Meinung

…aber das stimmt ja so nicht ganz, wenn wir mal schonungslos ehrlich sein wollen, denn ich war nicht von Anfang an dabei – erst so ab der 14. dieser Nächte, glaube ich. Da die Hansestadt ihre Lange Nacht der Museen seit 2000 entsprechend durchnummeriert, fand also auf jeden Fall die 20. dieser Art statt.

 

(Und wenn Corona sich nicht eingemischt und Kulturhungrige weggescheucht hätte, wäre es sogar die 23. gewesen.)

Nach drei Jahren Darben lautet das Motto der Museen: „Wir bleiben wach!“ Eigentlich hätten sie ja auch behaupten können: „Wir sind die ganze Zeit wach geblieben!“

 

Weil unsere Karten nicht so ganz punktgenau in der Chefredaktion von KulturPort gelandet sind, müssen Boss Claus Friede und ich uns vor dem ersten Museum meiner Wahl treffen zwecks Weitergabe. Das ist ja auch erfreulich, denn wir haben uns eine Weile nicht gesehen und können, in der Sonne auf den Stufen zum Eingang, die Erlebnisse der letzten Monate austauschen.

 

Die Stufen gehören zum imponierenden Gebäude des ehemaligen Völkerkundemuseums, das seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr so heißen möchte; das mit dem Begriff Völkerkunde ist so eine Sache. Nun trägt es den markigen Namen MARKK, das steht für ‚Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt‘, mit der berechtigten Begründung, der alte Name könne gerade bei jungen Mitgliedern unserer Gesellschaft negative Emotionen hervorrufen.

Ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen durch diese Hallen hinter meiner Schulklasse herdackelte und mir etwas anhörte über ‚Eskimos‘ und ‚Lappen‘ in den kalten Ländern. Davon haben wir uns in der Tat weit entfernt. Kalte Länder schmelzen in beängstigender Geschwindigkeit, im Gegensatz dazu wächst der Respekt vor den Leuten, die dort wohnen. Dazu gehört dann auch die Überlegung, wie man sie bezeichnen darf, ohne respektlos zu werden.

 

Um beim Thema zu bleiben, möchte ich meinen Abend mit einem Bericht über Hamburg und den Kolonialismus beginnen. Zwar wurde mir verlockend geschildert, wenn ich stattdessen das Event eine Stunde später mitmachen würde, eine Führung über die Themen Wasser und Klima, dann dürfte ich mich als Fisch, Krabbe, Qualle oder Hai verkleiden, Kostüme würden vom Museum zur Verfügung gestellt. Das klingt natürlich ungeheuer reizvoll – aber es würde bedauerlicherweise zeitlich mit meinen weiteren Plänen kollidieren. Ich rate also nur Claus Friede lebhaft zu, sich in ein Kostüm á la Frutti di Mare zu werfen (was er ablehnt: Es ist wohl auch nicht seine Art von Humor.) Vernünftig finde ich auf jeden Fall, dass die Wasserwesen-Veranstaltung so früh am Abend beginnt, denn da können auch noch die kleineren Kulturjünger der Stadt richtig Spaß haben.

 

Dann beginnt der Vortrag über die Ausstellung ‚Hey Hamburg, kennst Du Duala Manga Bell?‘, der übrigens erklärtermaßen für das jüngere Publikum konzipiert wurde. Insofern ist es erfreulich, tatsächlich bemerkenswert viele sehr junge Zuhörer dabei zu erleben. 

Eine zierliche, sehr schöne Dame erläutert mit klarer, verständlicher Stimme (ach, wenn sich Vortragende doch häufiger daranhalten würden!) die Geschichte des Königs Rudolf Duala Manga Bell aus Kamerun, 1873 in einer tonangebenden Familie an der westafrikanischen Küste geboren. 

 

LNdM 2023 01 Vortrag

Vortrag zu Dula Manga Bell. Fotos: Dagmar Schneider

 

Als er elf Jahre alt war, wurde Kamerun zur deutschen Kolonie – zunächst von den Afrikanern noch nicht als Unglück betrachtet. Um ein bisschen deutsche Ordnung in ihre neuen Untertanen zu bringen, beförderten die Kolonialherren Manga Bell zum ‚Oberhäuptling‘, obwohl die Bells in ihrem eigenen Verständnis bereits Könige ihres Volkes waren. 

