Meinung

Vom Ueberweg-Heinze-Oesterreich hat jeder Philosophiestudent bereits im ersten Semester etwas gehört. Dass Ueberweg aus rein ökonomischen Gründen dazu gezwungen war, die Idee des Verlegers Toeche zu verwirklichen, einen Grundriss der Geschichte der Philosophie zu schreiben, dürfte hingegen nicht ebenso bekannt sein.

Denn Friedrich Ueberweg (1826-1871) ist das akademische Fortkommen deswegen lange Zeit versperrt geblieben, weil er sich zwar einerseits um einen philosophischen Ausgleich zwischen Idealismus und Empirismus bemüht hatte, in diesem Vermittlungsbestreben andererseits jedoch stark von Friedrich Eduard Benekes Psychologie beeinflusst worden war und sich somit dem Verdacht ausgesetzt hatte, dem verpönten Materialismus jedenfalls nahegestanden und – aus bildungspolitischer Sicht – nicht hinzunehmende Konzessionen gemacht zu haben

Friedrich Ueberweg, der Sohn eines lutherischen Pfarrers, ist am 22. Januar 1826 in Leichlingen bei Solingen geboren worden. Er studierte zunächst in Göttingen und anschließend in Berlin. Hier hörte er u. a. bei Beneke und Trendelenburg philosophische Vorlesungen. Mit der Dissertation De elementis animae mundi Platonicae erwarb er 1850 in Halle/Saale den Doktorgrad. Er bestand bald darauf in Berlin das Oberlehrerexamen und sah sich nach einer Anstellung als Lehrer um. Ein halbes Jahr lang gab er an dem Blochmannschen Institut in Dresden Unterricht.

 

Nachdem er in Duisburg sein Probejahr absolviert hatte, erhielt er 1851 eine ordentliche Lehrerstelle am Gymnasium in Elberfeld. 1852 habilitierte er sich an der Universität Bonn als Privatdozent. Hier freundete er sich mit Friedrich Albert Lange, dem Verfasser der erstmals 1866 erschienenen Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart an, der zu diesem Zeitpunkt in Bonn gleichfalls Dozent der Philosophie war. Sein System der Logik (hier zitiert nach der fünften, verbesserten und von Jürgen Bona Meyer herausgegebenen Auflage von 1882) ist erstmals 1857 erschienen. 1862 erhielt Ueberweg eine außerordentliche Professur in Königsberg, aus der 1867 eine ordentliche Professur wurde. Hier pflegte er Kontakte zu dem ersten Biographen Hegels, Karl Rosenkranz und zu dem Arzt und bekennenden Sensualisten Heinrich Czolbe. Ueberweg ist am 9. Juni 1871 gestorben.

 

Friedrich Ueberweg System der Logik und Geschichte der logischen LehrenUeberweg ist einer derjenigen Philosophen des 19. Jahrhunderts, dessen philosophiehistorisches Wissen immens war. Darüber hinaus ist freilich sein Logik-Verständnis eines, das zwischen der Kantischen Position, gemäß der wissenschaftliche Einsichten lediglich „mittelst aprioristischer Formen von rein subjectivem Ursprung, die nur auf die im Bewusstsein des Subjects vorhandenen Erscheinungsobjecte Anwendung finden“ (VIII) erarbeitet werden können, und derjenigen Hegels, wonach das Apriori der Denkformen unmittelbare objektive Gültigkeit haben soll, die Mitte zu halten sucht. Ueberweg findet auf seine Weise den dritten Weg, und ist darin vor allem ein Nachfolger Schleiermachers und Adolf Trendelenburgs und ein Wegbereiter der Logikauffassung eines Christoph Sigwart und Heinrich Maier etwa. Ihnen allen geht es, cum grano salis, darum, „durch die Combination der Erfahrungsthatsachen nach logischen, durch die objective Ordnung der Dinge selbst mitbedingten Normen“ (ebd.; vgl. ebenso 467) der Erkenntnis eine objektive Gültigkeit zu sichern. Das Normelement allerdings war von Trendelenburg und Schleiermacher noch nicht in die Logik integriert worden. Die Vermengung der Logik mit der Ethik ist späteren Datums und setzte sich endgültig erst mit der moralphilosophischen Kehrtwende Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts durch.

