sibeliusschen Sinne – ins Irr-Zugespitzte eskaliert. Dass dieses Verzweifelt-Ausweglose – ein schriller Hilfeschrei – einem durch Mark und Bein fährt, verdankt sich erneut dem weltentrückten spielerischen, bei Bedarf aber mit aller Entschiedenheit auftrumpfenden und sich machtvoll Gehör verschaffenden Extremvermögen dieser in ihrem Spiel so ungeheuer variablen und äußerst fein nuancierenden Violinistin.

 

Es ist nicht anders, diese sich selbst in ihrem Spiel ganz und gar zurücknehmende Virtuosin – in Abwandlung eines mündlich geäußerten Satzes von Hegel ließe sich sagen, dass alles, was in ihrem Spiel seinen Bezugspunkt bei ihr, also der Solistin, habe, sei falsch – entführt und geleitet einen mit ihrer Geige an den Quellpunkt allen musikalischen Geschehens, dorthin, wo der Komponist sich aufgehalten haben mag, als er die Sprache der Töne für das ihn zutiefst Berührende gefunden hat. Übrigens auch und nicht zuletzt – omnia et ubique, weil beispielsweise, pars pro toto, mit gleichem Recht die Einspielung des 2. Violinkonzerts in g-Moll, op. 63 von Sergei Prokofjew zu nennen wäre – in ihrer atemberaubend-überwältigenden Tonkunstausdeutung des Sibelius'schen Violinkonzerts in d-Moll, op. 47, auf die und deren Bach-Zugabe – was die Hilary Hahn-Assoziation wachruft – ich hier mit einem Gefühl tief empfundener Dankbarkeit hinweisen möchte.

 

Prokowief

Sergei Prokofieff, 1918. George Grantham Bain Collection. Bain News Service, publisher Quelle: Library of Congress, digital ID ggbain.28258.

 

Auch wenn ich mir nicht versagen kann, die Tatsache mehr als bloß zu bemängeln, dass ausgerechnet diese ungeheuer fulminante, mitreißende, atembenehmende, außer Rand und Band- Einspielung mit einem fantastischen Orchester unter der Leitung Lahav Shanis – eine musikalische Kostbarkeit, die ihresgleichen sucht – durch eine Unzahl von Werbeunterbrechungen etwas von einem angstvollen Spießrutenlaufen deswegen und darüber hinaus hat, weil diese frech-aufdringlichen und marktschreierischen Anpreisungen von nichtswürdigem Firlefanz unvermittelt über den Zuhörer kommen. Die schlimmste Unzumutbarkeit aber besteht darin, dass unmittelbar vor der Flageolett-Passage des Finalsatzes dieser Werbeirrsinn tatsächlich das Potenzial dafür besitzt, schlechtweg alles zu zerstören, was dieser musikalische Kontrapunkt an zart-abgründiger Intensität und Weltentrücktheit, die Sayaka Shoji in diesen wenigen Sekunden tief anrührende Traum-Wirklichkeit werden lässt, heraufbeschwört.

 

Apropos Flageolett und jetzt wirklich zum Beschluss: Wie es doch so schwebend-leicht-erdenfern, so elfenklangartig-betörend-geisterhaft klingt zum Finale des ersten und des dritten Satzes von Prokofjews 1. Violinkonzert in D-Dur, op. 19 in der Einspielung mit dem State Academic Symphony Orchestra of Russia unter der Leitung von Mark Gorenstein, gerade so, als ob Sayaka Shoji mit ihrer Geige, dem übrigens herausragenden Orchester und überhaupt mit allem eins werde, und also für diese der Zeit enthobenen Minuten ihres Auftritts als Individuum zu existieren aufgehört hätte… Eventuell wird der fassungslos und überwältigt Lauschende zu so etwas wie einem musikalischen Zeitzeugen, weil die Philosophen des antiken Griechenland sich die Harmonie der Sphären exakt so vorgestellt haben mögen.

 

Eine aussagekräftige Randnotiz möge hier noch Platz finden: Die Sonate für Klavier und Violine Nr. 9 in A-Dur, op. 47 von Ludwig van Beethoven, also die sogenannte Kreutzer-Sonate mit dem Pianisten Gianluca Cascioli, die hier gleichfalls verlinkt ist, führt eines glasklar vor Augen: Dass selbst die für das Umblättern der Noten des Pianofortes zuständige Frau im Hintergrund dem Sog des Spiels – also diesem musikalischen Ausnahmezustand – hingebungsvoll und ihrer selbst gänzlich unbewusst – sie ist eine Mitgenommene und in Liebe Entführte – erlegen ist. Und wie auch nicht?!

Es ist nicht anders: Diese Violinistin ist ein Geschenk von ganz weit her!


Sayaka Shoji und die zart-abgründige Intensität und Weltentrücktheit

 

YouTube-Videos:

Brahms: Violin Concerto in D Major, Op. 77 (43:30 Min.)

- Sayaka Shoji plays Prokofiev: Violin Concerto No. 2 in G minor, Op. 63 (27:43 Min.)

- Sayaka Shoji with the Israel Philharmonic Orchestra - Sibelius Violin Concerto (42:39 Min.) 

Sayaka Shoji plays Prokofiev: Violin Concerto No. 1 in D major, Op. 19 (23:31 Min.)

Sayaka Shoji and Gianluca Cascioli play Beethoven: Violin Sonata No. 9 in A major, Op. 47 "Kreutzer" (36:15 Min.)

 

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

 

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