Der kleine Rudolf lernte in seiner Heimat zunächst in der deutschen Regierungsschule das ABC, bevor er ab 1891 fünf Jahre bei einer Pflegefamilie im Städtchen Aalen in Baden-Württemberg verbrachte und das Gymnasium besuchte. Er lernte ausgezeichnet Deutsch, er lernte viel über deutsches Denken und Handeln. Das war vielleicht einerseits so gewollt und es machte ihn, andererseits, später ‚gefährlich‘. Auch als Erwachsener besuchte Manga Bell unser Land und verschaffte sich Kenntnisse über die Struktur der deutschen Kolonialverwaltung. Inzwischen wusste er nicht nur viel, sondern entschieden zu viel. Ihm fiel auf, dass sein Volk in einer Weise übervorteilt und herumgeschubst wurde, die keinem Gesetz entsprach.

Rudolf und einige mutige Mitstreiter wehrten sich. Sie schrieben einen Protestbrief an den deutschen Reichstag, in dem sie sich darüber beklagten, dass in ihrem Land munter enteignet und Häuser ohne Genehmigung abgerissen wurden; dass ihr Volk unter unbezahlter Zwangsarbeit litt, dass willkürliche Verhaftungen zunahmen und Volksoberhäupter mit der Peitsche verprügelt wurden. 

(Eine dieser Peitschen hängt hier im Museum an der Wand.) Der Brief schloss artig: ‚Mit allerunterthänigstem Gruß an Seine Majestät Kaiser Wilhelm von Deutschland und Kamerun.‘ Vermutlich empfanden die Empfänger dieses Schreiben als drollig. Sie gingen jedenfalls auf keine der Anklagen ein, denn sie hegten andere Ansichten über die sogenannte ‚Eingeborenenfrage‘.

Rudolf Manga Bell, der sich sein Leben lang friedlich verhielt und keine Art von Gegenwehr plante außer der mit Worten, wurde 1914 wegen ‚Hochverrats‘ zum Tod durch den Strang verurteilt – in einem überaus hastigen Prozess ohne faire Verhandlung und praktisch mit sofortigem Vollzug. Nach seinem Tod ließ man ihn unter Missachtung der Menschenwürde ‚zur Abschreckung anderer aufmüpfiger Eingeborenen‘ drei Tage lang hängen. Es ist leicht vorstellbar, wie die damaligen Machthaber mit bestem Gewissen in der Überzeugung ihrer moralischen Überlegenheit handelten. Bewusst böse ist selten jemand; er muss es nur schaffen, sich im Recht zu fühlen, dann darf er auch ‚durchgreifen‘.

 

Das alles schildert die Vortragende im MARKK schlicht und sachlich, ohne im großen Moraltopf zu rühren. Das wäre auch überflüssig, denn in den Zuhörern entstehen ganz von selbst Ekel und Entrüstung. Eine sehr gute und wichtige Ausstellung, die auch dazu bewegt, alleine weiterzuforschen. 

 

Meine drei Ziele dieses Abends sind recht unterschiedlich und ich bin dankbar für die milde Abendluft und einen etwas längeren Gang durch die City, um mich von dem eben Erlebten zu erholen. In manchen dieser Langen Museumsnächte bin ich durchaus, vor allem, wenn sie noch früher im Jahr siedelten, vom Klappern meiner Zähne begleitet wie von leisen Kastagnetten durch die Kultur gewandertt. Heute Abend haben wir noch um die 19°, die erste warme Nacht des Jahres. Das haben die Museen raffiniert eingefädelt.

Meine zweite Etappe befindet sich fast im Herzen der Stadt: das Gängeviertel!

Ich muss zugeben, dass ich bisher ziemlich wenig darüber wusste. Das ist übrigens das Schöne an diesen Kulturnächten: Man lernt unweigerlich dazu. 