 

Wie allerdings logische Normen durch eine als objektiv unterstellte Ordnung der Dinge mitbedingt sein sollen, entzieht sich entweder der intellektuellen Nachvollziehbarkeit, eben weil es nichts weiter als eine Subreption ist, oder erfüllt den Tatbestand einer nichts erklärenden Tautologie: Das von Normen geleitete Denken weiß etwas über die Dinge, dass sie nämlich, als normgerechte, objektiv geordnet sind, bevor es etwas über sie weiß ... Für die auf diesem voraussetzungsvollen Ansatz aufbauenden Logikautoren der Folgezeit jedenfalls war die Normierung des in die Pflicht genommenen (be-) urteilenden Denkens fortan eine nicht mehr in Frage zu stellende Selbstverständlichkeit, wenn sie, wie beispielsweise Sigwart, von der Logik als einer „Ethik des Denkens“ sprachen. Zum Nachteil der Objektivität des logischen Urteilens, wie sich denken lässt.

 

Obwohl es sich so verhält, und obwohl auch schon dieser Autor, gar nicht so viel anders als Wilhelm Wundt, die Logik für ein Regeln gebendes Methodenbewusstsein gehalten hat (cf. u. a. 13) – die Logik habe „für die Methoden des Denkens“, die bei den Forschungen der Spezialwissenschaften „zur Anwendung kommen, die allgemeingültigen Regeln festzustellen“ (76), wie es bei Wundt heißt –, wartet die Logik Ueberwegs dennoch mit Einsichten auf, die dem interessierten Leser hier in Form einer kleinen Auswahl mitgeteilt sein sollen. Und unter dem rein philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkt ist, wie bereits erwähnt, der Wissensfundus dieses Autors ohnehin beträchtlich. Auf den ersten knapp einhundert Seiten wird hinsichtlich des historischen Ursprungs der Logik ein Bogen von den ionischen Naturphilosophen, den Pythagoräern und Eleaten bis hin zu den neueren Logiken in- und außerhalb Deutschlands gespannt. Das alles ist auf jeden Fall der Kenntnisnahme wert.

 

Für einen Irrtum beispielsweise hält Ueberweg die auch heute noch weit verbreitete Ansicht, „dass zum Behuf der Erkenntniss eines ‚Dinges an sich‘ dieses selbst in unser Bewusstsein eingehen müsste. In uns“, so lautet seine beherzigenswerte Antwort auf diese einen Widerspruch absichtsvoll provozierende fragwürdige Position, „kann nicht das ‚Ding an sich‘, sofern dasselbe ein Aussending ist, wohl aber unser Wissen um dasselbe sein“ (96). Die Sache „ist ebenso wenig selbst in unserm Denken vorhanden, sondern nur das Vorstellungsbild, das wir von ihr entworfen haben“ (175). Dieses Wissen bietet dem Anthropomorphismus der Naturvölker Paroli, der sie davon abhält, „zu den abstracten Kategorien der wissenschaftlichen Physik“ (110) zu gelangen.

 

