Meinung

Die Story ist schnell erzählt. Eine ungefähr fünfundzwanzigjährige Ukrainerin, die, vor dem Einmarsch der Russen, der finanziellen Not und dem damit einhergehenden Elend in ihrem Vaterland dadurch zu entgehen hofft, dass sie als Pflegekraft eine Stelle bei einem dementen pensionierten Verleger von Landkarten in der Nähe Hamburgs an- und auf sich nimmt.

 

Dieser studierten Germanistin, die ihren fünfjährigen Sohn bei ihrer Großmutter zurückgelassen hat, begegnet, was für Menschen, die aus Not in Notlagen geraten, das Übliche ist: Das Ohnmachtsgefühl, von aller Welt verlassen zu sein, ist überwältigend, und das Scheitern ist vorprogrammiert.

 

Oder, Klischee, alles wendet sich zum Guten. Denkste und weder noch. Vielmehr wendet sich das Blatt dahin (ins Hilflos-Traurige), dorthin (ins Grotesk-Slapstickartig-Heitere) und schließlich ins Befreiende; und zwar für alle in dieses ungewollt-zwanghafte Beisammensein Involvierten.

 

Der Anpassungsdruck lastet gleich dreifach auf der studierten Pflegerin. Und zwar in Gestalt eben jenes dementen ehemaligen Landkartenverlegers Curt Wieland – gespielt von Günther Maria Halmer –, seiner rigid-bösartigen und frühzeitig verhärmten Tochter Almut – gespielt von Anna Stieblich – und schließlich deren dandyhaft-egoistisch-zynisch pervertierten und nur auf den ersten Blick einfühlsam-mitfühlenden Bruder Philipp – gespielt von Fabian Hinrichs –.

Im Zentrum steht die junge Ukrainerin Marija – gespielt von der aus Russland stammenden Emilia Schüle –, auch wenn sie von den in diese heikle Konstellation Eingebundenen in je unterschiedlicher Weise als abhängige Variable traktiert wird.

 

Zwar, jetzt tatsächlich ein Klischee, das Verhältnis zu dem dementen und grimmig-grollenden Curt glättet sich, und zwar deswegen, weil dieser sie für seine längst verstorbene Frau Marianne hält, an deren Tod er – der ehemalige Haustyrann – mehr als bloß eine Mitschuld trägt. In unbewusster Hilflosigkeit ergreift er die Chance, begangenes Unrecht abzubüßen; was Marija natürlich zugutekommt.

 

Sodass sie bald schon als die auch klamottentechnisch jung/alte Marianne an der Seite des zunehmend zum Heitersein tendierenden Griesgrams ein Leben in frohgemuter und herzinniger Abhängigkeit zubringen kann. – Wäre da nicht der dandyhaft-verwahrloste Sohn und die streng-giftige Tochter, die aber bald schon durch eine verkehrstechnisch bedingt Abgängigkeit für einen geraumen Zeitraum nicht weiter ins Gewicht fällt.

 

Will man begreifen, was diesen Film zu einem emotional tief erschütternden Ereignis macht, bedarf es bloß eines Wortes, das in dem Film allerdings unzählige Male gesprochen wird. Eines Wortes? Nein, eines Namens: Curt. Wie Emilia Schüle diesen Namen in leicht gebrochenem (Russland-) Deutsch ausspricht – sie hat sich ja, wie nachzulesen ist, in jüngerer Vergangenheit ihrer Muttersprache zur Gänze bemächtigt, und immer wieder spricht sie auch, situationsbedingt, in diesem Idiom – ist herzanrührend und darin eines auf keinen Fall: kitschgefährdet. Denn dieses Curt wird, je nach Situation, anders betont: auffordernd, hilflos bittend, liebevoll-streichelnd, panisch-flehend, ratlos-hilfesuchend… Ein ganzer Gefühlskosmos tut sich in diesem einen Namen auf oder wird vielmehr darin erspürbar, wie Emilia Schüle diesen Namen ihres Patienten, der ihr Mann, Vater, Freund, Weggefährte ist und wird, ganz fein nuanciert und also hochsensibel intoniert.

 

Es war oben von Befreiung die Rede. Indem Marija, diverse Male auf Los zurückgeworfen, sich immer wieder aufs Neue und ganz zum Schluss definitiv selbst befreit, so sorgt ihre Präsenz, die zunächst auf allen Seiten auf Ablehnung stößt, auch wenn es im Falle des Sohnes Philipp anders zu sein scheint, dafür, dass auch die anderen sich ihrer schwer lastenden Vergangenheit – final?! – entledigen können. Und spätestens hier ist, jedenfalls partiell, Slapstick Trumpf.

 

die vergesslichkeit der eichhoernchenDieser Film ist ein cineastisches Ereignis deswegen, weil die vier Schauspieler in ihrem Agieren, Sprechen und auch vielsagenden Schweigen einen emotional vielschichtigen Teppich zu weben verstehen, dessen Vorder- und Hintergründigkeit verhindert, dass diese Zwangszusammenkunft je unterschiedlich der Hilfe Bedürftiger zu einer faden, klamaukhaften Komödie üblichen Zuschnitts, einem alle und alles hilflos zurücklassenden Trauerspiel oder einer Problemlösungskampagne mit einer moralisch-faden Message verkommt. Nein, auf Grund der fein differenzierenden Darstellungskunst Emilia Schüles, Günther Maria Halmers, Anna Stieblichs und Fabian Hinrichs‘ ist ein Film entstanden, der tief in die diversen Abgründe und nicht zuletzt auch lichten Höhen des Humanus einen von echter Sympathie getragenen und entsprechend nahegehenden Blick werfen lässt.

 

Zum Beschluss noch dies: Mich würde es nicht wundern, wenn der unter der Regie von Nadine Heinze und Marc Dietschreit entstandene Film sein literarisches Vorbild letztlich an Martin Suters Romanerstling Small World hat oder haben sollte. Das Thema Demenz dort wie hier. Subtil differenziert und auf gar keinen Fall einer vorab feststehenden, tendenziös-aufdringlichen Programmthese subordiniert.

 

Apropos, der seltsam klingende Filmtitel – ein Eichhörnchen agiert tatsächlich in einer klitzekleinen Nebenrolle – transportiert natürlich doch eine Message. Meiner Meinung nach – die öffentlich gemachten Meinungen differieren in dieser Hinsicht – diese hier: Die Haselnüsse für den Winter versteckenden quirligen Nager vergessen, wie man hört, immer wieder mal den Ort der Verwahrung und laufen deswegen Gefahr, bei Schnee und Frost zu verhungern. Das wirklich Wichtige vergisst der Mensch nie und auf gar keinen Fall. Worin eine Gefahr und gleichermaßen eine Chance besteht: Daran zugrunde zu gehen oder eine Kehrtwende ins Rettende zu vollziehen, bevor es zu spät dafür ist. Die hilfsbedürftige, Hilfe spendende Marija ist der Mensch gewordene Katalysator für diesen Restart.


Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen

Tragikomödie

D 2021

Drehbuch und Regie: Nadine Heinze und Marc Dietschreit
Darsteller: Emilia Schüle, Günther Maria Halmer, Fabian Hinrichs, Anna Stieblich u.a.
Eine Produktion von Zieglerfilm Baden-Baden
in Koproduktion mit Ziegler Film, SWR, ARTE, EDITION TANJA
Filmwelt Verleihagentur

Weitere Informationen (Homepage Filmverleih)

 

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.



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