Ja – über die Vergangenheit des Gängeviertels habe ich eine Menge gewusst, sogar schon darüber geschrieben, da ich eigentlich in der Geschichte meistens besser zuhause bin als in der Gegenwart. Entstanden sind die bienenwabenartigen Gebilde im Lauf der Zeit seit dem 16. Jahrhundert über weite Teile der Hamburger Alt- und Neustadt, vor allem Fachwerkhäuser, die, eng beieinanderstehend, schmalhüftig und nach oben breiter werdend, wenig Licht und Luft ließen. Straßen hatten dazwischen keinen Platz, nur schmale Twieten und eben Gänge, manchmal sogar freischwebend in einiger Höhe. 

 

Die hygienischen Zustände dieser billigen Arbeiterwohnungen sahen skandalös aus. Wasser wurde vom Wasserträger gekauft (ja, unser Hummel, von den frechen Kindern geärgert, war so einer!) oder für den täglichen Bedarf, zum Trinken und Waschen, aus dem Fleet geschöpft. Ungünstig, weil die Fleete auch als Behelfskanalisation dienten. Das war wie aus der Toilette trinken. 

 

Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die große Cholera-Epidemie in Hamburg tobte, schrieb der Bakteriologe Robert Koch mit gesträubtem Bart an seinen Kaiser: „Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat, am Hafen, an der Steinstraße, an der Spitalerstraße oder an der Niedernstraße. Ich vergesse, daß ich mich in Europa befinde!“

Nach der Cholera wurde in Hamburg aufgeräumt – und abgerissen. Die Bewohner konnten teilweise gucken, wo sie blieben. Dort, wo die alten Gebäude sich am schlimmsten zusammengeballt hatten, gibt es jetzt die breite Ost-West-Straße. Winzige Partikel sind stehengeblieben, direkt beim Michel etwa die Krameramststuben – und eben dieses kleine Quartier zwischen Valentinskamp, Caffamacherreihe und Speckstraße, das aktuelle ‚Gängeviertel‘, das ich mir heute Abend anschauen will und über das ich einstweilen wenig bis gar nichts weiß.

Aber jetzt!

 

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Gängeviertel. Fotos: Dagmar Schneider

 

„Kommt in die Gänge!“ ruft das vor-gänge museum für alternative Stadt. Ich steige also erwartungsvoll durch den Eingang im Valentinskamp – und stehe sofort in einer anderen, einer tatsächlich alternativen Welt. Auf den ersten Blick ist sie vor allem eins: bunt. Es scheint keinen Zentimeter von oben bis unten zu geben, der nicht bemalt, beklebt, besprüht oder beschriftet ist. Hinter Fensterscheiben strecken sich Schaufensterpuppenbeine, überall hängen große Weihnachtskugeln.

Vermutlich schätzen die die Leute hier ja auch ‚innere Werte‘ aber, bei Gott, sie haben den Mut zur Optik! Diese Gebäude vermitteln den Eindruck, als ob sie von ihren Bewohnern mit einer fast gewaltsamen Zärtlichkeit geliebt werden. Wenn man die Geschichte dahinter weiß, ist das gar nicht so merkwürdig.

Julia, mit ziemlich viel Pink im Haar und großen, leuchtenden Augen, steht im Hof und erzählt. Obwohl sie behauptet, der Stefan nebenan weiß es eigentlich viel besser. Um den bäumen sich die Zuschauer mit gespitzten Ohren und es sieht nicht so aus, als ob er bald aufhört.

 

Da haben wir ein kleines Dilemma, mit dem ich bei den langen Nächten vergangener Jahre schon oft konfrontiert worden bin: „Wir hatten nicht erwartet, dass soooo viel Leute kommen!“

Nun sind wir aber alle da und deshalb bitten wir Julia, doch ruhig mal loszulegen. Was sie dann auch tut, und sie macht es ganz großartig. Wir erfahren, wie diese letzten Überbleibsel des ehemaligen Arbeiterviertels Anfang dieses Jahrhunderts auch noch vernichtet werden sollten. Die eigentlich doch denkmalschutzwürdigen Häuser, neben überragenden Büro- und Wohntürmen aus Stahl und Glas, verfielen, weil sich niemand darum kümmerte. Sie wurden keineswegs saniert, denn daraus konnte kein Geschäft entstehen. Hamburg ist eine Kaufmannsstadt. Die naheliegende Idee der Stadtplaner lautete: Abreißen!