Mit anderen Worten: wissenschaftliche Verallgemeinerungen sind das A und O auf dem Wege der Erarbeitung gediegener Erkenntnisse; es ist geboten, in der Nachfolge des Aristoteles, überall das Allgemeine im Besonderen zu erkennen. Das Allgemeine allerdings ist lediglich ein begriffliches, auf gar keinen Fall aber ein reales Prius des Individuellen. Denn das Herabsteigen vom Allgemeinen zum Besonderen kann einerseits nur von dem denkenden Subjekt vollzogen werden, und andererseits gilt auch, dass in der objektiven Realität das Wesen nicht in irgend einem Sinne vor dem Individuellen existieren kann, so dass dieses erst aus jenem sich hervorbilden müsste. Irrig wäre es schließlich aber auch, wollte man dem Stagiriten unterstellen, er habe „das Reale zum Formalen“ verflüchtigt. Sein Ziel vielmehr ist es nach Ueberweg gewesen, „die Form aus ihrem Verhältniss zum Inhalt“ (318) zu begreifen. Bis „auf die Gegenwart“ jedenfalls, so heißt es im Anschluss an die oben zitierte Stelle, „wirkt dieser Anthropomorphismus nach, nicht nur in den tausendfachen Formen des Volksaberglaubens bis zu dem Wahn der Tischdämonen herab, sondern auch auf eine minder augenfällige, aber um so nachtheiligere Weise als Hemmniss der Entwickelung der Wissenschaften in einer Reihe ‚symbolisirender Mythen, welche unter alten Firmen als ernste Theorien auftreten’ (...), so in der Hypostasirung und Quasi-Personificirung der Seelenvermögen, der animalischen und vegetativen Lebenskraft, der Ideen und Kategorien etc. Auf der Befangenheit in dieser Anschauungsform beruht nicht nur die antike und noch Aristotelisch-scholastische Personificirung der Gestirne oder ihrer bewegenden Principien zu Göttern oder Engeln, sondern auch noch Keplers pythagoreisirende Theorie von der himmlischen Harmonie, die ihm den Weg zu Newton’s grossen Entdeckungen verschloss, indem sie ihn nicht die wirklichen Kräfte erkennen liess“ (ebd.; vgl. ebenso 434).

 

In diesen Kontext gehört im Übrigen auch die witzige Bemerkung, dass es selbstredend wahr sei, „dass der Geist nicht blau, dass er kein Tisch sei etc.“, was deswegen zu betonen nicht überflüssig ist, weil die „Modethorheit der Tischorakel“ (255) diese Banalität bis heute nicht verstanden zu haben scheint. Und auch die Selbstverständlichkeit sollte man sich hin und wieder ins Gedächtnis rufen, dass ein objektiver „Zusammenhang zwischen den Grössen und zwischen den Formen besteht ..., auch ohne dass das Subject ihn erkennt; auf ihm beruhen insbesondere die physikalischen Vorgänge, die unabhängig von dem erkennenden Subjecte stattfinden und die Möglichkeit der Existenz erkennender Subjecte bedingen“ (271).

 

Ziel der physikalischen Forschung aber sei es nicht bloß, „durch empirische Sammlung zu einer vollständigen Kenntniss der auffindbaren Species irgend einer Gattung“ zu gelangen, sondern „die möglichen Formen nach einem allgemeinen Princip zu deduciren“ (346). „Die sogenannten empirischen Wissenschaften“ nämlich „würden, wenn sie alle Gedanken, die über die unmittelbare Erfahrung hinausgehen, von sich abzuthun versuchen wollten, auf den wissenschaftlichen Charakter selbst Verzicht leisten; die Philosophie aber muss, will sie anders nicht in luftige Phantastik aufgehen, zum Behuf der regressiven Erkenntniss der Principien die sämmtlichen positiven Wissenschaften voraussetzen“ (484), was im Übrigen auch noch die Meinung Nicolai Hartmanns war.

 

Politisch relevant ist übrigens gerade auch heute wieder der folgende schlichte Syllogismus, den man – selbstredend folgenlos – den politisch Mächtigen und ihren (Manipulations-) Theoretikern ins Stammbuch schreiben sollte: „Was vom Willen unabhängig ist, kann nicht durch Strafgesetze erzwungen werden. Die theoretischen Ueberzeugungen sind vom Willen unabhängig. Folglich kann keine theoretische Ueberzeugung durch Strafgesetze erzwungen werden“ (371; vgl. ebenso 452). An diesem Widerspruch einer praktisch zu erzwingenden theoretischen Überzeugung versucht sich auch die Berufsgruppe der Pädagogen mit wechselndem Erfolg, ohne von diesem aberwitzigen Beginnen die Finger zu lassen. Und dass die Rechnung dann doch immer wieder aufgeht, liegt vor allem an der dort wie hier (angedrohten) Gewalt bei Zuwiderhandlung. Sie überzeugt normalerweise den Educandus, so dass Ausnahmen solche von der staatlicherseits vorgegebenen Regel bleiben.