 

Also verkaufte die Finanzbehörde das alte Zeug an einen holländischen Investor, und alle verbliebenen Mieter konnten, wie gehabt, sehen, wo sie blieben. Im Sommer 2009 sollte mit den Abrissarbeiten begonnen werden.

Doch genau in diesem beinah letzten Moment kamen die Retter! Genauer gesagt am 22. August 2009. Da fluteten ungefähr 200 Künstler das restliche kleine Gängeviertel und verlangten Raum für Kreative und den Erhalt der historischen Gebäude. Sie hatten offenbar gute Argumente – sie waren sehr überzeugend – sie trafen irgendwie den richtigen Nerv, denn sie fanden überall lebhaften Zuspruch und Unterstützung. 

Ich benutze die Wendung: betont sehr ungern, weil sie von ungeübten Journalisten fortgesetzt da benutzt wird, wo niemand betont. In diesem Fall jedoch muss gesagt werden, dass Julia betont, und zwar sehr energisch immer wieder, dass die Häuser nicht besetzt wurden – also das nicht! Sondern nur kulturell besetzt. Das ist schließlich etwas anderes. Jedenfalls wurde dadurch der Abriss, wie in einem Film von Roland Emmerich, im letzten Moment verhindert und das Happy End begann. Der Holländer bekam seine nicht ganz 3 Millionen Euro zurück. Die Bagger und die Abrissbirne blieben im Stall. 

 

Im Dezember 2009 erklärte der Hamburger Senat, es gehe darum, „eine Projektkonzeption mit breiterem öffentlichen Konsens“ zu ermöglichen. Im Frühjahr darauf erhielt die Stadt von den neuen Einwohnern der Gänge ein Nutzungs- und Sanierungskonzept. ‚Für mehr Kunst, Kultur und Soziales mitten in Hamburg, für ein selbstverwaltetes und offenes Gängeviertel.‘

Natürlich, sagt Julia, liegt auch hier das Problem, wie so oft, bei der Finanzierung. Denn selbst, wenn die Stadt inzwischen eine gewisse Sympathie für die Mütter und Väter der Gängeviertel-Häuser empfindet, hat sie bestimmt keine Lust, hier unbegrenzt und ewig auf das Ergebnis zu warten wie bei der Elbphilharmonie.

 

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Beklebter Mülleimer, Julia, Hof im Gängeviertel. Foto: Dagmar Schneider

 

Aber man kommt voran. Die sanierten Wohnungen werden überwiegend von Künstlerinnen bewohnt, es gibt haufenweise Kunst jeder Sorte, Ausstellungen, Lesungen, Veranstaltungen, es gibt ein kleines (natürlich veganes) Restaurant und vieles mehr. 

Noch ist viel zu tun. Julia zeigt auf das hohe Gebäude gegenüber und meint, dies sei das ‚Kaputthaus‘ – weil, wie wir alle sehen können, sich hier und da Risse zeigen. Es ist möglicherweise einsturzgefährdet und muss dringend verarztet werden. Wir blicken respektvoll nach oben und ziehen alle ein bisschen die Köpfe ein. Es wird doch nicht gerade heute Abend …?

 

Mich interessiert, wie diese Wohnungen ausgestattet sind. Ich erinnere mich an ein herzzerreißendes Foto vom ehemaligen Gängeviertel, als es noch Elendsquartier war: Da sitzen zwei Lütte auf dem Plumpsklo im Hof (dem einzigen für sämtliche Einwohner) und ein kleiner Fratz steht wartend mit dem Töpfchen in der Hand daneben. Aber inzwischen, erfahre ich erleichtert, hat jede Wohnung nicht nur fließendes Wasser, sondern ein eigenes kleines Bad – mit Toilette. 

Gemeinsam mit anderen Besuchern wandere ich auf dem Bezirk herum, wo jetzt gedämpft ein Jazzkonzert zu hören ist. Ich traue mich auch in eins der Gebäude, darf, weil ich die Presse bin, kurz eine Ausstellung anschauen und fotografiere hier durch ein Fenster eine Hofansicht, die meiner Vorstellung der Klassischen Gängeviertel-Häuser sehr nahe kommt.