 

Es hat ab und an durchaus etwas Erfreuliches, wenn Philosophen ihren Elfenbeinturm verlassen und konkret werden. Jedenfalls dann, wenn der interessierte Leser auf Einsichten stößt, die ein Schlaglicht auf Gewaltverhältnisse und ihre Nutznießer werfen. Allein schon deswegen und der sich an- und abschließenden Ausführungen wegen hat sich für mich die Lektüre des Systems der Logik von Friedrich Ueberweg gelohnt.

 

„Die treue Auffassung der gegnerischen Ansicht, das volle Sichhineinversetzen und gleichsam Hineinleben in den Gedankenkreis des Anderen, ist eine unerlässliche, aber nur zu selten erfüllte Bedingung der echten, wissenschaftlichen Polemik. Die Kraft zur Erfüllung dieser Aufforderung stammt nur aus der uninteressirten Liebe zur Wahrheit. Nichts ist bei schwierigen Problemen gewöhnlicher, als eine halbe und schiefe Auffassung des fremden Gedankens, Vermengung mit einem Theile der eigenen Ansicht, und Kampf gegen dieses Wahngebilde; die bestrittene Ansicht wird dann unter irgend eine abstracte Kategorie subsumirt, an welcher nach dem gemeinen Urtheil oder Vorurtheil irgend ein Tadel haftet (die Rede ist also von der böswilligen Denunziation, F.-P.H.), oder es wird wohl gar eine verketzernde Einleitung der verstümmelten Darlegung vorausgeschickt, um durch Trübung der reinen Empfänglichkeit dem Eindruck vorzubeugen, den der Gedanke selbst noch in dieser Form üben möchte; der Kampf wird auf ein fremdartiges Gebiet hinübergespielt, und in verdächtigender Consequenzmacherei die Polemik, die der gemeinsamen Erforschung der Wahrheit dienen sollte, zum Angriff auf die Persönlichkeit herabgewürdigt. Die Erfahrung aller Zeiten zeigt, dass nicht erst ein besonders stumpfes und beschränktes Denken und ein besonders schwacher (…) Wille in diese Verkehrtheiten fällt, sondern vielmehr nur eine seltene Kraft und Bildung des Denkens und der Gesinnung sich ganz davon frei zu halten vermag. Es ist dem Menschen nur zu natürlich, sich selbst, noch vielmehr aber die Gemeinschaft, welcher er angehört, von vorn herein im vollen Rechte zu glauben, mithin den Gegner als einen Feind der Wahrheit anzusehen, in dessen verwerfliche Ansichten sich tiefer hineinzudenken als eine unnöthige Mühe, wo nicht gar als ein Verrath an der Wahrheit und an der Treue gegen die eigene Gemeinschaft gilt, oder im günstigeren Falle als einen Kranken und Irrenden oder doch auf einem bereits ‚überwundenen‘ Standpunkte Zurückgebliebenen, gegen den, sofern er nur nicht halsstarrig auf seinem Sinne bestehen wolle, eine gewisse Humanität in der Form einer grossmüthigen Schonung und Nachsicht zu üben sei. Die Ueberwindung dieser Selbstbeschränktheit, das reine Eingehen in den Gedankenkreis des Anderen und in die Motive seiner Lehre – sehr verschieden von der mattherzigen Toleranz des Indifferentismus – setzt eine Höhe der intellectuellen und sittlichen Bildung voraus, welche weder dem Einzelnen, noch dem Menschengeschlechte von Natur eigen ist, sondern erst in langem und ernstem Entwickelungskampfe errungen wird. Und doch führt nur dieser Weg den Menschen zur Wahrheit“ (462 f.).


Friedrich Ueberweg: „System der Logik und Geschichte der logischen Lehren“

Antiquarisch zu erwerben

 

 

Abbildungsnachweis: Buchumschlag: Nobel Press

 

 

Lesen Sie weitere Texte von Frank-Peter Hansen unter der Kolumne und der Rubrik "Vergessen? Gelesen!" auf KulturPort.De.

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