In der Tat, diese Vereinigung wirkt inspirierend und sehr sympathisch. Ich bin sicher, dass ich wiederkommen und Veranstaltungen wahrnehmen werde! Für ein Workshop hab ich mich schon angemeldet.

 

Nun also zu meinem dritten Museum, dem der Natur, das in der Bundesstraße liegt. Inzwischen ist der Abend zur Nacht geworden. Vor dem Museum stehen Menschenschlangen. Auch etwas, das mir im Lauf der verschiedenen Langen Nächte immer wieder auffiel: Je später es wird, desto mehr Andrang ist zu verzeichnen. Ob mancher Bürger sich erst nach Einbruch der Dunkelheit spontan entscheidet, seine kulturelle Bildung aufzuforsten? Vielleicht stärken sich die Wissensdurstigen auch gern zunächst durch ein ausführliches Abendessen?

 

Ich bin von der Presse – am Busen blinkt mir ein Kärtchen mit offizieller Note – und darf vordrängeln. Doch trotz allem komme ich zu spät: Der Vortrag über Würmer und Schmarotzer ist vollbelegt. Keine Schmarotzer mehr für mich?! Wahrscheinlich sehe ich derart betrübt aus, dass die Dame hinter dem Tresen Mitleid bekommt. Na gut, ich soll mich nachher halt dazustellen und glaubhaft machen, dass ich über die kleinen Racker schreiben muss.

Bis dahin habe ich noch fast eine halbe Stunde, in der ich mit größtem Vergnügen die verschiedenen Präparate im Erdgeschoss des Museums anschaue. Da ist wirklich alles vorhanden, was auf unserem Planeten unter ‚Tier‘ läuft, von zwei Vogelfüßen bis zu acht Insektenbeinen – diejenigen nicht zu vergessen, die auf Flossen im Wasser unterwegs sind. Es gibt riesige Exemplare wie den aufrecht stehenden Grizzly-Bären und seinen Kollegen, den Zodiak. Da es sich um das Fell echter Bären handelt, muss die Größe stimmen – aber das ist XXXXXXXXXXX-L! Mir fällt dazu ein, dass Menschen, die so einem Mordsungeheuer in der freien Wildbahn begegnen, geraten wird, ruhig und freundlich lächelnd stehen zu bleiben und dann langsam und wie nebenbei rückwärts zu verschwinden … Ich glaube, zumindest das Lächeln würde bei mir etwas blass ausfallen.

 

In einer Ecke steht bei den fünf gefährdeten Tierarten auch ein schöner Löwe, seit einigen Jahren eins meiner Lieblingstiere. 

 

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Zoologisches Museum. Fotos: Dagmar Schneider

 

Außerdem so viele Insekten mit so vielen verschiedenen Krabbelfüßen, dass mich nervöser Juckreiz überkommt. 

 

Ich betrachte fasziniert die Geschöpfe der tiefsten Stockwerke im Ozean, Laternenfische oder Anglerfische (solche, die selbst angeln statt geangelt zu werden, unter Zuhilfenahme eines heimtückischen Lämpchens am Faden über dem Maul). Einer hat ein Profil wie das Mädchen aus meiner Klasse, das ich nie richtig verprügelt hab, obwohl es mir immer auf die Haare spuckte – da fragt ein junger Mann hinter mir seine Freundin: „Warum, bitte, sind die derart grottenhässlich? Was hat die Natur sich dabei gedacht?“ 

Sie meint, vielleicht käme es in der Tiefe nicht so auf gutes Aussehen an. 

Ich befrage inzwischen – welch Segnung der Gegenwart! – Mr. Google auf meinem Handy und weiß bald mehr: Diese, sagen wir, etwas weniger attraktiven Meeresgeschöpfe sind Weibchen. Die dazugehörigen Männchen messen wenige Zentimeter an Körpergröße und verschmelzen so vollständig mit ihrer Gattin, dass sie eine Art Gewebeteil von ihr werden und nie wieder weg können. Sie müssen vor Ort bleiben, Haut und Blutkreislauf wachsen zusammen und die Männchen sterben, wenn die Weibchen es tun. Etwas Romantischeres habe ich selten gehört. Wer braucht da Schönheit?

 

Doch wie in jeder dieser Kulturnächte fangen auch jetzt meine Füße wieder an, sich zu beklagen. Was ich brauche, ist der Vortrag über Würmer und Schmarotzer, in der Hoffnung, dabei sitzen zu können. Leider ist der Eingang zu den Vorträgen noch geschlossen. Ich frage eine sehr liebenswürdige, nur Englisch sprechende Dame an einem Tisch daneben, ob sie mir sagen kann, wo ich etwas zu Trinken bekomme. Das kann sie zwar – sie weiß allerdings nicht, ob dort wirklich geöffnet ist oder wie schnell ich wieder zurück sein kann. 

Ich hinke traurig zu einer weiteren Runde um die Tierwelt.

Da sehe ich einen Tisch, an dem eine Frau sitzt und nachdenklich in die Halle blickt. Um sie herum sind mehrere – leere! – Hocker gruppiert. Ich sinke auf einen und erkundige mich bei der Dame, ob etwas dagegen einzuwenden sei, wenn ich hier kurz sitze.  Sie stellt mir eine Gegenfrage: „Wollen Sie nur sitzen oder wollen Sie auch falten?“

Ich antworte überrascht, dass mich das Bedürfnis zum Falten bisher nicht gequält hat. Jetzt sehe ich erst, dass der Tisch mit stumpfen bunten Kinderscheren bedeckt ist sowie mit weißen Zetteln, mit einer Art Schnittmuster bedruckt. Das Modell eines Marienkäferchens sitzt dazwischen. Nach und nach begreife ich, was das darstellt. 

 

Wenn ein Marienkäferchen normalerweise wie ein VW angekrabbelt kommt, so kann es bei Bedarf die äußeren, harten, rotschwarzgepunkteten Flügel nach oben abheben – denn die dienen nicht zum Fliegen, sondern nur als Deckhaube – und eine Art durchsichtiges Gewebe entfalten, um damit abzuflattern. Ist es gelandet, dann knüllt es seine Fliegeflügel nicht achtlos wieder zusammen, um sie irgendwie unter die Haube zu stopfen wie eine schlampige Hausfrau die Laken in den Schrank. Vielmehr wird, so ähnlich wie bei Origami, jedes Flügelpaar genau am vorgesehenen Falz zusammengelegt, glatt und ordentlich für den nächsten Flug. 

Das Prinzip der Faltung können wissbegierigen Kindern an diesem Tisch lernen. Und als die Museumsangestellte mich fragt, ob ich bitte kurz ein wenig aufpassen kann, während sie frische Luft schnappt (die bunten Scheren hätten die merkwürdige Angewohnheit, sofort zu verschwinden, wenn man sie nicht beaufsichtigt) übernehme ich gern den Job. Hauptsache, ich kann sitzen.

 

Bald darauf kommt eine Familie mit zwei kleinen Mädchen, denen ich ganz geläufig erklären kann, wie das mit den Flügeln der Marienkäfer zusammenhängt. Eins der Kinder beginnt schon, das Flügelschnittmuster sorgfältig auszuschneiden.

Da sehe ich, dass sich der Trupp zu den Schmarotzern gruppiert! Weshalb ich das Scheren-beaufsichtigen an die Familie weitergebe und dorthin sprinte. 

Hier wird zunächst das Publikum für ‚Ahhh!‘-Schmetterlinge und ‚Igitt‘-Würmer‘ auseinandersortiert. 

 

Der Schmarotzer-Vortragende, Professor Schmidt-Rhaesa, hat ein Problem damit, dass er eine Person zu viel vor sich sieht, gemessen an den Eintrittskarten in seiner Hand. Ich gebe zu, der blinde Passagier zu sein und biete an, mich sehr schlank zu machen. Darauf geht er freundlich ein. Und im letzten Moment, bevor wir abziehen, kommt die liebenswürdige, nur Englisch sprechende Dame angehuscht und steckt mir – sie hat meinen Durst nicht vergessen! – eine Mineralwasserflasche zu.

Wir begeben uns zwei Stockwerke höher in einen Raum, der viele, viele Regale enthält und auf diesen Regalen viele, viele Glasbehälter. In den Behältern befinden sich – in Alkohol konserviert – die Würmer und so weiter. Manchmal gemeinsam und manchmal in Schmarotzer-Einzelhaft.

 

LNdM 2023 04 Schmarotzer

Schmarotzerregale. Foto: Dagmar Schneider

 

Der Professor hat, wie ein Fernsehkoch, mal was vorbereitet: Um zu verdeutlichen, wie Plattwürmer und Rundwürmer sich grob unterscheiden, liegen in großen Gläsern (ganz ohne Alkohol) je eine echte Portion Tagliatelle und eine echte Portion Makkaroni, sehr einprägsam. 

Demnach gehört das uns gleich danach vorgestellte blasse Gewurschtel, der echte Bandwurm, deutlich zur Familie der Plattwürmer. Das Glas, in dem er sich befindet, wird herumgereicht – ein feingeistig aussehender Herr verzichtet gern darauf, es anzufassen und lässt es lieber weitergeben.

 

LNdM 2023 05 Plattwürmer

Foto: Dagmar Schneider

 

Professor Schmidt-Rhaesa erzählt ausgesprochen amüsant über die Methoden, die Präparate in Alkohol aufzubewahren. Im Krieg beispielsweise sei es vorgekommen, dass geschäftstüchtige Leute ein wenig von dem Inhalt zum Genuss verkauft haben. Vermutlich, ohne zu erwähnen, wer eben noch darin schwamm.

Übrigens würde es die Sammlung nicht mehr geben ohne den Alkohol. Denn nur, weil die vielen Gläser im Fall eines Brandes als Beschleuniger gewirkt hätten, haben ahnungsvolle Mitarbeiter der Universität im Jahr 1943, wenige Tage vor dem Feuersturm britischer Bomber, viele, viele Glasbehälter in stillgelegten U-Bahn-Schächten in Sicherheit gebracht. Meine Hoffnung, bei diesem Vortrag sitzen zu können, hat sich nicht erfüllt. Ich beobachte, dass die Zuhörerschaft um den Professor unmerklich schmilzt, weil mehrere Menschen versuchen, sich im hinteren Teil des Raums an Regalen festzuhalten oder mit einer Pobacke auf einer Kiste zu sitzen.

 

Die Lange Nacht der Museen, ein Hochgenuss der Kultur und Bildung, wäre noch genussreicher, wenn es, vor allem auf Mitternacht zu, mehr Möglichkeiten gäbe, sich hinzusetzen…

 

Fotografische Eindrücke der Langen Nacht der Museum Hamburg 2023

 

LNdM 2023 07 Polizeimuseum

Am Polizeimuseum. Ein 12-Jähriger darf ohne Helm auf dem Polizeimotorrad sitzen. Rechts: Tatortreiniger Dirk Plähn. Fotos: © Cornelia Schiller

 

LNdM 2023 09 Polizeimuseum

Polizeimuseum. Fingerabdruckkunde. Foto: © Cornelia Schiller

LNdM 2023 08 UKE

Medizinisches Museum UKE, dunkler Keller zum Gruseln; zur Leichenaufbewahrung, da lang.... Foto: © Cornelia Schiller

LNdM 2023 10 UKE

Wenn die Füße schmerzen, weil der Bus-Shuttle nicht so optimal ist... Foto: © Cornelia Schiller

LNdM 2023 11 Kunsthalle

"Hier ist die Gegenwart", Hamburger Kunsthalle. Foto: © Cornelia Schiller

LNdM 2023 12 Kunsthaus

Das Kunsthaus Hamburg in bunt. Party mit DJ. Foto: © Cornelia Schiller

LNdM 2023 13 Kunsthaus

Das Kunsthaus Hamburg in rosa. Foto: © Cornelia Schiller

LNdM 2023 14 Haus der Photographie

Haus der Photographie: Jeff Turek führt eine Gruppe von Besuchern. Rechts: Kommunikationsdesignstudenten Tatjana und Pascal. Fotos: © Cornelia Schiller

LNdM 2023 15 Deichtorhallen

 Zurück in die Nacht – an den Deichtorhallen. Foto: © Cornelia Schiller


Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

 

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